Die zyprische Ringelnatter lebt. Dank der UN

Die Natter des Todes

Zwischen Blauhelmen und Erbsünde: Wie eine unscheinbare zyprische Schlange sich durch die Verwerfungen der menschlichen Gesellschaft schlängelt und ihr fast zum Opfer fällt.

Schlangen haben im christlichen Kulturkreis ja nicht unbedingt ein besonders gutes Image. In der Bibel ist die Rolle der Reptilien eher undankbar, und auch in weiten Teilen der Bevölkerung bringt man ihnen nur wenig Sympathie entgegen. Im Grunde unlogisch, eigentlich sollten die Leute lieber Äpfel erschlagen als Schlangen, denn die Früchte waren ja letztlich das Problem, die Schlange nur der Überbringer der Botschaft, aber so geht das ja immer.
Gottes Zorn hat aber eine Vertreterin ihrer Art ganz besonders hart getroffen. Sie wird kaum länger als einen Meter, ist ungiftig und schlängelt sich auf der Suche nach Fröschen durch die Ufervegetation von Teichen und kleinen Seen auf Zypern: die Zyprische Ringelnatter mit dem wissenschaftlichen Namen Natrix natrix cypriaca. Der genaue Status dieses eher unauffälligen Tieres ist bei Zoologen noch ungeklärt. Jüngste genetische Untersuchungen lassen vermuten, dass es sich gar um eine eigenständige Art handeln könnte, in jedem Fall aber ist sie etwas ganz Besonderes, Einmaliges, originär Zyprisches.
Doch Zypern zeigt sich undankbar ob seines reptilischen Juwels. Feuchtbiotope sind auf der trocken-heißen Mittelmeerinsel knapp, und die Menschen haben mit ihnen anderes vor, als sie als Lebensbereiche für Nattern zu erhalten. Trockenlegen, Bebauen, Kultivieren, das ganze Programm halt. Und an den wenigen Gewässern angeln sie gerne. Damit das auch Spaß macht, werden gute Angelfische in den Tümpeln und Teichen ausgesetzt. Die aber verdrängen die Leib- und Magenspeise der Schlangen, die Frösche, und damit die Nattern selbst.
Und dann war da auch noch die Sache mit Eva und der Schlange. Vor Ort gilt immer noch das Leitmotiv, dass nur eine tote Schlange eine gute Schlange ist, die Tiere, ganz gleich, wie harmlos, sind auf der Insel bis heute verhasst. Diese tief verwurzelte Idiotie ist allerdings leider keine zyprische Eigenheit. Wer das Ausmaß an Unwissen und Beklopptheit Schwarz auf Weiß sehen will, dem empfehle ich, bei »Google News« das Stichwort »Giftschlange« oder auch nur »Ringelnatter« zu abonnieren. Dann bekommt man regelmäßig so schöne Geschichten wie diese hier vom 15. Juli aus der Chemnitzer Morgenpost auf den Tisch: »Giftschlangen-Alarm: Polizei jagte Natter.« Es fängt an wie in einem klassischen Horrorfilm: »Sonniges Idyll gegen 17 Uhr in der Anlage Waldesruh: Kleingärtner gossen ihre Beete, während eine Familie zufrieden die Frösche in ihrem Teich beobachtete. Doch plötzlich machte es schnapp! – und ein Frosch zappelte im Maul einer großen, exotisch aussehenden Schlange!« Oh, oh, exotisch aussehend, groß. Mit großer Wahrscheinlichkeit eine Königskobra. Wir fürchten also das Schlimmste: »In Todesangst alarmierte der Gartenbesitzer Nachbarn und die Polizei: ›Kommen Sie schnell! Hier ist eine giftige Schlange!‹ Sofort rückten mehrere Beamte aus, forderten Verstärkung vom Falkensteiner Tierpark an.« Nachdem also offenbar eine Hundertschaft örtlicher Sicherheitskräfte an Ort und Stelle war, konnte der Tierpark-Chef dann Entwarnung geben: eine Ringelnatter. »Eine sehr große Ringelnatter«, wie der Polizeisprecher betont. Offenbar hatten die Beamten das Reptil erst einmal in Sicherheitsverwahrung genommen, denn: »Nach all der Aufregung durfte sie in die Freiheit kriechen.«
Wir halten also fest: Da taucht, mitten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet und mitten in einem typischen Biotop eine durchaus häufig zu nennende Schlangenart, eine heimische Ringelnatter, auf und macht, was Ringelnattern eben so machen, nämlich einen Frosch fangen, und die Menschen in der weiteren Umgebung geraten in Todesangst, rufen die Polizei, die wiederum Verstärkung anfordert, fangen das Tier unter Umständen, die wir lieber gar nicht kennen wollen, und anschließend muss ein Experte aus dem Zoo den Leuten sagen, dass sie, nun ja: eben einer Ringelnatter begegnet sind?
