Der Streit um Steuersenkungen in der Bundesregierung

Armutsbeschleunigungspläne

Im Streit um Steuersenkungen und andere Maßnahmen erscheint die neue Regierung weitaus harmloser als befürchtet. Das dürfte sich ändern, wenn die längst beschlossene »Schuldenbremse« wirkt.

Vor der Bundestagswahl hatte es zum Standard­repertoire von Linken jeder Couleur gehört, vor den »sozialen Grausamkeiten« zu warnen, die eine schwarz-gelbe Regierung begehen würde, bekämen Union und FDP eine Mehrheit im Bundestag. Inzwischen warten alle darauf, dass es losgeht mit dem Privatisieren, dem Zusammen­streichen der Sozialleistungen und anderen Maßnahmen, wie sie vor allem der FDP zugetraut werden.
Die Ernennung Dirk Niebels zum Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Ankündigung des neuen Gesundheitsministers Phi­lipp Rösler, das Krankenversicherungssystem vollstän­dig umgestalten zu wollen, ließen erahnen, wessen Interessen künftig noch mehr als bisher gefördert werden könnten. Man rechnete mit dem Schlimmsten. Aber noch ist unklar, wann die so genannte Kopfpauschale eingeführt wird, und über­haupt scheint der Elan der FDP seit den Koalitionsverhandlungen merklich nachgelassen zu haben. Kleinlaut wird man wohl eingestehen müssen, dass für den ganz großen Wurf derzeit schlicht das Geld fehlt.

Was dennoch bei den Streitereien um Steuersenkungen deutlich wurde, ist die ideologische Wand­lung in der Krisenbekämpfungspolitik, die mit den neuen Mehrheitsverhältnissen einherging. Zumin­dest theoretisch scheint marktradikaler Wunderglaube an die Stelle rechtskeynesianischer Stützungspolitik getreten zu sein. Die beschlossenen Steuererleichterungen für Unternehmen und Bes­serverdienende sollen diese offenbar dazu animieren, mit Investitionen und endlosen Shopping­touren die Binnenkonjunktur anzukurbeln. Dazu merkte der als Keynesianer geltende »Wirtschafts­weise« Peter Bofinger trocken an: »Wohlhabende und Reiche strengen sich doch nicht mehr an, weil sie noch ein paar hundert Euro zusätzlich auf dem Konto haben.«
Die Sozialdarwinisten in der FDP und vereinzelt auch in der CDU/CSU sind zwar in der Minderheit gegenüber den »gemäßigt« Bürgerlichen um Merkel und Seehofer, die derzeit fast schon die bes­seren Sozialdemokraten abgeben. Doch bekanntlich wird bereits seit Sommer im Wirtschaftsministerium an Plänen gearbeitet, die, sollten sie realisiert werden, drastische Folgen für die Funktionsweise des Staats hätten.
Angesichts dessen vermutet man beinahe eine Strategie hinter der momentanen Zurückhaltung. Die schwarz-gelbe Koalition dürfte sich darüber im Klaren gewesen sein, dass SPDler, Gewerkschafter, Mitglieder der Linkspartei und sozialer Bewegungen geradezu darauf gewartet haben, gegen unsoziale Maßnahmen und Gesetze protestieren zu können. Möglicherweise wollte man der Opposition diesen Gefallen nicht tun und gestaltete auch deswegen das »Wachstumsbeschleunigungsgesetz« harmloser, als der beeindruckende Name vermuten ließ.

