Ein Besuch in einem »Asylhotel« in Brüssel

Die Insel der Wartenden

In Belgien sind viele Flüchtlingsszentren überfüllt. Deshalb mietet die staatliche Asylbehörde Zimmer in Hotels an und bringt dort Asylbewerber unter. Die Auberge Autrichienne in Brüssel ist eines von diesen »Asylhotels«. Ein Besuch in einem außergewöhnlichen Provisorium.

Draußen wird es dunkel. Der Abend ist kalt, doch die Tür zur Straße steht wie immer offen. Niemand hatte den fliegenden Händler kommen sehen. Der kleine Chinese trägt einen Hut und zieht einen Rollwagen hinter sich her durch den Gang. Seine watschelnden Schritte finden erst Beachtung, als er das leere Buffet erreicht. Beiläufig greift er in seine Taschen, holt ein paar billige Plüschhunde hervor und zieht sie auf. So unbeholfen wie ihr Herrchen tänzeln sie kopfwackelnd zu blecherner Kirmesmusik über die Anrichte. Das kleine Mädchen am Ecktisch freut sich trotzdem. Die drei Frauen neben ihr auch. Schnell hat der Händler sie in ein Verkaufsgespräch verwickelt. Eigentlich ist das an diesem Ort ein zweckloses Unterfangen, das weiß er. Doch dann klinkt sich vom Nachbartisch aus der Nachtportier ein. Nach kurzem Feilschen dackelt einer der braunen Hunde zu dem Mädchen.

Die Auberge Autrichienne ist ein schlichtes Zwei-Sterne-Hotel nahe dem Bahnhof Bruxelles Midi. Pushta, der junge Rezeptionist, der soeben den Spielzeughund ersteigert hat, erreicht seinen Arbeitsplatz nur, indem er sich bückt. Nicht etwa aus Ehrfurcht vor König Albert II., dessen Porträt hinter der Rezeption an der Wand hängt, sondern weil die Tresenklappe sich nicht mehr öffnen lässt. Kleine Probleme bringen hier niemanden aus dem Gleichgewicht. Wieso auch, wenn der Betrieb seit Monaten aus dem Takt geraten ist?
Eigentlich bietet das Hotel Geschäftsreisenden und Wochenendtouristen Unterkunft. Doch seit im Mai die staatliche Asylbehörde Fedasil erstmals zwei Zimmer für einige Flüchtlinge anmietete, ist die Zahl der Asylbewerber, die hier eine Unterkunft finden, stetig gestiegen. »Hier«, sagt Pushta und zeigt auf die Rezeptionsliste, »alle markierten Zimmer sind von Fedasil. Derzeit haben sie 18 von 25. 55 Flüchtlinge wohnen hier, Männer, Frauen, und Kinder.«

