Was war Westberlin?

Drei Damen vom Grill

Westberlin hatte Johannes Agnoli, David Bowie, die Einstürzenden Neubauten, den Merve-Verlag und Rudi Dutschke. Aber Westberlin war nicht einfach die Zone des freiheitlichen Denkens, sondern auch eine der reaktionären Gesinnung.

Was war West-Berlin? Wie hieß diese Halbstadt, diese Inselstadt eigentlich genau? Denn die Schreibweise »Westberlin« ist nicht korrekt, wenn auch gebräuchlich, amtlicherseits galt im Westteil Berlins wie auch in der Bundesrepublik die Schreibweise »Berlin (West)«. Die offizielle DDR allerdings schrieb aus politischen Gründen »Selbständige politische Einheit Westberlin«, kurz »Westberlin«.
Und wie groß war dieses Mehrnamengebilde eigentlich? Egon Bahr, der ewige Schatten Willy Brandts, der wiederum regierender Bürgermeister der Stadt war, räumte in seinen Memoiren ein, dass man im Schöneberger Rathaus, von dem aus die »Insulaner«, wie Günter Neumann sie besang, beherrscht wurden, gern die Einwohnerzahlen hochlog. Man wollte größer bleiben als Ostberlin, das wiederum »Berlin, Hauptstadt der DDR« hieß und seinerseits stetig wuchs. Und das man als Konkurrenz betrachtete, obschon man in Westberlin offiziell eine »Wiedervereinigung« mit dem Ostteil der Stadt herbeiführen wollte. So wie sich Ostberlin nicht für eine geteilte Stadt hielt, sondern für eine ganze.

So what? Bekanntlich ist Berlin aus den Ansiedlungen Berlin und Cölln hervorgegangen. Noch einige preußische Könige unterschrieben, wenn sie Verträge unterzeichneten, mit »Cölln, den … «. Doch hätte man Berlin und Cölln nicht einfach wie­der trennen können im Jahr 1945, denn beide, das ursprüngliche Berlin wie Cölln, lagen im so­wjetischen Sektor. Das, was später Westberlin war, war die Vorstadt von beiden. Genauer: die Vor­städte und das Gebiet zwischen ihnen.
Vorstadt wurde Westberlin dann wieder ab 1945, auch wenn man das in Westberlin ganz anders sah. Man lebte in Westberlin in einem Paradox: in einer Stadt inmitten der DDR, die sich nur als halbe Stadt wahrnahm, in der ständig die Furcht vorherrschte, die DDR könne sie sich einverleiben, und in der doch zugleich beinahe herablassend von »Westdeutschland« gesprochen wurde, wenn man von jenem Teil Deutschlands redete, der der Nato angehörte und den man unerklärlicherweise für die Provinz hielt.
Für wenige war Westberlin ganz angenehm – die TU und die FU galten seit den sechziger Jahren als »linke Unis«, Westberlin hatte Klaus Heinrich, Johannes Agnoli, Peter Szondi, Jacob Taubes, Walter Höllerer und und und, große Vorzeigeintellektuelle. Daneben hatte Westberlin die Genialen Dilletanten, hatte die damals bedeutenden Bands Einstürzende Neubauten und Ideal, Westberlin hat­te Nina Hagen, Nick Cave und David Bowie, hatte Ronald M. Schernikau und das Schwuz, hatte das Schiller-Theater, die Schaubühne, das Grips-Theater und die Freie Volksbühne, den merkwürdig freigeräumten Potsdamer Platz, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Friedenau, die Galerie Zinke in Kreuzberg und die großen Zwei-Vornamen-Dichter Robert Wolfgang Schnell und Günter Bruno Fuchs. In Charlottenburg gab es Rudi Dutschke und im Wedding die frühe Taz. Auch die Verlage Merve, Wagenbach und Rotbuch, die Axel Haase zufolge zum »konstitutiven Bestandteil des kulturellen Lebens« in Westberlin gehörten, wie auch die Autorenbuchhandlung, den Buchladen Krakehler und die Heinrich-Heine-Buchhandlung im Bahnhof Zoo. Es gab die Kneipen Zwiebelfisch und Dicke Wirtin, die K-Gruppen trafen sich im Max & Moritz, der Mehringhof versammelte die weniger orthodoxen Linken. In der Oranienstraße übten Autonome, die Gruppe 2. Juni war lockerer als die RAF, die »Hasch-Esser« rebellierten, das »Wilde Denken« brachte neue und neueste und allerallerneueste politische Theorien hervor. Die En- und Exklaven, die der Vier-Mächte-Status mit sich brachte, boten manchmal Schutz vor der Polizei. Das Gebäude des Tempelhofer Flughafens galt selbst entschiedenen Nazigegnern als schöner Bau …

