Vilma Núñez im Gespräch über Menschenrechte und Repression in Nicaragua

»Ortega will sich rächen«

Vilma Núñez ist Sandinistin der ersten Stunde, doch heute wird sie von ihren ehemaligen Genossen verfolgt. In den sieb­ziger Jahren kämpfte die Anwältin in der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) in Nicaragua. Nach der Revolution 1979 ­arbeitete sie am Obersten Gerichtshof des mittelamerikanischen Landes. Heute leitet sie die Menschenrechtsorganisation CENIDH (Centro Nicaragüense de Derechos Humanos).

Früher kämpften Sie in der Guerillaorganisation FSLN, heute werden Sie vom Präsidenten Daniel Ortega und von der Regierungspartei FSLN verfolgt. Ein tragischer Wandel?

Natürlich bin ich über die Entwicklung in Nicaragua sehr frustriert. Dass Daniel Ortega mich verfolgen lässt, verletzt mich weniger. Sehr schmerzlich ist allerdings, dass mich heute Aktivisten der FSLN angreifen. Schließlich waren wir einmal Genossen und haben viel zusammen gemacht.
Über Daniel Ortega mache ich mir schon lange keine Illusionen mehr. Er war für mich spätestens erledigt, als bekannt wurde, dass er offensichtlich seine Stieftochter Zoilamérica Narvaez vergewaltigt hat. Ich war ihre juristische Vertreterin vor dem Interamerikanischen Gerichtshof und habe alle Vorwürfe geprüft. Viele Quellen bestätigten die Anklage. Ich wollte es selbst kaum glauben. Weil ich mich um Zoilamérica gekümmert habe, hat man mir in der FSLN alle Türen zugeschlagen. Heute bin ich nicht mehr in der Partei. Trotzdem hatte auch ich nach der Wahl ein bisschen Hoffnung, dass Daniel Ortega zumindest ein paar Verbesserungen im Land erreicht. Die Hoffnung war vergeblich.

Sie sprechen von der Menschenrechtssituation?

Ja. Die letzten drei Regierungen wurden von neo­liberalen Parteien gestellt, doch unter ihnen wurden die politisch-zivilen Menschenrechte mehr respektiert als unter den Sandinisten. Heute ist die Meinungsfreiheit eingeschränkt, wer an Demonstrationen teilnimmt, lebt gefährlich. Sie behandeln uns wie Gegner, die man angreifen und eliminieren muss. Sobald wir eine Demonstration planen, organisieren sie eine Gegendemonstration, um uns anzugreifen.

Wer geht gegen die Demonstrationen vor?

Es wurden grupos de choque geschaffen, also Schlägertruppen, die Aktivisten auf der Straße angreifen. Wenn nötig, können diese Leute die ganze Hauptstadt Managua stilllegen. Sie besetzen die Straßenkreuzungen. Wer trotzdem versucht durchzukommen, den attackieren sie. Diese Gruppen sind integriert in die Strukturen der FSLN, viele sind Mitglieder der Jugendorganisation Juventud Sandinista. Sie treten vermummt auf und bewaffnen sich mit Knüppeln. Oder mit Metallrohren, wie sie auch die Polizei besitzt und mit denen sie Gummikugeln, Klammern, Eisen oder Glas verschießen.

Vor allem die autonome Frauenbewegung steht im Visier der Regierung. Warum?

Die Frauenbewegung ist eine standhafte, kämpferische und konstruktive Bewegung. Sie hat sich schon früh von der FSLN abgespalten und hat immer sehr viel Wert auf Autonomie gelegt. Das ist Grund genug, gegen sie vorzugehen. Außerdem will Daniel Ortega sich dafür rächen, dass sie Zoil­américa unterstützt hat. Vor allem aber haben sich die Frauen radikal gegen das Verbot der so genannten therapeutischen Abtreibung gestellt, das die FSLN aus taktischen Gründen kurz vor der Präsidentenwahl 2006 mit ranghohen Mitgliedern des katholischen Klerus und den Konservativen im Parlament durchgedrückt hat.