In Belgiens Flüchtlingszentren gibt es seit einem Jahr keinen Platz mehr. Die Zahl der Asylanträge ist hoch, wozu nicht zuletzt die aktuelle Regularisierung von Altfällen beiträgt. Die Regierung bemühte sich um neue Kapazitäten, zwischenzeitlich brachte man Asylbewerber sogar in Obdachlosenheimen unter. Im Frühjahr griff man erstmals auf Hotels in der Hauptstadt zurück. Ein halbes Jahr später leben mehr als 1 100 Flüchtlinge in 20 Gasthäusern. Ein Provisorium im Provisorium gewissermaßen, denn natürlich will die Regierung diesen Zustand so schnell wie möglich beenden. Bis Jahresende sollen 1 200 neue Auffangplätze in Flüchtlingszentren entstehen. Nur hinter vorgehaltener Hand sagt man bei Fedasil, dass die Hotelunterbringung für noch mehr Neuanträge sorgte. Unterdessen muss die Belegung der Zimmer nicht nur auf deren Verfügbarkeit abgestimmt werden, sondern auch auf die Profile der Asylbewerber. Fedasil versucht, jeder Familien ein Zimmer zu geben. Alle anderen werden gemischt untergebracht. Für zahlreiche Flüchtlinge ist das Hotelhopping im Großraum Brüssel angesichts ungewisser Rahmenbedingungen ein Lotteriespiel.
Die Auberge Autrichienne scheint dabei hoch im Kurs zu stehen. »Dieses Hotel ist wirklich gut. Die Besitzer und die Rezeptionisten sind freundlich. Sie helfen uns, wo sie können«, sagt Sara, die aus Gabun kommt und bereits zum dritten Mal in einem Hotel unterkommt. Einen Monat habe sie in einer Filiale der Hotelkette Formule1 draußen am Flughafen Zaventem verbracht, das ist mit rund 200 Flüchtlingen eines der großen Asylhotels. »Dort behandelten uns die Rezeptionisten wie Tiere«, klagt Sara. »Gab es ein Problem, holten sie gleich die Polizei. Und einmal kam eine Frau von einer Hilfsorganisation vorbei, um sich nach unseren Lebensbedingungen zu erkundigen. Da riefen sie sofort die anderen Hotels an, um sie vor ihr zu warnen.«
Sara wartet hier nicht nur auf die Entscheidung über ihren Asylantrag. Bereits vor zwei Tagen hätte ihre Tochter geboren werden sollen. »Ich habe gerade ziemlich starke Wehen«, erzählt sie. Woher die groß gewachsene Frau mit dem Turban das Lachen holt, bleibt ihr Geheimnis. Vielleicht beruhigt sie der Umstand, dass das Krankenhaus Saint Pierre, in dem sie ihr Mädchen zur Welt bringen will, im Nachbarbezirk liegt. Vom Flughafen aus hätte sie eine ganze Stunde bis dorthin gebraucht. Also ist sie froh mit dem, womit sie ohnehin Vorlieb nehmen muss. Zwar hat Sara nicht immer warmes Wasser, doch dafür bewohnt sie ein Zimmer allein mit ihrem Mann.
Saras Hände spielen mit dem langen, goldenen Schlüssel, der vor ihr auf dem Tisch liegt. Daneben zeugt eine leere Suppenschüssel von der Harira, die sie gerade gegessen hat. Während des Ramadan wird hier jeden Abend eine Fastensuppe gekocht. Einer der wichtigsten Vorzüge der Auberge ist, dass die Flüchtlinge die Hotelküche benutzen dürfen. »Von einem Sechs-Euro-Gutschein am Tag wird eine schwangere Frau nicht satt«, sagt sie und lacht schon wieder. Auch die gelegentliche Versorgung durch eine Gruppe der NGO Médecins sans Frontières reicht nicht aus. Wenn Sara etwas fehlt, geht sie ins Krankenhaus. Doch immerhin muss sie nicht mehr im Lager wohnen. Dort habe sie sich im Sommer eine Infektion eingefangen, erzählte sie. Dann zog sie wegen des Platzmangels ins Hotel.
Draußen auf den Gehsteigen ist es voll geworden. Nachtbetrieb im Ramadan: Teesalons und Tajine-Stuben sind brechend voll. Die Avenue de Stalingrad ist ein maghrebinischer Mikrokosmos, der einst mit den herbeigerufenen Arbeitsmigranten entstand und sich im Laufe der Jahre verfestigte, als die Gastarbeiter sich dauerhaft niederließen.
Die in der Auberge Untergebrachten hat dagegen niemand gerufen. Die Menschen, die hier wohnen, gehören zu einer anderen Kategorie von Fremden. Der Kontakt zwischen den beiden Gruppen beschränkt sich auf die Einlösung der Lebensmittelgutscheine, die von den Gemüsehändlern der Umgebung als Ersatzwährung akzeptiert werden. Ansonsten sind die alten Migranten in ihrem staubigen, undeklarierten Ghetto zwar nicht sonderlich gut gelitten, doch auf ihre eigene Weise etabliert.
Die Auberge, wo die Neuankömmlinge wohnen, liegt an der belebtesten Ecke des Viertels, doch die wenigsten tauchen darin ein. Eher bleibt man im Frühstücksraum hängen, in dem sich bis vor zwei Jahren ein österreichisches Restaurant befand. Eine absurde Vorstellung, wie sich habsburgische Küche in diesem Couscous-Atoll behaupten sollte. Und so machten die Betreiber vor zwei Jahren den Laden dicht, um sich fortan allein dem Hotel zu widmen, das einst österreichischen Truppen Unterkunft und Verpflegung bot. Heute ist hier das Wohnzimmer der Versprengten. Ein permanenter Warteraum, in dem unter Kronleuchtern und Stuck das Frühstück gereicht wird. Am Rest des Tages bietet es durchgehend warme Sitzplätze, einen Fernseher, Kaffee und Tee oder Milch für die Kinder.
Ein dicker Teppich schluckt die Geräusche derSchritte im schwach beleuchteten Treppenhaus. Im ersten Stock sitzt ein Mann auf dem Flur. Reglos, mit hochgezogenen Schultern und gebeugtem Kopf. Vielleicht schläft er. Es gibt Gründe, die Nacht auf dem Gang zu verbringen. Ganz sicher in Zimmer Nummer 15, wo jeder Bewohner aus einem Krisengebiet kommt: Kurdistan, Irak, Afghanistan. In diesem Raum sieht es nicht anders aus als in einem Flüchtlingszentrum. Fünf Männer in einem Doppelzimmer. Derjenige, der als letzter dazu kam, bekommt nur eine Matratze auf dem Boden. Zwischen den Betten liegen Kartons mit Lebenssmitteln, auf denen das Logo der Europäischen Union prangt. Milchflaschen umrahmen das Telefon auf dem Nachttisch.

