Berlin, 9. November

F-R-E-I-H-E-I-T

Ladies and Gentlemen, die BRD lädt ein: Am Brandenburger Tor wird die Geschichte mit Styropor nachgestellt, doch die Wolken hängen zu niedrig fürs Feuerwerk. Die Feierstimmung bleibt aus.

Ist der Fall der Berliner Mauer wirklich schon 20 Jahre her? Wie alt bin ich nochmal? Wie ich so vor meinem Holzpelletofen in New London, NH, sitze, wandern meine Gedanken … Ich wundere mich, dass es die Mauer jemals gegeben hat und dass sie jemals fallen konnte. Wenn ich an jenem Novemberabend bloß hätte da sein können! Was mir wirklich gefallen würde, wäre, in der Zeit zurückzureisen, aber ich finde diese Option nicht, also mache ich das Beste draus und buche einen Flug nach Berlin zum bevorstehenden Jahrestag.

Berlin, 6. November 2009
Flughafen Tegel. Es ist keine Zeitreise, aber wahrscheinlich das Zweitbeste. Finde meinen Weg durch vertraute Straßen, zuerst in Kreuzberg und dann in Charlottenburg zum Abendessen mit Marion, Swee und Tenzin. Swee erklärt mir erneut ihre Sicht des Mauerfalls: keine Pause für Erschöpfte, weil ihre sonst ruhige Gegend vom nicht endenden Lärm der Hämmer auf Beton erfüllt war. Glücklicherweise ist Marions Wohnung ruhiger, und ich falle in einen tiefen Schlaf

7. November
Gehe am Club Nirvana vorbei zur S-Bahn und weiter zum Hauptbahnhof. Am Schokoladen-Verkaufsstand (sie scheinen kostenlose Proben zu verteilen) und an der Mauerfall-Box (kostenlose Broschüren, Schneekugel- und T-Shirt-Verkauf) vorbei nach draußen; dann über die Brücke in den Osten.
Gehe am Bundespressestrand vorbei (viel Bambus) und hinüber zum Parlament der Bäume (#2). (Sind sie wieder umgezogen? Haben sie neu gestrichen? Und was sollen all diese Gipszähne?)
Eine junge Frau geht vorbei, hält gelegentlich an, um ein Blatt umzudrehen, es intensiv zu betrachten und in ihrer Tasche zu verstauen. Ich überlege, ob ich das auch tun sollte (ich möchte wirklich kein historisches Souvenir verpassen), also frage ich sie, was sie da macht. Es ist weniger interessant, als ich dachte, auch ein bisschen peinlich, wie sie zugibt, aber es ist ein Job – ihr Chef hat sie gebeten, Blätter für die Dekoration seines Ladens in der Nähe zu sammeln, und egal: Es gibt schlimmere Arten, sein Geld zu verdienen.
Ich überquere wieder die Spree und gehe zum Reichstag. Eine Menschenmenge beginnt sich zu sammeln, und es stellt sich heraus, dass Klaus Wowereit auf dem Weg ist, um den letzten der großen Styropordominosteine zu enthüllen, die den zentralen Abschnitt der (ehemaligen) Grenze zwischen Berlin, Hauptstadt der DDR, und Berlin (West) jetzt markieren. Schlüpfe in den Presse­bereich, hole meine Souvenir-Anstecknadeln ab (»Berlin im Wandel«) und warte auf eine Gelegenheit, etwas zu meiner Fotoserie »Berühmte Schuhe« hinzuzufügen (#11). Nach der Zeremonie erklärt Wowereit fröhlich fünf Mal für fünf verschiedene Fernsehkameras, wie toll es ist, dass das Dominoprojekt Kindern hilft, etwas über die Geschichte zu lernen. Ich frage mich, was genau sie dabei über Geschichte lernen, aber ich behalte die Frage für mich und gehe hinüber zum Pariser Platz, um ein eigenes, für Journalisten kostenloses Dominobuch zu bekommen.
Halte beim Holocaust-Mahnmal kurz an; auf der Jagd nach historischem Abfall fotografiere ich die Konkurrenz: ein Reinigungsteam auf der Fanmeile am Potsdamer Platz. Dann … eigentlich hatte ich vor, zu einer Demonstration am Checkpoint Charlie zu gehen, habe es dann aber zugunsten von Wowereits Auftritt ausfallen lassen. Doch heute muss mein Glückstag sein: Eine andere Demonstration zieht an mir vorbei, und ich schließe mich den Demonstranten für eine Weile an, bis der Typ mit dem »Revolution«-Schild von einem Polizisten zur Seite gezogen wird, der ihm sagt, dass er keine Flugblätter verteilen darf.
Angesichts der vorläufig unterbrochenen Revolution gehe ich zu Zora zum Abendessen und danach zu Maiks Geburtstagsfeier. Maik hat uns großzügigerweise mit Getränkegutscheinen versorgt, und weil ich ziemlich durstig bin, tausche ich sie beide gegen Drinks ein, bevor mir einfällt, dass ich das beste Souvenir des Tages weggegeben habe (okay, nichts gegen das Dominobuch). Aber es stellt sich heraus, dass Zora noch einen hat, und ich fühle mich richtig schlecht – es gibt durstige Kinder in Afrika, abgesehen von einigen Erwachsenen in meiner Nähe, die nichts gegen einen weiteren Drink einzuwenden hätten. Aber Geschichte ist Geschichte, also stecke ich die Wertmarke ein und gehe hinaus in die Nacht.