Doch das war leider nicht alles. Westberlin war alles andere als eine Zone des freiheitlichen Denkens. Die ganzen Ausgeflippten, die Wehrdienstverweigerer und die Intellektuellen, die es in die Stadt zog, verließen die Stadt wieder, sobald sie älter waren, nach Jobs suchten, gesetzter wurden, oder aber auch hungriger nach Austausch waren, denn, bei aller Liebe, Westberlin war tatsächlich das »Groß-Bielefeld«, als dass es der Spiegel seinerzeit des öfteren beschimpfte.
Westberlin war Frontstadt und bot einige Privilegien. So konnte man hier billig telefonieren, musste, wie gesagt, keinen Wehrdienst ableisten, der Lohn wurde mithilfe der Berlin-Zulage aufgestockt, Wohnraum war einigermaßen günstig (und in Zeiten der Hausbesetzungen noch günstiger). Doch was wurde dadurch wettgemacht? West­berlin hatte in den fünfziger Jahren eine Massenflucht der Bürger und der bürgerlichen Intelligenzia erlebt, und man muss stets be­denken, dass jene, die da von »der Insel« flohen, vor allem jene waren, die nach 1933 noch geblieben waren.

Zurück blieben vor allem Arbeiterinnen und Arbeiter, die, da die Industrie in Westberlin bald brach lag und selbst Siemens, Borsig und AEG nicht mehr vornehmlich in Berlin produzierten, ihr Klassenbewusstsein verloren, sofern sie denn je eins gehabt hatten. In Westberlin gab es anstelle der KPD oder der DKP die SEW, die unmittel­bar aus Ostberlin gesteuert wurde und nicht eben zu den anspruchsvollsten kommunistischen Parteien gehörte. Die Mitglieder der SPD in Westberlin waren – Willy Brandt hin oder her – nationaler gesinnt als ihre Genossinnen und Genossen in »Westdeutschland«, zudem konnten sie sich wie ihre Konkurrenten von der CDU in dem piefigen politischen Ausnahmeraum die Pöstchen zuschie­ben, wie sie lustig waren, und selbst die Hinterbänkler noch versorgen. Kein Wunder, dass es Skan­dale gab zuhauf. Und ebenfalls verwundert es nicht, dass die »Großen« aus den Berliner Volksparteien bis heute den Habitus eines Bauernfürsten pflegen und ihnen die »Me­tropole«, von der sie gern reden, nicht anzumerken ist.