Ich will nichts mehr hören von Elitenförderung. Ich will auch nichts hören davon, dass die Schulen die Schüler stärker auf das Berufsleben vorbereiten sollen, aufs Studium, auf das Internet oder was immer. Ich will, dass jeder verdammte Schüler, der auch nur irgendeinen Abschluss haben will, in der Lage ist, eine läppische Ringelnatter zu erkennen. Das ist doch nicht zu viel verlangt! Ansonsten sollte man über den ganzen anderen Kram gar nicht erst nachdenken: Führerschein, Wahlrecht, Reisefreiheit – nix! Erst, wenn die Brut mindestens die 20 wichtigsten einheimischen Bäume sicher bestimmen kann, wenn sie weiß, dass die Wasserschildkröten im Plötzensee nicht in unbeobachteten Momenten auf die Liegewiese kriechen und die Picknickkörbe plündern. Kein Internetzugang, solange man einen Molch nicht von einer Eidechse unterscheiden kann! Kein Handyvertrag, wenn man keine Unkenrufe erkennen kann! Erst recht keine Flatrate, wenn man diese Rufe nicht auf einer Bierflasche imitieren kann! Und so lange verschwindet mit euren doppelt abgeleiteten Differentialgleichungen, dem Aufbau der DNA, digitalen Netzwerkprotokollen und dem »Grundwissen über die Finanzwirtschaft«, wie in jüngster Zeit gern mal gefordert! Jemand, der keine Ringelnatter erkennen kann, sollte mit so etwas wie Finanzwirtschaft überhaupt gar nicht erst in Berührung kommen dürfen. Man sieht doch, wohin das führt. Lernt erst mal was Richtiges, dann sehen wir weiter!
Der Unterschied zwischen Deutschen und Zyprioten: Während die Deutschen bei Ringelnattersichtung in Todesangst geraten und sich von Feuerwehr und Zooexperten retten lassen müssen, haut der Zypriot/die Natter einfach tot.
Dem allen hatte die Zyprische Ringelnatter nichts entgegenzusetzen. Die Evolution hat sie fit gemacht für ein Überleben auf dem klimatisch wie von der Biotopstruktur her eher ringelnatterfeindlichen Zypern – an durchgedrehte Christen und Angler hat sie dabei nicht gedacht.
