Die Aufhebung der Immunität Berlusconis

Berlusconi und das rote Komplott

Nach der Aufhebung des Immunitätsgesetzes, das dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi Schutz vor Strafverfolgung garantierte, stilisiert er sich zu einem »Opfer« der Justiz. Seine Koalition arbeitet weiter an »Reformen«, die die Macht des Ministerpräsidenten vergrößern sollen. Die Opposition beschäftigt sich mit innerparteilichen Kämpfen, während sich in der Gesellschaft langsam Widerstand regt.

Wut ist ein kurz andauernder Affekt, die direkte Reaktion auf eine von außen kommende Kränkung. Als solche empfand der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi die Entscheidung des obersten Gerichtshofs vom 7. Oktober, das von seiner Regierung verabschiedete Immunitäts­gesetz für verfassungswidrig zu erklären. Die Reaktion des Ministerpräsidenten war zu erwarten. Schließlich sind seine Probleme mit der Justiz nichts Neues, und es kommt immer wieder vor, dass die Medien, die parlamentarischen Oppo­sition oder sogar höhere staatliche Institutionen sich ihm gegenüber kritisch äußern. Berlusconi, in dessen Auffassung von Demokratie kein Platz für Kritik vorgesehen ist, hat dafür eine ganz einfache Erklärung: Seit Jahren werde er von der Justiz verfolgt, er sei das Opfer einer »linken Verschwörung«. Das Urteil der Verfassungsrichter bot Berlusconi erneut die Chance, sein derzeit schlechtes Image ein wenig aufzupolieren und in einer seiner beliebtesten Rollen vor seinem Publikum aufzutreten: der des Verfolgten. Wutentbrannt beschuldigte er den Staatspräsidenten Giorgio Napolitano, die Verfassungsrichter und die Presse des Komplotts gegen ihn. Seine Hetzrede war jedoch nicht nur die impulsive Reaktion auf die Urteilsverkündung, sie war zugleich der Auftakt zu einer neuen Phase der gezielten Aggression gegen die demokratische Ordnung des Landes.

In der ersten Erregung hatte Berlusconi angekündigt, seine Wählerbasis, sein »Volk« zu mobilisieren. Die Androhung wurde jedoch ebenso wenig in die Tat umgesetzt wie die Idee, sich in vorgezogenen Neuwahlen die Gunst des »Volkes« noch einmal triumphal bestätigen zu lassen. Erst die im kommenden Jahr stattfindenden Regionalwahlen sollen zum Plebiszit für den nach eigenen Angaben »meistverfolgten Politiker aller Zeiten« werden. Berlusconi gibt sich kämpferisch: Wie 1994 werde die Geschichte nicht noch einmal enden. Damals war seine erste Regierung nur wenige Tage, nachdem ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden war, auseinandergebrochen.
Allerdings können nach der Zurückweisung des Gesetzes, das den Inhabern der vier höchsten Staatsämter für die Dauer ihrer Amtszeit Schutz vor Strafverfolgung garantiert hätte, die gegen Berlusconi anhängigen Gerichtsverfahren nun wieder aufgenommen werden. In Mailand drohen dem Ministerpräsidenten Anklagen wegen Steuerhinterziehung und Bestechung. Ein im vergangenen Jahr dank des Immunitätsgesetzes suspendiertes Korruptionsverfahren, in dem ihm vorgeworfen wird, an seinen ehemaligen Anwalt David Mills 600 000 Dollar Schmiergeld gezahlt zu haben, kann neu aufgerollt werden. Bereits im Frühjahr wurde Mills in erster Instanz zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, das Gericht sah es damals als erwiesen an, dass er in mehreren Prozessen Falschaussagen zugunsten Berlusconis gemacht hatte. Derzeit läuft in Mailand das Berufungsverfahren, zu dem der Ministerpräsident als mutmaßlicher Bestecher bald als Zeuge vorgeladen werden soll.
Es ist jedoch eher unwahrscheinlich, dass Berlusconi wegen der ausstehenden Gerichtsverfahren tatsächlich zum Rücktritt gezwungen werden könnte, da alle anhängigen Prozesse in absehbarer Zeit verjähren. Außerdem versprach der Justizminister Angelino Alfano, der dem abgelehnten Immunitätsgesetz seinen Namen ge­liehen hatte, schnellen Ersatz. Mit einer einfachen Gesetzesänderung im Parlament könnten die Verjährungsfristen herabgesetzt werden, wodurch die Möglichkeit einer eventuellen Verurteilung vereitelt werde.
Trotzdem gehören Berlusconis wütende Hasstiraden noch Tage nach der Urteilsverkündung zum Standardprogramm seiner öffentlichen Auftritte. Doch nur mit der Angst vor Strafverfolgung lässt sich die Wiederholung der immer gleichen Brandreden nicht erklären. Die Behauptung, »linke Staatsanwälte« und »geheime Eliten« planten in Absprache mit der von einem »Schweizer Unternehmer« finanzierten »kommunistischen« Presse einen »Putsch« gegen ihn, klingt nach einer verschwörungstheoretischen Wahnvorstellung. Doch die Rede verfolgt offenkundig ein präzises Ziel. Mit den Anschuldigungen gegen eine angeblich politische Justiz wird die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft in Zweifel gezogen, die Beschimpfung jeder liberaldemokratischen politischen Opposition als »kommunistisch« gehört zum Repertoire. Mit der Verleumdung des Medienunternehmers Carlo De Benedetti (des »Schweizer Unternehmers«) als »unpatriotisch« werden dagegen mehrere Ressentiments gleichzeitig bedient. De Benedetti ist auf dem Medienmarkt nicht nur ein direkter Konkurrent von Berlusconis Familienunternehmen, in seiner Verlagsgruppe erscheint auch die Tageszeitung La Repubblica, die seit Monaten über Berlusconis Sex- und Geschäftsskandale berichtet. Mit der Betonung seiner Schweizer Staatsbürgerschaft wird er als intellektueller »Anti-Italiener« und ausländischer »kannibalischer Kapitalist« denunziert. Die Anlehnung an den Jargon des italienischen Faschismus ist kein Zufall. Es geht dem rechten Regierungsbündnis seit jeher um die Abschaffung der aus dem antifaschistischen Konsens der Nachkriegsjahre hervorgegangenen italienischen Verfassung.
In seinem Kampf gegen die demokratischen Garantie- und Kontrollinstanzen hat Berlusconi durch das Urteil des Verfassungsgerichts zweifellos eine klare Niederlage erlitten. Dass er sich trotz der Unterstützung, die er in der Gesellschaft genießt, an die institutionellen Spielregeln der repräsentativen Demokratie halten muss, bringt ihn in Rage. Dass der oberste Gerichtshof ein Gesetz zurückweisen kann, anstatt den Willen »der Mehrheit« anzuerkennen, findet er »ungerecht«. Seine Verbündeten schlagen in den einschlägigen Talkshows bereits einen schärferen Ton an: Berlusconi werde von »den Italienern« geliebt, er sei der eigentliche Staatspräsident, die Entscheidung des Gerichts widerspreche dem Wählerwillen und sei deshalb »undemokratisch«.

