Schüsse in Genick und Rücken
Das Leben von Elisabeth Käsemann könnte auch heute fast so verlaufen. 1947 als Tochter des evangelischen Theologen Ernst Käsemann in Gelsenkirchen geboren, ist sie bereits in ihrer Jugend politisch engagiert. Nach dem Abitur geht sie nach Berlin, um dort Politikwissenschaft und Soziologie zu studieren. 1968 reist sie für ein Praktikum nach Bolivien, von dort aus weiter nach Buenos Aires, wo sie ab 1971 lebt. In der Villa 31, einem Slum in der Nähe des Bahnhofs Retiro inmitten der argentinischen Hauptstadt, leistet sie Bildungs- und soziale Arbeit. Sie studiert Volkswirtschaft und arbeitet nebenbei als Übersetzerin.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist ihr Weg, wenn man so will, nicht ungewöhnlich für eine linke Internationalistin. Doch in Argentinien ist in den siebziger Jahren nichts normal. Vor allem die Gewerkschaften und die Studenten sind politisch engagiert und richten sich teils mit peronistischer, teils mit kommunistischer Überzeugung gegen die sozialen Missstände im Land. Schon unter der Regierung von Präsidentin Isabel Martínez de Perón werden Oppositionelle von halbstaatlichen terroristischen Gruppen gewaltsam bekämpft. Am 24. März 1976 setzt eine Militärjunta unter der Führung von General Jorge Rafael Videla die amtierende Präsidentin ab. Nach der Machtübernahme etablieren die Militärs ein System von geheimen Gefangenenlagern. Zehntausende Menschen werden gefoltert. Etwa 30 000 Personen verschwinden, unter ihnen auch Elisabeth Käsemann und weitere knapp 100 Menschen deutscher Herkunft.
»Zwischen dem 8. und 9. März 1977 wurde die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann von argentinischen Sicherheitskräften (…) entführt und in einer Kaserne in Buenos Aires/Argentinien interniert, wo sie in der Folgezeit gefoltert wurde. In der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1977 wurde Elisabeth Käsemann mit 15 weiteren Gefangenen mit angelegten Handschellen und einer Kapuze über dem Kopf (…) in den Ort Monte Grande in der Provinz Buenos Aires transportiert und dort unter Ausnutzung ihrer Arg- und Wehrlosigkeit durch Schüsse in Genick und Rücken aus unmittelbarer Nähe getötet«, schreibt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth in ihrem Ermittlungsbericht von 2001.
Der Fall von Elisabeth Käsemann wurde 1999 auf Initiative der Koalition gegen Straflosigkeit, einem 1989 gegründeten Zusammenschluss von Angehörigen deutscher desaparecidos neu aufgerollt. Unterstützt wurde die Organisation vom argentinischen Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel, verschiedenen Menschenrechts- und kirchlichen Gruppen sowie von Juristenorganisationen. Der Hintergrund: In Argentinien herrschten ab 1986 Amnestiegesetze, den Militärs konnte dort kein Prozess gemacht werden. So wurde der Umweg über die deutsche Gerichtsbarkeit gewählt, um zumindest in Teilen eine Aufklärung der Ereignisse und möglicherweise eine Verurteilung der Täter zu erreichen. Ähnliche Fälle gab es zu jener Zeit in Spanien, Italien und Frankreich.
Das transnationale juristische Handeln blieb nicht ohne Folgen. So gab es Auslieferungsgesuche gegen den früheren argentinischen General Guillermo Suárez Mason– der unter Verdacht steht, Elisabeth Käsemann ermordet zu haben –, gegen Jorge Rafael Videla, den ehemaligen Präsidenten der Militärjunta in Argentinien, sowie gegen den früheren Admiral Emilio Massera. Die argentinische Justiz lehnte zwar im Jahr 2007 die Auslieferungsgesuche aus Deutschland ab. Dennoch hat die Koalition gegen Straflosigkeit in den vergangenen Jahren die argentinische Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren können, und immer größere Segmente der Gesellschaft forderten, dass die Täter im eigenen Land verurteilt werden. Die Politik reagierte. Im August 2003 erklärten der argentinische Senat und der Kongress das Schlusspunkt- und das Befehlsnotstandsgesetz für verfassungswidrig. Diese Entscheidung wurde vom Obersten Gerichtshof 2005 bestätigt, wodurch der Weg für die Wiedereröffnung von Verfahren gegen die Militärs freigemacht wurde. Insgesamt sind derzeit etwa 1 000 Verfahren gegen mehrere hundert Beschuldigte anhängig. Gegen einige der Tatverdächtigen wurden Haftbefehle erlassen, einige wurden bereits verurteilt.