Durch dieses Bündnis ist Ortega offenbar auch zum Christen geworden.

Seine Frau Rosario Murillo glaubt schon immer an die Magie. Dass Ortega jetzt bei jedem Auftritt Gott erwähnt, ist populistisch begründet. Das hat mit seiner Nähe zu Kardinal Obando y Bravo zu tun, dem einst größten Feind der Revolution. Ortegas Reden widersprechen der Verfassung, denn laut der ist Nicaragua ein laizistischer Staat.

Gibt es konkrete Angriffe auf Ihre Person?

Ja, neben Angriffen auf Demonstrationen war beispielsweise eines Tages mein Haus schwarz-rot angemalt worden, also in den Farben der FSLN. Jüngst erfuhr ich von einem Sprecher der Menschenrechtskommission, dass es eine Schwarze Liste gebe, auf der Vertreter der Zivilgesellschaft und Vertreterinnen der Frauenbewegung stünden. Auch ich sei auf dieser Liste, und unser Leben sei gefährdet.
Zu unserem Schutz hat die uns wohlwollend gesinnte Polizeichefin dauerhaft Wachposten vor unserem Büro aufstellen lassen. Es hat sich wirklich viel verändert. Früher gab es in Nicaragua trotz allem einen Raum, um die Menschenrechte zu verteidigen. Die Situation war nicht vergleichbar mit der in Kolumbien, Guatemala oder El Salvador. Heute können wir das nicht mehr sagen.

Und wie rechtfertigen die Sandinisten solche Angriffe auf ehemalige Mitstreiter?

Sie diffamieren uns. Wir sind die wichtigste Menschenrechtsorganisation im Land und verfügen national und international über große Glaubwürdigkeit. Dennoch behaupten sie, wir würden nicht für die Menschenrechte kämpfen. Daniel Ortega erklärt regelmäßig, wir seien politische Gegner, Vaterlandsverräter, Agenten des Imperialismus. Das verbreitet er in den von ihm kontrollierten Medien. Jeder Verrückte kann das dann entsprechend aufgreifen.

Was will er mit diesen Angriffen erreichen?

Daniel Ortega ist dem Diskurs des Kalten Krieges verhaftet. Er sucht ständig Feinde, mit denen er sich streiten kann: Journalisten, NGO, Menschenrechtsverteidiger oder Diplomaten, die USA oder die EU. Er will damit seine Leute bei Laune halten. Sie sollen glauben, er würde die Revolution retten oder diese Revolution wiedererwecken.

Stichwort Revolution: Ortega betont, dass mit dem Gesetz zur Bürgerbeteiligung Bürgerräte geschaffen worden seien, die eine Mitbestimmung der Bevölkerung fördern würden.

Diese Bürgerräte kontrolliert seine Frau über den Kommunikationsrat, der die gesamte Öffentlichkeitsarbeit im Griff hat. Rosario Murillo regelt, was wann und wo gesagt wird und wann man besser schweigt. Sie kontrolliert damit de facto alle Instanzen der Bürgerbeteiligung und der Basisorganisierung, die im Rahmen dieses Gesetzes entwickelt wurden. Auch früher gab es kaum Möglichkeiten, sich effektiv an der Politik zu beteiligen, heute sind es noch viel weniger.

Aber immerhin kann Ortega auf Erfolge hinsichtlich der Bildung, des Gesundheitssystems und der Armutsbekämpfung verweisen.

