Über die Ratifizierung des Lissabon-Vertrags

Krisengewinnler EU

Nach der Zustimmung Irlands gab Polen seinen Widerstand gegen den Lissabon-Reformvertrag auf. Auch der letzte »EU-Dissident«, der tschechische Präsident Vaclav Klaus, hat angekündigt, den Vertrag unterzeichnen zu wollen. Merkel und Sarkozy bereiten in der Europa-Politik gemeinsam nächste Schritte vor.

Querkopf, Provinzkaiser, Störenfried – wohl kaum ein europäischer Politiker ist in den vergangenen Jahren so pathologisiert worden wie der tschechische Präsident Vaclav Klaus. Seine kategorische Weigerung, den EU-Reformvertrag zu unterzeichnen, hielten viele Kommentatoren zwischen Berlin und Lissabon für eine Art Persönlichkeitsstörung. Nun hat er klein beigegeben. »Der Zug, der in Bewegung gesetzt wurde, ist so schnell und so weit gekommen«, sagte Klaus am Wochenende im Interview mit der Tageszeitung Lidove noviny, »dass es wahrscheinlich unmöglich sein wird, ihn zu stoppen oder umzudrehen.«
Damit ist klar, was sich seit zwei Wochen angekündigt hatte. Nachdem auch die Iren in einem Referendum dem EU-Reformvertrag zugestimmt hatten, war der tschechische Präsident schließlich einer der wenigen Politiker, die noch ernsthaft versuchten, das Vertragswerk von Lissabon zu verhindern. Doch die Perspektiven für Vaclav Klaus schwanden, nachdem auch der polnische Präsident Lech Kaczynski den Vertrag unterschrieben hatte. Beide Kammern des Parlaments in Warschau hatten das Reformwerk zwar im vergangenen Jahr bestätigt. Kaczynski verweigerte jedoch seine Signatur aus Solidarität mit dem »kleinen heldenhaften Volk der Iren, dessen Schicksal so sehr dem polnischen ähnelt«, wie sein Sprecher erklärte. Nach dem positiven Ausgang des irischen Referendums wollte er aber die Reform nicht länger verhindern, sagte Kaczynski.

Einer der letzten Verbündeten, auf den Klaus lange Zeit zählen konnte, sitzt in London. Das britische Unterhaus hat den Vertrag zwar bereits ratifiziert, doch der Vorsitzende der Tories, David Cameron, hofft auf die Neuwahlen im kommenden Frühjahr. Im Falle eines konservativen Sieges würde er dann ebenfalls ein Referendum durchführen, schrieb er kürzlich an Klaus. Der tschechische Präsident sollte daher seine Unterschrift noch ein wenig verzögern. Eine Hoffnung, die Klaus jetzt zunichte machte. »Ich kann und werde nicht auf die Wahlen in Großbritannien warten, es sei denn, sie werden in den kommenden Tagen oder Wochen abgehalten«, sagte er in dem Interview. Die Briten müssten ihren eigenen Weg suchen. Dabei hatte sich Klaus lange Zeit bemüht, mit Hilfe von Verfassungsklagen die Unterzeichung zu verschieben. Nachdem sein erster Versuch gescheitert war, reichten vor wenigen Wochen einige seiner Parteifreunde eine weitere Klage ein. »Mit dem Abkommen droht Europa ein Superstaat zu werden, bei dem einzelne Länder an Souveränität verlieren«, heißt es in der Begründung. Ursprünglich wollte Klaus bis zur endgültigen Klärung nicht unterschreiben, doch nun scheint er selbst nicht mehr an den Erfolg zu glauben.
Mit seiner vehementen Ablehnung des Vertrags ignorierte er die Entscheidung des tschechischen Parlaments und sogar die Mehrheitsmeinung in seiner eigenen Partei. Vergangene Woche forderte er dann überraschend, durch ein Zusatzprotokoll im EU-Vertrag den Fortbestand der Benes-Dekrete zu sichern. Seiner Meinung nach könnten die nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Sudetendeutschen aufgrund der EU-Grundrechte­charta die Rückgabe ihrer einstigen Besitztümer in Tschechien einklagen. Die Sorge vor deutschen Rückforderungen ist in Tschechien immerhin so verbreitet, dass sich auch Ministerpräsident Jan Fischer, sonst nicht gerade ein Freund von Klaus, dem Anliegen nicht verschließen kann. Er verlangte vergangene Woche, dass der nächste EU-Gipfel Ende Oktober auf diese Bedenken eingehen müsse.