8. November
Schließe mich dem Strom der Journalisten zum Bundespresseamt an. Lasse ein Foto für die ID machen; trage mich für den Pressepool ein, gehe dann entlang der Dominomauer zum Reichstag (#4, #5). Sechs derzeitige und ehemalige Staatschefs, plus eine ehemalige (derzeitige?) Staatschef-Hoffnungsträgerin werden zum großen Domino-Event erwartet, aber zuvor kommen sie zum Abendessen in den Reichstag, und ich mache mir Hoffnungen auf einen Pressepass. Die Security ist ziemlich streng, aber ich quatsche mich ins Gebäude hinein, bloß um herauszufinden, dass das Akkreditierungsbüro geschlossen ist. Wandere verlassene Flure entlang und versuche, nicht allzu viele Alarmsirenen auszulösen. Fotografiere Ernst Thälmann in einem Buch mit Parlamentsmitgliedern, und (exklusiv!) erwische einen Küchenchef, der dabei ist, VI-Essen für die VIPs vorzubereiten.
Gehe wieder nach draußen, fotografiere Reste einer Frucht, die einige Revolutionen auslöste (#1), bevor ich zum Brandenburger Tor hinübergehe. Am Mikrofon wärmt jemand die Menschenmenge für die 20-Jahrfeier am nächsten Tag auf. Die Buchstaben »F-R-E-I-H-E-I-T« erscheinen auf der Leinwand, und die Umstehenden werden aufgefordert, sie immer lauter zu skandieren. Hm. Sieht nach einer etwas seltsamen Art aus, an den Mauerfall zu erinnern, naja. Andere Länder, andere Sitten. Aber warte mal. Sind das nicht »unsere« Sitten? Ich folge der Styropormauer in Richtung Bahnhof, der einst eine der bedeutenderen internationalen Grenzen beherbergte (jetzt ist er bloß noch ein Bahnhof), und dann zum sonntäglichen Abendessen bei Barbara und Russell.