Westberlin war die Stadt der sinnlosen Autobahnen. Der U-Bahn-Großprojekte, die im Kampf gegen die bisher verkehrsbeherrschende S-Bahn geführt wurden (»Fahrt nicht mit Ulbrichts S-Bahn!«). Westberlin, das waren Morgenpost und B.Z., auch Tagesspiegel und Abend, Zeitungen allesamt, in denen die Kieze und das Geschehen auf dem Kudamm wichtiger schienen als die Ereignisse in Washington oder Moskau.
Westberlin, das waren Sendungen wie »Drei Da­men vom Grill«, eine Vorabendserie, die nicht mal so schlecht begann, aber bald schon jenes Elend, das es zunächst deutlich zeigte, zur Gemüt­lich­keit verklärte. Darin Brigitte Mira, Günther Pfitzmann oder Harald Juhnke, sehr talentierte Leute, die verschlissen wurden von der Westberliner Sucht nach Boulevardthemen. Und die sich verschleißen ließen, aus Lokalpatriotismus heraus.
Westberlin hatte eine Menge großer Talente, doch liebte es diese nur, wenn sie ihr Talent verleugneten. Horst Buchholz etwa wurde erst »unser Hotte«, nachdem er aus Hollywood zu­rück­gekehrt war und Mist machen musste. Ein anderer ganz großer Schauspieler, Curt Bois, musste sein 70jähriges Bühnenjubiläum in Ostberlin feiern, weil man ihn im Westteil der Stadt nicht angemessen zu würdigen wusste.

Was hier über darstellende Künstlerinnen und Künstler zu lesen ist, kann man auch über viele andere sagen, die sich in Wissenschaft, Kunst, Publizistik oder einfach nur als Facharbeiterinnen und Facharbeiter hervortaten. Remigranten erging es in Westberlin ohnehin schlecht, denn die Mehrheit der Bevölkerung war, wenn sie wählen musste, lieber Nazi als »rot«. Dementsprechend war die Gesinnung, die man zur Schau trug. Heute verzeiht man einem Kurras nur nicht, dass er Stasi-IM war – die Tötung des Benno Ohnesorg aber nahm und nimmt man weiter gern als »angemessen« hin. In Westberlin nämlich verbargen sich nicht nur ein paar radikale Linke und ein paar kleinkriminelle Hippies vor dem Zugriff des in Westdeutschland weitaus mächtigeren Staatsapparates, zugleich liefen hier auf den Straßen die alten Nationalsozialisten offen umher, deren eliminatorischer Antisemitismus nun nur noch ein »gesunder Antikommunismus« gewesen sein sollte. Und als solcher mit Milde betrachtet wurde. Eine reaktionäre Gesinnung konnte man in Westberlin in demselben Maße pflegen wie in einer bayrischen Kleinstadt – in Hamburg, Köln, Frankfurt oder München hatte man mit größerer Ächtung zu rechnen als in der Frontstadt.
Dass etwa an allen Ecken des Flughafengebäudes Tempelhof noch immer – und gut gepflegt – die Reichsadler prangen, die lediglich das dann doch zu aggressive Hakenkreuz nicht mehr in ihren Krallen tragen, gleichwohl aber weiterhin Hoheits­zeichen sind, stört im Berliner Westen bis heute niemanden. Der Reichsadler steht nun gleichsam für die Luftbrücke, die Luftbrücke steht für das »Jahrhundert des Schreckens«, in dem deutsche Schuld eine Schuld jener ist, die Täter unter Tätern, aber auch Opfer und Opfern sind. Und folglich schuldig wie alle und somit ebenso unschuldig. Westberlin war ein Denkmal für diese Unschuld. Ein Denkmal, in dem Leute wohnten, die mehrheitlich von der Geschichtsmacht, die diesem Denkmal innewohnte, infiziert wurden.
Nahezu die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner Westberlins, so ergab eine Umfrage in den späten achtziger Jahren, hatte jene Mauer, auf die sie sich permanent bezogen, deren Existenz sie ernährte und die ihnen eine besondere Bedeu­tung verlieh, noch nie aus der Nähe angeschaut. Darüber erregten sich seinerzeit ein paar Nationalisten. Sie hätte ruhig bleiben können – die Westberliner trugen die Gewissheit, für die Freiheit zu stehen, die Freiheit von der Verantwortung für Geschichte nämlich, tief in sich. Sie selbst waren Teil des Denkmals geworden. Und sie waren, schon vor dem Mauerfall, reine Opfer­deut­sche. Sie waren dies so gern, dass sie heulen mussten, als die Mauer fiel. Sie dachten, nun wür­de es schwieriger werden für sie. Leider haben sie sich darin getäuscht.