Selbst die EU zeigt Verständnis. EU-Kommissar Günter Verheugen gab der CSU eine Mitschuld an dem neuen Prager Vorschlag – sie habe in Tschechien Ängste vor Eigentumsansprüchen deutscher Vertriebener geschürt. Klaus selbst äußert sich hingegen mittlerweile ungewohnt zurückhaltend. Schon ein »Versprechen«, dass eine Zusatzklausel angehängt werde, würde ihn zufriedenstellen, meinte er.
Wegen dieser Sonderregelung wird der Vertrag jedenfalls nicht scheitern. Im Falle von Irland akzeptierte die EU sogar weitreichende Sonderregelungen, um eine Mehrheit für den Vertrag zu sichern. Und die Niederlage der irischen Reformgegner war es schließlich, die auch den Widerstand von Klaus erlahmen ließ.
So war es dem irischen Ministerpräsidenten ­Brian Cowen gelungen, in den vergangenen 15 Monaten nach dem grandiosen Debakel beim ersten Referendum einige Zugeständnisse auszuhandeln. Das katholische Land kann demnach sein striktes Abtreibungsverbot ebenso behalten wie die niedrigen Körperschaftssteuern. Außerdem darf weiterhin jeder Mitgliedsstaat, auch Irland, einen EU-Kommissar stellen. Die radikale christliche Rechte hatte zuvor mit missionarischem Eifer Proteste gegen die heidnischen Brüssler Bürokraten und ihr gottloses Paragrafenwerk organisiert. Zudem befürchteten viele Iren, ihre politische Unabhängigkeit an anonyme EU-Institutionen zu verlieren.
Entscheidend für den Stimmungsumschwung waren allerdings wirtschaftliche Gründe. Irland wurde von der Wirtschaftskrise besonders hart getroffen. Um den völligen Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern, garantierte die irische Regierung alle Sparguthaben und unterstützte die zwei größten Banken des Landes mit enormen Summen. Die Rettungsaktion wurde nur möglich, weil die Europäische Zentralbank für rund drei Viertel der zur Verfügung gestellten Kredite aufkam.
Ohne die europäische Hilfe wären die Folgen kaum absehbar gewesen. Doch auch so erlitt Irland den schwersten Einbruch aller westlichen Industriestaaten. In diesem Jahr wird die Wirtschaftsleistung voraussichtlich um neun Prozent zurückgehen und die Arbeitslosenrate auf 15 Prozent steigen, während die Regierung den Staatshaushalt um vier Milliarden Euro kürzen muss. Die Finanzlage des Landes gilt als so prekär, dass die Risikoprämien für die irischen Staatsschulden seit Jahresbeginn um das Vierfache gestiegen sind. Ein »Nein« beim Referendum hätte die Lage noch weiter verschärft.
Wegen der Wirtschaftskrise schrumpfen die nationalen Handlungsmöglichkeiten, während der Einfluss der EU deutlich steigt. Nicht nur Präsident Klaus und die Tories sehen darin eine dramatische Entwicklung, auch in Deutschland regt sich Widerspruch. So hatte vor kurzem das Bundesverfassungsgericht den EU-Vertrag zwar bestätigt, gleichzeitig aber mehr Mitwirkungsrechte für Bundestag und Bundesrat gefordert. Der Vorsitzende der CSU, Horst Seehofer, hatte daraufhin verlangt, dass die Bundesregierung generell vor allen Entscheidungen auf EU-Ebene eine parlamentarische Zustimmung einholte. Die Lissabon-Reformen können die bayerischen Freunde des Nationalstaats damit erschweren, verhindern aber sicher nicht.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel denkt da schon weiter. Gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy bereitet sie schon jetzt die nächsten Schritte vor, sollte der Vertrag demnächst in Kraft treten. Den beiden geht es vor allem um die Besetzung von zwei neuen Posten, die vermutlich bald zu vergeben sind: das Amt des Präsidenten, der die EU-Gipfel leiten und alle fünf Jahre neu gewählt werden soll, und die Person des Hohen Repräsentanten für die Außenpolitik, der nun deutlich mehr Befugnisse erhält.
Die ungewöhnliche Protegierung des Sozialdemokraten Tony Blair durch die beiden konservativen Regierungschefs erklärt sich durch die Wahl für den zweiten, wichtigeren Posten. Mit Blair als EU-Präsident könnten der einflussreiche Job des Außenministers sowie wichtige Posten bei den EU-Kommissaren an Kandidaten aus dem Mitte-Rechts-Spektrum vergeben werden. Erste Entscheidungen könnten bereits auf dem nächsten EU-Gipfel Ende Oktober in Brüssel fallen.
Nebenbei wäre die Personalie auch ein Affront gegen die britischen Tories. Wegen ihrer Aversion gegen die EU haben sie im Juni die konservative Europäische Volkspartei verlassen und sich der Fraktion nationalistischer und antisemitischer Splittergruppen aus Osteuropa angeschlossen. Für die Tories wäre ein EU-Präsident Tony Blair ein wahrer Alptraum. Drei Jahre nach seinem Rückzug aus der Politik würde Blair erneut den Briten erscheinen. »Wie ein Zauberer aus Herr der Ringe«, lästerte Boris Johnson, der populäre Bürgermeister Londons. »Größer und mächtiger als je zuvor.« Johnson forderte deswegen sogar ein Referendum selbst für den nun wahrscheinlichen Fall, dass nach einem Regierungswechsel der Vertrag von Lissabon schon wirksam wäre.
Unabhängig von ihren jeweiligen Personalpräferenzen dürften sich Merkel und Sarkozy aber über eine elementare Veränderung freuen, die das irische Ergebnis mit sich bringt. Denn wenn der Lissabon-Vertrag tatsächlich in Kraft tritt, ist klar, dass sich die deutsch-französische Konzeption durchgesetzt hat: die EU als politisches Projekt, das zumindest langfristig mit einer Stimme sprechen soll. Verlierer sind die Befürworter einer Wirtschaftsunion, die die Gemeinsamkeiten auf den Binnenmarkt und die Währung beschränken wollen – Europa als eine Art ambitionierte Freihandelszone.
Dass ausgerechnet die Wirtschaftskrise den Reformgegnern die vermutlich letzte Chance raubte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Der gescheiterte Querkopf in Prag wird dafür vermutlich wenig Verständnis haben.