9. November
Man hat eine Trabi-Selbstfahrer-Tour für Journalisten organisiert, und ich bin eine halbe Stunde zu spät, aber es geht gerade erst los. Vor langer Zeit, aber nicht sehr weit von hier, bin ich mal mit Thomas’ Trabi gefahren, und in meiner Erinnerung war das eine ziemlich anstrengende Sache. Aber ich bekomme eine kurze Auffrischung und frage mich, warum ich mir Sorgen gemacht habe, bis der Wagen mitten im Verkehr kurz vor dem Potsdamer Platz absäuft und ich den Anschluss an den Rest der Gruppe verliere. Ein freundlicher Fremder, der in die entgegengesetzte Richtung fährt, springt aus seinem Auto heraus und zu mir rüber. Er fummelt an ein paar Knöpfen herum, sagt mir, wann ich den Schlüssel umdrehen soll, und wundersamerweise springt der Trabi wieder an. Ich weiß nicht, wo die anderen sind, biege auf gut Glück links ab und schließe gerade rechtzeitig wieder auf, um mit dem Konvoi in den Tiergarten-Tunnel einzubiegen. Wow. Um den Wagen bloß nicht wieder abzuwürgen, bleibe ich im zweiten Gang und überdrehe den Motor, als wir bergab in den Tunnel hineinrollen. Erstaunlicherweise komme ich durch und zurück auf Straßenniveau, wo mir der Wagen prompt wieder absäuft. Hinter mir wird gehupt, bis ich den Motor endlich wieder in Gang bekomme und aufwärts über die Ampel fahren kann. Es ist eine surreale Erfahrung: der Kampf mit Blinkern, Scheibenwischern und rutschigem Kopfsteinpflaster, während die freundliche Stimme des unsichtbaren Tourguides aus dem extra eingebauten Soundsystem klingt – der Mauerverlauf folgte dieser Straße; eine Frau starb, als sie auf die Bernauer Straße sprang, deren eine Seite einst zu einem anderen Land gehörte als die andere. Es gab zwei verschiedene Arten von Wachttürmen und etliche Generationen von Mauer …
Unsere Guides entschuldigen sich mehrmals für die verkürzte Tour, aber ich bin dankbar, in einem Stück aus dem Auto steigen zu können. Fotografiere Mauertouristen (#3), schaue dann schnell bei der Taz vorbei, um Petra Hallo zu sagen, bevor ich zum Pressezentrum eile und zu einem Bus zur Bornholmer Brücke. Lech Walesa, Gorbatschow, Angela Merkel und verschiedene andere haben vor, die ersten Schritte der Freiheit am ersten Grenzübergang nachzuvollziehen, der vor 20 Jahren geöffnet wurde, und ich bekomme ein Exklusivfoto der Vorbereitungen (#9), besetze dann einen Platz unter einer der Fernsehkameras, mit gutem Blick auf die bevorstehenden Reden. Aber die Gruppe der VIPs hält sich nicht ans Protokoll, sondern geht mitten auf die Brücke, wo sie schnell von einer Schar eifriger Journalisten umringt wird (#10). Ich weiß nicht, was die anderen Fotografen jetzt anstellen, aber meine Kamera versagt im Regen, und so verpasse ich einiges von der Aufregung. Irgendwie funktioniert rechtzeitig wieder alles, damit ich etwas zu meiner Serie »Berühmte Schuhe« hinzufügen kann: Mache Fotos (#6); Merkel geht weiter, und ich folge Wowereit zurück über die Brücke. Nach einer Weile wage ich es, ihn um ein Autogramm zu bitten, und erst später fällt mir ein, dass ich meine Serie »Unscharfe Bilder von mir mit berühmten Leuten« ganz vergessen habe.
Verpasse den Bus zur Pressetribüne am Brandenburger Tor, und als ich endlich dort ankomme, bin ich ziemlich durchnässt. Aber das Gute am Regen ist, dass die Menschenmengen überschaubar bleiben und man sich frei bewegen und Fotos machen kann. Außerdem muss man sich für Bratwurst und Glühwein nicht anstellen. Bewege mich frei; mache Fotos (#5, #7); kaufe Bratwurst und Glühwein. Höre prominenten Musikern beim Musikmachen zu und prominenten Politikern beim Reden.
Bilder jubelnder Menschenmengen von vor 20 Jahren erscheinen auf großen Leinwänden, und für einen Moment ist die Aufregung spürbar. Aber dann werden die Leinwände zu einem dunklen und verregneten Ort . Ein Mann streckt seine Arme zum Himmel und ruft zweimal: »Wo ist die Stimmung?« Trotz der hervorragenden Versorgung mit Bratwurst und Glühwein bleibt seine Frage unbeantwortet. Am Schutzzaun um die Dominosteine finde ich einen Platz in der ersten Reihe. Aber ich halte das Herumstehen nicht aus, und ich beschließe, in Bewegung zu bleiben. Begegne Touristen aus Wales, die sich offenbar ein besonderes Bierfiltrierungssystem ausgedacht haben (#8).
Schließlich, weit später als geplant, fallen die Dominosteine. Ich stecke in der Menge fest und kann nichts sehen, aber ich mache das Beste draus und halte die Kamera über den Kopf und drücke auf den Auslöser: Zumindest werde ich beweisen können, dass ich dabei war. Der Abend schließt mit einem Feuerwerk, was eine nette Idee ist, aber die Wolken hängen so tief, dass nur ein neblig roter Widerschein zu sehen ist, als die historische Veranstaltung zu Ende geht.
Die Leute machen sich auf den Heimweg; Dominosteine werden entfernt, und ich dokumentiere die Nachwirkungen des großes Ereignisses, bis mir ein Flaschen- und Dosensammler droht, weil ich ein Foto von seinen Plastiktüten machen will. Gehe zurück zum Pressezentrum, wo sich Günter Schabowski in einer Endlosschleife wieder und wieder durch die letzten paar Minuten einer folgenreichen Pressekonferenz arbeitet, die die Welt veränderte, oder die zumindest das Kennzeichen einer veränderten Welt war.

10. November
Ich wollte so viele Dinge tun und so viele Leute treffen: neue Ausstellungen alter Artefakte, Wiedererschaffung der virtuellen Mauer und eine große Ausstellung sowjetischer realistischer Kunst. Dann ist da noch das Ramones-Museum (»The coolest place on earth!«). Und ich wollte doch noch einen Pressesprecher wegen Merkels Aussage fragen, dass der 9. November der »glücklichste Tag der jüngeren deutschen Geschichte« sei: Warum wird so wenig von der älteren deutschen Geschichte gesprochen? Und wer ist hier für die Bratwurstverkaufszahlen zuständig?
Aber ich muss meinen Flug erwischen. Fotografiere die Gegend am Checkpoint Charlie, die in den vor-touristischen Stunden am frühen Morgen seltsam ruhig ist, und einen gut eingezäunten Teil der Mauer; schnelles Frühstück bei Martin, bevor ich meine Taschen packe und zum Flughafen fahre, besteige eine Maschine nach London und komme dem Ruhm erneut recht nahe: Ein paar Leute in der Sitzreihe hinter mir unterhalten sich darüber, dass sie in ganz Deutschland auf den Titelseiten waren, oder zumindest ihre Regenschirme.
Ich hoffe, Fotos von den berühmten Regen­schir­men machen zu können, und schaue mich um, als wir die Maschine verlassen, aber es sind keine in Sicht. Ich würde trotzdem gerne mit den Leuten reden, habe aber keine Zeit, wenn ich mei­nen Flug nach Boston erwischen will. Ich erreiche das Gate fünf Minuten, bevor es schließt, und erst später fällt mir ein, dass ich sie um ein Autogramm hätte bitten können, oder um ein unscharfes Foto mit mir. Es hätte bloß eine Minute gedauert.

Aus dem Amerikanischen von Martin Schuster