Sicher, die beschlossenen Vergünstigungen sind ganz vom Geist bürgerlicher Klientelpolitik beseelt, und es wird dreist als dem Allgemeinwohl dienend dargestellt, was den höheren Einkommensgruppen zugute kommt. So werden etwa »die Familien« in erster Linie durch höhere Steuerfreibeträge »entlastet«, die für jedes Kind von derzeit 6 024 auf 7 008 Euro steigen sollen. Davon profitieren die Besserverdienenden, weil nur sie eine so hohe Summe in ihrer Steuererklärung geltend machen können. Erst ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen in Höhe von mehr als 63 391 Eu­ro ist der Steuervorteil durch den Freibetrag größer als durch das zum Ausgleich um 20 Euro erhöhte Kindergeld.
Überdies sieht das »Wachstumsbeschleunigungsgesetz« zahlreiche Änderungen der von der Großen Koalition 2008 verabschiedeten Unternehmenssteuerreform vor. So soll es Firmen vereinfacht werden, Verluste steuermindernd geltend zu machen. Auch Erben kommen in den Genuss von Steuersenkungen, speziell Erben von Unternehmen. Übernachtungskosten werden in Zukunft nur noch mit sieben Prozent Mehrwertsteuer abgerechnet, was dem Hotelgewerbe zugute kom­men soll. Diese und andere Maßnahmen für jeweils bestimmte Gruppen belaufen sich auf insgesamt 8,4 Milliarden Euro, von denen noch nicht ganz klar ist, woher man sie nehmen will.
Laut dem Koalitionsvertrag sollen die Arbeitgeberanteile an den Krankenversicherungsbeiträgen ab 2011 nicht mehr steigen und alle Beschäftigten den gleichen Beitrag zahlen, egal wie viel sie verdienen. Auch für den Bildungssektor wurden Pläne geschmiedet, die auf eine Monetarisierung und den langfristigen Abschied von kostenloser Bildung hinauslaufen. So genannte lokale Bildungsbündnisse sollen »Bildungsschecks« zur Weitergabe an ärmere Kinder und Jugendliche erhalten. Zudem soll für jedes neugeborene Kind ein Konto mit einem Startguthaben von 150 Euro eingerichtet werden, auf das bis zu seiner Volljährigkeit Prämien eingezahlt werden. Außerdem planen Union und FDP ein Stipendiensystem und Anreize für Studienanfänger. Bildungsschecks, Bildungskonten, Prämien, Stipendien – wer da nicht hellhörig wird, ist offenbar vom Credit-Point-Unwesen des neuen deutschen Hochschulsystems schon desensibilisiert.
Zwar sind das bisher in erster Linie Absichtserklärungen. Auch harren solche und weitergehende Maßnahmen noch einer Legitimationsgrundlage. Absehbar ist jedoch, dass die in diesem Jahr von der Großen Koalition im Grundgesetz verankerte und nicht übermäßig beachtete »Schuldenbremse« so allerhand legitimieren wird. Schon im übernächsten Jahr muss demnach das strukturel­le Defizit gesenkt werden, bis 2016 darf es für den Bund nur noch knapp zehn Milliarden Euro betragen. Damit wird bewusst ermöglicht, mit dem Verweis auf grundgesetzliche Zwänge und die sehr theoretische Gefahr eines Staatsbankrotts sämtlichen Sozialklimbim loszuwerden.
Im ersten Schritt wurde die »Schuldenbremse« vereinbart. Jetzt werden Steuern, also die Staatseinnahmen, beträchtlich gesenkt. Umso größer wird der Zwang sein, ab 2011 die Ausgaben zusammenzustreichen. Das könnte auch Bereiche und staatliche Aufgaben betreffen, die bisher nicht zur Disposition standen.

Das Programm des Übergangs zum »schlanken Staat« wurde von Beamten aus dem Bundeswirtschaftsministerium in diesem Sommer erarbeitet, fiel vor einigen Monaten aus einer Schublade und trug den Titel »indus­triepolitisches Gesamtkonzept«. Nach heftigen Reaktionen distanzierte sich der damalige Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg von dem Dokument, zugleich kündigte jedoch einer seiner Mitarbeiter an, dass an dem umfassenden Konzept weiter gearbeitet werde. Die Verfasser haben in der Stoff­sammlung für beinahe jeden finanz- und wirtschaftspolitischen Bereich Forderungen aufgelistet, die darauf hinauslaufen, Unternehmen zu begünstigen, vor allem steuerlich.
Dagegen solle die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel, Zeitungen und Kulturgüter wieder angehoben werden. Auch in der Gesundheits- und Um­weltpolitik müsse die Politik der Wirtschaft weiter entgegenkommen, hieß es in dem Konzept. Konkret wird unter anderem vorgeschlagen, die gerade erst in Kraft getretene Unternehmenssteuerreform teilweise rückgängig zu machen und die Gewerbesteuer zum Vorteil der Unternehmer zu verändern. Außerdem müssten die Beiträge zu den Sozialversicherungen »soweit wie möglich von den Arbeitskosten entkoppelt werden«.
Was den Arbeitsmarkt betrifft, kritisierten die Ver­fasser Mindestlöhne als hinderlich für die Schaf­fung von Arbeitsplätzen und fordern mehr »Fle­xibilität« bei Arbeitsverträgen. Einiges davon findet sich in Ansätzen bereits im Koalitionsvertrag, anderes dürfte im nächsten Jahr zum Tragen kommen, wenn angesichts leerer Kassen und der »Schuldenbremse« das große Aufräumen beginnt.