So galt die Zypern-Ringelnatter schon seit Jahrzehnten als ausgerottet. Und wäre es vermutlich auch längst, käme jetzt nicht die große Politik ins Spiel. Und der Umstand, dass manche griechische Zyprer türkische Zyprer so wenig leiden können wie Schlangen und umgekehrt, und beide wollten wohl gerne ganz ähnlich miteinander verfahren. Die Geschichte ist bekannt: Die Insel ward geteilt, und Blauhelmsoldaten wurden entsandt, die neue Grenze zu sichern. Auch das ferne Österreich schickte ein Truppenkontingent, dem der Soldat Hans-Jörg Wiedl angehörte. Der aber interessierte sich rasch mehr für die Reptilien der Insel als für die absurden Konflikte ihrer menschlichen Bewohner, und so begann er, an seinem Stützpunkt Terrarien anzulegen. Die Militärführung war irritiert, spätestens, als ein Schreiner des nahe gelegenen Ortes mit einer meterlangen Terrarien-Spezialanfertigung vorfuhr. Terrarien aber sind als Kampfmittel nicht gemeldet, und so sollte Wiedl zur Rechenschaft gezogen werden. Glücklicherweise gab es da einen Leutnant, der Zoologie studiert hatte und ein gutes Wort für die waffenferne Beschäftigung des Blauhelms einlegte. Man ließ Wiedl gewähren, und bald schon war der österreichische Stützpunkt mit seiner Reptilienpopulation ein beliebtes Ausflugsziel für die Soldaten anderer Nationen. Wiedl konnte seiner Leidenschaft ungestört frönen und stöberte den Reptilien in allen Winkeln der Insel nach. Bis er auf die kleine, unscheinbare Natter stieß, die alle Fachleute schon lange für tot erklärt hatten. Wiedl trommelte internationale Wissenschaftler und Reptilienfreunde zusammen, sammelte Geld und bemühte sich um Schutzmaßnahmen. Gerade noch rechtzeitig, denn die von ihm wiederentdeckte Population brach bald darauf endgültig zusammen. Trotz aller Bemühung um Aufklärung wurden die Tiere weiterhin erschlagen, dann kamen die Angler, und das war es dann für das seltene Reptil.
Wiedl, der auf Zypern längst nur noch als »Snake George« bekannt ist, zwischenzeitlich dort einheiratete und ganz dorthin übersiedelte, hatte aber einige der Nattern für ein Zuchtprojekt gerettet, das in einem parallel von ihm gegründeten Reptilienpark bei Paphos angesiedelt wurde. Und mit wissenschaftlicher Unterstützung gelang es ihm außerdem, drei weitere winzige Restpopulationen zu finden. 100 bis 150 Tiere, so schätzen die Herpetologen, könnte es heute noch geben. Um die Zyprische Ringelnatter überhaupt noch retten zu können, mussten die verbliebenen Tiere in ein geeignetes, besonders abgelegenes Gewässer umgesiedelt werden, das Anglern und Touristen unbekannt ist und daher einer Restpopulation als Refugium dienen kann.
Und nun kommt erneut die Kirche ins Spiel, in einer angesichts der gespannten diplomatischen Beziehungen zwischen Christen- und Schlangentum ganz ungewohnten Rolle.
Das »Holy Monastery of St. Neofytos« unter der Leitung seines Abtes Archimandrit Leontos erklärte sich 2006 bereit, das Patronat über die bedrohte Zyprische Ringelnatter zu übernehmen und auch materielle Unterstützung für den Umzug dieser Reptilien zu leisten. Das Kloster wurde nach dem 1134 geborenen heiligen Neophytos (Ayios Neofytos) benannt, der als einer der bedeutendsten Ekklesiasten des 12. Jahrhunderts gilt. Mit 18 Jahren wurde er Mönch, und als 25jähriger bezog er eine Höhle, die ihm zunächst als Wohnung diente. Hier befindet sich das heutige Kloster. Er führte ein asketisches Leben und hinterließ nach seinem Tode ein reiches spirituelles Erbe, das jetzt offenbar entscheidend dazu beiträgt, die Ringelnatter Zyperns zu retten.
So also stellt die Zypern-Ringelnatter einen weiteren Beleg für Darwins Theorie zur Entstehung der Arten dar, da sie sich an die trocken-heißen Bedingungen der Insel angepasst, von der Festlandsverwandtschaft gelöst und ein ­eigenes Taxon gebildet hat, sie wurde Opfer der auch durch die christliche Kirche geförderten weit verbreiteten Schlangenangst, in letzter Minute gerettet wurde sie als zufällige Folge der politischen Teilung der Insel, und hoffentlich gesichert wird ihr Bestand durch das Einsehen eines Klosters und dessen sozusagen persönlichen Segen. Eine wilde Geschichte einer kleinen Schlange, die doch nur ein paar Frösche fangen wollte.