Berlin und sein Dialekt

Ost-westliche Lautverschiebungen

Im Ostberlin berlinerten alle, denn das war ein Merkmal aufrichtigen Proletariertums. Wer dagegen im Westen berlinerte, war Currywurstverkäufer. Oder vielleicht ein Akademiker beim Wurstbestellen.

Das Berlin vor dem Mauerfall war nicht nur politisch, sondern auch sprachlich eine geteilte Stadt. West- und Ostbindung schlugen sich in der je unterschiedlichen Haltung gegenüber dem Berliner Dialekt nieder, von Sprachforschern wegen seiner hohen gesellschaftlichen Aussagekraft auch Soziolekt genannt. Während die Zonenbewohner schon in der Schule lernten, auf ihren rotzigen Hauptstadtjargon ebenso stolz zu sein wie auf die Klassenzugehörigkeit, von der er zeugen sollte, wurde den Westberlinern ihre autochthone Sprachform von Kindesbeinen an behutsam ausgetrieben – energisch genug, um sie davor zu bewahren, auf eine Frage des Lehrers oder Vorgesetzten mit »weeß­icknich« zu antworten, aber doch nicht so brutal, dass es ihnen unmöglich sein würde, den Currywurstverkäufer von der Ecke zu verstehen, der als leutseliger Dienstleistungsprolet schließlich immer auch das Volk repräsentierte, mit dem man auf Du und Du sein musste. Solcherart demonstrierten die Bewohner des kapitalistischen Vorpostens Sympathie und Überlegenheit gegenüber ihren Brüdern und Schwestern zugleich: Man vermochte sich mit ihnen im gemeinsamen geselligen Urlaut zu verständigen, beherrschte mit dem Hochdeutschen aber auch eine Sprache, die vielen Ostberlinern als Lock- und Angstbild eines unsozialistischen Kosmopolitismus und als Zeugnis verrufener Großbürgerlichkeit galt.

Die Geschicklichkeit beim Umgang mit dialektalen Nuancen hat im Westen der Stadt mitunter wahlentscheidende Wirkung gehabt. Eberhard Diepgen, jener ganz und gar unberlinerische Bürgermeister, der partout keine urwüchsige Sprachtönung in seine Stimme bekommen konnte und immer klang wie frisch aus der Rhetorikschule, hat sich wohl nur deshalb so lange halten können, weil das noch immer einflussreiche christdemokratische Restbürgertum ihn als sprachlichen Distinktionsbeweis gegenüber dem linguistisch regredierten Osten zu benötigen glaubte. Aus dem Herzen gequatscht hat der Berliner CDU aber in Wahrheit schon immer eher Klaus Landowsky, dessen ungeschlachter Tonfall im Milieu von Tempelhofer und Steglitzer Ortsbeiräten ebenso familiär wirkte wie seine paramafiösen Problemlösungsstrategien.
Bürgermeister der Wiedervereinigung aber wurde nicht umsonst Walter Momper: Allein schon sein Name klang wie das sprachgewordene Berlin, und mit seinem roten Schal und seiner Hoppla-jetz-komm-ick-Rhetorik schien er die perfekte Kreuzung aus Gewerkschafter und paternalistischem Familienunternehmer zu sein. Der Weg von »Berlin, nun freue dich« bis zu »Ich bin schwul, und das ist auch gut so« war denn auch ein Weg kosmopolitischer Läuterung. Die Hauptstadt wollte wieder Metropole werden, benötigte also einen Repräsentanten, der dialektal gefärbte Bodenständigkeit mit der Weltgewandtheit des Lebemannes verbindet, und so wurde aus »Mompi« über verschiedene Umwege, die dialektgeschichtlich irrelevant sind und daher übersprungen werden können, schließlich »Wowi«, der schon deshalb der Mehrheit der Berliner aus dem Herzen spricht, weil er sich für Politik genauso wenig interessiert wie sie.

Seither hat sich in der Hauptstadt eine bedauerliche mundartliche Verödung bemerkbar gemacht, die selbst ein Produkt der »Wende« sein dürfte: Hatten eingeborene Westberliner auch nach dem Mauerfall noch lange Zeit ihren Spaß daran, Ostberliner an ihrem schamlos berlinerischen Zungenschlag zu erkennen (besonders witzig war dergleichen im Künstler- und Intellek­tuellenmilieu), lassen sich infolge der zunehmenden Diffusion von West und Ost solche Differenzen inzwischen kaum noch nachvollziehen. An die Stelle der Dissonanz zwischen Hochdeutsch und Berlinerisch tritt immer mehr eine undefinierbare Art von Kiezdeutsch, die vom Berlinerischen nur noch die Aggressivität und Patzigkeit kennt, aber nicht mehr dessen Witz. Das wäre nicht so schlimm, wenn das Schwinden solcher Grenzen ein Zeichen für mehr Urbanität wäre, aber darauf zu hoffen, wäre wohl naiv. Denn selbst in den Zeiten der Teilung war Berlin zumindest in einem Punkt geeint: Keiner anderen westlichen Großstadt gelingt es so perfekt, alles urbane ­Leben schon im Ansatz zu provinzialisieren. Auch daran dürfte die Mundart ihren Anteil haben: Wer »ick« sagt, in dem spricht immer auch die eigene Scholle mit.