»Wir mussten nach Europa kommen, um Gerechtigkeit zu bekommen«, meint heute der argentinische Rechtsanwalt Rudolfo Yanzón. Ab dem 15. Dezember vertritt er die Kläger in den Fällen des geheimen Gefangenenlagers El Vesubio, wohin auch Elisabeth Käsemann verschleppt wurde. Neben den Angehörigen der Opfer tritt in diesem Fall auch die Deutsche Botschaft in Buenos Aires als Nebenklägerin auf. Sie setzt damit ein Zeichen gegen die Praxis der »Nichteinmischung in innere Angelegenheiten«, die sie während der Militärdiktatur gepflegt hatte.
Am 19. November begann der Prozess gegen die Verantwortlichen des größten Folter- und Gefangenenlagers der Militärs, der Escuela Superior de Mecánica de la Armada (Esma) am nördlichen Stadtrand von Buenos Aires. Das Verfahren wird wegen seines Umfangs und seiner Tragweite als »Mega-Causa« bezeichnet. Im Frühjahr 2010 sollen weitere Anklagen erhoben werden im Zusammenhang mit dem so genannten Plan Condor, dem länderübergreifenden Plan zur Verfolgung und Ermordung von Oppositionellen in ganz Lateinamerika.
Doch trotz einiger Erfolge ist die argentinische Justiz oft langsam, und das teilweise mit System. »Es besteht zwar kaum die Gefahr, dass die Verfahren nicht eröffnet werden, wohl aber, dass sie kein Ende finden und sich jahrelang hinziehen. Viele Richter, gerade in Argentinien, sind befangen. Politik und Justiz agieren nicht unabhängig voneinander«, sagt Yanzón. »Präsident Nestór Kirchner machte 2003 den Weg für die Verfahren frei«, fährt er fort. Es sei allerdings durchaus möglich, dass sich unter einer neuen Regierung ab 2011 das politische Klima schlagartig ändert und dass es zu weniger Verurteilungen kommt, als man sich erhofft hat. »Nach dem gewaltsamen Verschwindenlassen und der wahrscheinlichen Ermordung des Zeugen Jorge Julio López vor drei Jahren haben viele Überlebende Angst auszusagen. Es gibt kein wirksames Zeugenschutzprogramm«, erklärt der Anwalt.
Dabei gilt Argentinien im Vergleich zu den Nachbarländern Chile und Uruguay als engagierter in der juristischen Aufarbeitung seiner diktatorischen Vergangenheit. In Chile wurde zwar im September erstmals ein Verfahren gegen 129 Militärs der Diktatur unter Augusto Pinochet eröffnet, doch wie es nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember damit weitergeht, ist völlig offen. Der Kandidat des konservativen Wahlbündnisses, Sebastian Piñera, der gegen den Christdemokraten Eduardo Frei Ruiz-Tagle antritt, setzt auf das sofortige Ende des Prozesses und auf ein »Schlusspunktgesetz«, das künftige Verfahren verhindern soll. Auch in Uruguay, wo hohe Militärs im März immerhin zu Haftstrafen verurteilt wurden, herrscht juristische Unklarheit, nachdem sich eine Mehrheit der Bevölkerung im Zuge der Präsidentschaftswahlen vor einigen Wochen gegen die Aufhebung der bestehenden Amnestiegesetze ausgesprochen hat. Für den argentinischen Rechtsanwalt Rudolfo Yanzón steht deshalb fest: »Wir brauchen weiterhin internationale Beobachter und Unterstützung in den Prozessen, damit die Stimmen gegen die Strafverfolgung der Militärs sich nicht durchsetzen. Denn die Verbrechen gegen die Menschheit gehen die globale Staatengemeinschaft etwas an und nicht nur Argentinien oder seine Nachbarländer.«