Zugegeben: Die FSLN hat ein schweres Erbe angetreten, als sie an die Regierung kam. Ihre Vorgänger waren neoliberal orientiert. Öffentliche Aufgaben waren privatisiert, die Sozialausgaben gekürzt worden. Das führte dazu, dass das Gesundheits- und Bildungswesen zusammenbrach. Ortega versprach, das zu beenden, und hat damit hohe Erwartungen hervorgerufen. Er initierte Programme wie »Hambre Cero« (»Null Hunger«). Zudem schuf er Maßnahmen gegen Analphabetismus und für eine kostenfreie Gesundheitsversorgung.
Aber de facto hat die Regierung nicht das Geld, um das alles zu finanzieren. Das Hambre-Cero-Programm ist heute ein Desaster. 75 000 Familien sollten davon profitieren, real wurde das Projekt bislang nur zu neun Prozent umgesetzt. Ähnlich sieht es mit der Bildung, dem Kampf gegen Analphabetismus und der Gesundheitsversorgung aus.
Das ist aber nicht das Schlimme, mit gutem Willen kann man das als Fehlplanung durchgehen lassen. Das Problem ist, dass diese Programme nichts mehr mit ihren Zielen zu tun haben. Die Hilfe kommt nicht dort an, wo Menschen sie brauchen. Die Projekte wurden benutzt, um jene zu unterstützen, die mit der FSLN verbunden sind. Es geht darum, Leute an die Partei zu binden. Das bestätigen auch internationale Gremien wie die UN-Welternährungsorganisation FAO: Die Maßnahmen sind gezielte politische Aktionen, die die Situation der Menschen nicht verbessert haben.

Also werden jene bevorzugt, die die Regierungspartei unterstützen?

Ja. Ein anderes Beispiel: Ortega hatte sein Wahlversprechen gehalten und den Staatsangestellten einen sicheren Arbeitsplatz verschafft. Aber vorher wurden 17 000 Leute entlassen. Nicht, um öffentliche Ausgaben zu senken oder den Apparat schrumpfen zu lassen. Nein, diese Leute wurden einfach durch Parteitreue ersetzt. Ortega stellt Menschen ein, weil sie auf seiner Seite stehen. Er entließ die Gesundheitsministerin, weil sie mit einem FSLN-Gewerkschaftsführer aneinander geriet. Die Kulturministerin musste gehen, weil sie kritisiert hatte, dass Ortega dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez ein Manuskript des Schriftstellers Rubén Dario geschenkt hatte.
Alle Staatsangestellten werden quasi gezwungen, in die Partei einzutreten. Es gibt eine Rekrutierung der Partei über den Staat. Der Chef überreicht ihnen ihren Mitgliedsausweis. Uns liegen zahlreiche Anzeigen von Leuten vor, die entlassen wurden, weil sie nicht in die FSLN wollten. Andere mussten den Ausweis annehmen, um nicht gefeuert zu werden. Die Ministerien überwachen, dass diese Menschen zu Demonstrati­onen gehen.

Politisch begründete Entlassungen, der Kampf gegen »imperialistische Agenten« – das erinnert an Venezuela. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung in Nicaragua und der engen politischen Anbindung Ortegas an Chávez?

Natürlich. Daniel Ortega ist eine Marionette von Chávez, er ist dessen Resonanzkörper in Mittelamerika. Auf der Basis seiner wirtschaftlichen Macht will Chávez in der Region die Führung übernehmen. Wir arbeiten mit venezolanischen Organisationen zusammen und erhalten von ­ihnen viele Informationen über Menschenrechtsverletzungen, die denen in Nicaragua ähnlich sind.
Ich will Chávez nicht absolut disqualifizieren. Er hat eine wichtige Rolle gespielt, etwa bei der Entwicklung in Bolivien oder Ecuador. Er kommt bei Leuten an, die sich zurecht von der US-Politik angegriffen fühlen. Aber mit Blick auf Nicaragua ertrage ich ihn nicht. Er behandelt uns wie einen armen Familienangehörigen. Außerdem fördert er die Korruption im Land. Chávez stellt Nicaragua Ressourcen bereit, obwohl er genau weiß, dass diese Gelder nicht in den Staatshaushalt gehen, sondern in Parallelhaushalte. Es werden damit Unternehmen unterstützt, die der Familie von Ortega gehören.
Ich weiß, dass ich mit solchen Aussagen ein Risiko eingehe. Vielen, die Hoffnungen auf Chávez setzen, weil er sich gegen die USA stellt, gefällt das nicht. Aber ich denke so, ich bin davon überzeugt, und deshalb muss ich das so sagen.