Die SPD hat eine neue Führung

Kein Platz zum Rucken

Die SPD hat eine neue Führung gewählt. Mit Sigmar Gabriel und Andrea Nahles soll alles anders werden. Bloß wie?

Die Situation darf man wohl ausweglos nennen. Da wird die SPD vor ihrem ersten Parteitags nach der desaströsen Niederlage bei der Bundestagswahl allenthalben angefeuert, einen »Neustart« zu wagen, »nach vorne zu blicken« und das politische Feld nicht mehr länger den Konkurrenten von links und rechts zu überlassen. Gleichzeitig wird die Partei in den maßgeblichen Medien davor gewarnt, eine »Linkswende« vorzunehmen und sich von der Politik der »Agenda 2010« der vergangenen sozialdemokratischen Regierungen zu verabschieden.

Jeder weiß, ein »Neustart«, der wirklich einer wäre, könnte nur durch eine »Resozialdemokratisierung der SPD« (Oskar Lafontaine) gelingen, durch eine Revision jener Politik, die maßgeblich dafür verantwortlich zu machen ist, dass die Partei nach elf Regierungsjahren die Hälfte ihrer Wähler verloren hat. Zurück zur Rente mit 65, Hartz IV abschaffen, für eine pazifistische Außenpolitik eintreten – das wären in der Tat einmal neue Töne. Jeder weiß aber auch: Eine solche SPD würde gnadenlos niedergeschrieben werden, Kanzlerin Angela Merkel, die sich längst als wahre Sozialdemokratin inszeniert, würde die Rest-SPD für übergeschnappt erklären, wahrscheinlich würde auch noch Peer Steinbrück medienwirksam sein Parteibuch zurückgeben. Die politisch-diskursive Ausgrenzung wäre total. Und die Bürger, die die SPD nicht mehr wählen, weil sie so unsozial geworden ist, würden sie dann erst recht nicht mehr wählen, weil sie in populistischer Manier »nicht finanzierbare Versprechungen« machen würde.
Stillstand bedeutet Tod. Aber bewegt sich die SPD, dann entweder dorthin, wo Merkel bereits ist – dieser Weg ist also versperrt –, oder ins mediale Aus, dorthin, wo die Genossen der Linkspartei mittlerweile sehnsüchtig auf Koalitionsangebote warten. Na und?, könnte man einwenden, sollen die Kommentatoren doch geifern, eine Politik gewinnt ihre Stärke immer noch aus sich selbst und nicht aus ihrer Darstellung in den Medien. Wenn die SPD als neue linke Partei erst einmal neu­es Selbstbewusstsein schöpft, dann vermittelt sich das auch nach außen.