Während die von Berlusconi kontrollierten Medien die öffentliche Meinung weiter manipulieren, wird die nächste Schlacht vorbereitet. Noch während der laufenden Legislaturperiode soll mit der einfachen Mehrheit der rechten Regierungskoalition eine »große Reform« verabschiedet werden, die die Autonomie der Justiz einschränkt, eine allgemeine parlamentarische Immunität festschreibt und den Ministerpräsidenten durch die Einführung seiner Direktwahl stärkt. Diese Reformen, die die italienische Demokratie in ein autoritäres Präsidialsystem verwandeln würden, könnte sich Berlusconi entsprechend der Bestimmungen des Artikel 138 der Verfassung per Volksentscheid bestätigen lassen; der oberste Gerichtshof hätte in diesem Fall keine Möglichkeit mehr, den Angriff abzuwehren.
Ob Berlusconi dieser Gewaltstreich wirklich gelingt, ist noch nicht ausgemacht.
Die oppositionelle Demokratische Partei ist in diesen Tagen damit beschäftigt, ihren neuen Generalsekretär durch Vorwahlen, die Ende Oktober stattfinden werden, zu bestimmen. Die Kämpfe zwischen den Parteistrategen bestimmen hier die Debatte. Die Suche nach einem Parteivorsitzenden, der die Wähler emotional mitreißen kann, gestaltet sich allerdings schwierig. Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, in der sich das Land befindet, konnten sich die Demokraten in kaum einem Bereich als Oppositionspartei profilieren. Dass sich in der Gesellschaft nun endlich Widerstand regt, wird mit einer gewissen Ratlosigkeit reflektiert. Feministinnen, die LGBT-Bewegung und aufgebrachte Zeitungsleser, die um die Pressefreiheit fürchten, organisierten in den vergangenen Wochen Demonstrationen und Diskussionsveranstaltungen. Entgegen der parteienübergreifenden Vorstellung von der Notwendigkeit eines politischen Heilsbringers formiert sich dieser Widerstand erstmals ohne direkten Bezug auf einen linken Erlöser. Das könnte Anlass zur Hoffnung geben. Der Protest bleibt zwar fragmentiert, ist aber politisch pointierter.