Das Problem liegt aber tiefer. Selbst wenn die SPD wollte, kann sie sich gar nicht mehr »resozialdemokratisieren«. In den elf Regierungsjahren unter Gerhard Schröder und dann unter Merkel ist nicht einfach nur eine falsche Politik gemacht worden, die nun korrigiert werden könnte. Es ist etwas Grundsätzliches zerbrochen: die SPD als Partei, die ein großes Ziel vor Augen hat und dafür auch bereit ist, kontroverse innerparteiliche Debatten zu führen.
Heute ist die SPD de facto eine Honoratiorenpartei, deren Personalentscheidungen putschartig in Hinterzimmern ausgekungelt werden und in der bloß dann ein buntes Parteileben inszeniert wird, wenn es darum geht, Helfer für Wahlkampagnen zu gewinnen. Und das große Ziel? Das bestand einmal darin, den »kleinen Leuten« als Klasse zu mehr Wohlstand und Partizipation zu verhelfen. Auch nach ihrem Godesberger Parteitag von 1959, auf dem die SPD sich offiziell von einer Arbeiter- zur Volkspartei wandelte, zielte ihre Politik darauf, den Wohlstand der Gesellschaft dadurch zu heben, dass man insbesondere die Gruppe der Schwächeren kollektiv besser stellen wollte. Darin widerspräche diese Politik dem heutigen individualistischen Menschenbild des neoliberalen Kapitalismus. Dieses ist in seiner Ablehnung von gesamtgesellschaftlicher Lenkung und Solidarität so totalitär und regelrecht anti-gesellschaftlich, dass klassische sozialdemokratische Überzeugungen, wie sie mittlerweile von der Linkspartei vertreten werden, direkt systembedrohend wirken würden, auch wenn sie es inhaltlich natürlich nicht sind.
Die vergleichsweise reibungslose Durchsetzung dieser neoliberalen Agenda konnte in Deutschland nur die Sozialdemokratie garantieren, weil sie als das gute Gewissen der Demokratie galt und als Anwältin der »kleinen Leute« auftrat. Weil sie so hohes Ansehen genoss, trat sie dementsprechend rücksichtslos auf. Eine »Resozialdemokratisierung« käme demnach einem Autodafé gleich. Mehr noch: Eben weil das neoliberale Menschenbild dermaßen radikal ist, würde eine klassizistische SPD quasi zu einer systemoppositionellen Partei. Das ist in der Tat unvereinbar mit ihrem seit über 100 Jahren bekräftigten Anspruch, die wahre patriotische Kraft in und für Deutschland zu sein.
Aber, um den nächsten Einwand zu formulieren, ist nicht gerade Oskar Lafontaine das Paradebeispiel einer gelungenen Resozialdemokratisierung? Er hat mit seinen alten Vorstellungen doch augenscheinlich gebrochen, hat sich für viele glaubhaft nach links entwickelt, erzielt seine Erfolge trotz zahlreicher Hetzkampagnen. Warum sollte nicht die SPD, wenn denn der Wille da wäre, einen ähnlichen Weg wie ihr ehemaliger Vorsitzender einschlagen und auch Erfolg damit haben? Weil die Linkspartei längst dabei ist, die Schmuddelecke zu verlassen und mittlerweile »konstruktiv« in Landesregierungen mitarbeiten will. Kurzum: weil sie keine Systembedrohung darstellen will, sondern schlicht »die bessere Politik« machen möchte. Wie die aussehen wird, kann man längst an den Sparhaushalten des Berliner Senats erkennen. Eine sich »resozialdemokratisierende« SPD könnte folglich das absurde Ergebnis zeitigen, dass sie plötzlich links von der nach rechts rückenden Linkspartei stünde.
»Die Linke«, die sich als Partei zwangsläufig der Staatsräson unterworfen hat – sie nimmt an Wahlen teil, richtet darauf auch den ganzen Parteiapparat aus, ist bereit, in Parlamenten und Regierungen mitzuarbeiten und dafür Bündnisse einzugehen –, markiert aber auch den Rand des Erlaubten. Jenseits der »Linken« sind aus Sicht der herrschenden Öffentlichkeit bloß noch Terror, Irrsinn und Fundamentalismus möglich. Damit wird klar, dass es nicht nur Druck der Medien, Angst vor der organisatorischen Neuaufstellung und mangelnde politische Phantasie sind, die die SPD am »Linksruck« hindern. Es ist auch der Nationalismus, den jeder SPD-Vorsitzende und jedes einfache Mitglied subjektiv verinnerlicht hat.

So hat es auf dem Dresdner Parteitag den x-ten Akt jenes Stücks gegeben, von dem schon lange nicht mehr klar ist, ob es Tragödie oder Farce ist: Franz Müntefering spricht von einer selbstverschuldeten (Wahl-)Niederlage, benennt aber kaum inhaltliche Fehler. Sigmar Gabriel gibt ein bisschen den Schröder, ein bisschen den Brandt (Mehr innerparteiliche Demokratie wagen!) und weiß sogar, wie der Philosoph Habermas mit Vornamen heißt. Andrea Nahles spielt die Rolle der zur Co-Chefin aufgestiegenen Repräsentantin des so genannten linken Flügels, die alles tut, nur eben nicht ihren Flügel inhaltlich spürbar zu vertreten. Programmatisch werden ein paar wachsweiche linke Inhalte offeriert – ein bisschen Vermögenssteuer, ein bisschen Abzug aus Afghanistan. Eine Revision der Agenda 2010 findet nicht statt. Weil die Zuschauer wissen, dass mal wieder das Personal durchgemischt wird, aber sich sonst nichts ändert, sind die Umfrageergebnisse dementsprechend: Da ruckt nichts, auch nach dem Parteitag verharrt die SPD bei 20 Prozent der Wählerstimmen.
Zur Eigenart des deutschen Nationalismus zählt, dass Parteien entweder als »Volksparteien« gelten (wobei der rapide Verfall der SPD den schleichenden der CDU momentan noch verdeckt) oder als Vertreterin einer Klientel. Würde man in der Öffentlichkeit von zwei großen Strömungen sprechen – der rechten und der linken –, stünde die Sozialdemokratie, also SPD plus Linkspartei, gar nicht schlecht da. Die SPD ist zurzeit weder »Volkspartei« noch Vertreterin einer Klientel. Das Kunststück von Sigmar Gabriel wird darin bestehen, seiner Partei zu vermitteln, dass es auf wohl nicht absehbare Zeit bei Wahlergebnissen zwischen 20 und 25 Prozent bleiben wird. Insgeheim dürfte die gesamte Führungsriege der SPD, egal ob links, überfraktionell oder dem rechten Seeheimer Kreis verpflichtet, darauf hoffen, dass die großen Medien die Option Rot-Rot nicht länger stigmatisieren. Die Linkspartei jedenfalls gibt sich alle Mühe.