»Entschuldige die Unordnung. Zu fünft können wir diesen Raum nicht mehr sauber halten«, sagt Hassan zur Begrüßung. Und es gibt wahrhaftig Wichtigeres zu tun. Rauchen zum Beispiel, zur Beruhigung. Vor zwei Monaten eröffneten schiitische Milizen in Bagdad das Feuer auf den 40jährigen, »weil sie mich für einen US-Spion hielten«, erzählt er. Er verlor eine Niere, sein Leben behielt er gerade noch, und genau so knapp konnte er fliehen. Doch seine Frau und Kinder weiß er in Bagdad und keineswegs in Sicherheit. Unter Tränen zeigt der bärtige Mann erst auf seinen Ehering, dann auf die Zigarettenpackung, bevor er schließlich nach dem Feuerzeug greift. Er raucht und hustet ununterbrochen.
Das offene Fenster verspricht den Nichtrauchern Linderung und ist doch ein neuer Fluch. Die Schienen des 300 Meter entfernten Bahnhofs Bruxelles Midi verlaufen direkt hinter der Seitenwand des Auberge. Wer hier ein Zimmer mit Bad hat, kann bei der Morgentoilette den Pendlern auf die Zeitung schielen. Nur in den Stunden vor der Dämmerung setzt der Lärm der fahrenden Züge aus, ansonsten ist es immer präsent. Draußen bewegt sich die Welt, das Hotel dagegen erscheint als eine Insel der Wartenden in einem bewegungslosen Meer, das Asylverfahren heißt. Offenes oder geschlossenes Fenster? Rattern oder Rauch?
Draußen tut sich die Avenue de Stalingrad schwer mit dem Aufwachen. Die Teesalons bleiben geschlossen, in den Gemüseläden gibt es nur eine Notbereitschaft, und auch im Frühstücksraum herrscht Stille. Zumal zwei Sanitäter eben das achtjährige Mädchen einer Sudanesin abholten, das seit einem Tag Lähmungserscheinungen hat und jedes Essen verweigert. Erst Madame Filipa bleibt es vorbehalten, der Szenerie neues Leben einzuhauchen. Die Sizilianerin ist seit 20 Jahren hier angestellt. Sie betritt die Auberge mit einer Mischung aus Energie und Mitgefühl. Sie küsst Pushta zum Schichtwechsel auf die Wangen, scherzt mit Sara, ob ihr Kind noch immer nicht kommen wolle. »Wieviel Tage bist du drüber?« fragt sie. »Jetzt drei«, antwortet Sara. Mit weißer Schürze und ausladenden Gesten weist Madame Filipa einem jungen Iraki seinen Platz an. »Saddam Hussein«, ruft sie ihn quer durch den Raum. Er grinst. Madame Filipa lacht. »Ich bin hier die Chefin«, fügt sie hinzu.
Offiziell liegt das Kommando in der Hand von Zarina Nayani, einer kleinen kurzhaarigen Frau, die ein türkises Kleid und dezenten Goldschmuck trägt. Sie nimmt im Frühstücksraum Platz unter dem schief hängenden Ölgemälde eines Strandes und erläutert ihre Betriebsphilosophie. »Für uns sind die Flüchtlinge Gäste wie alle anderen«, beginnt sie. »Natürlich helfen wir, wo wir können«, sagt Zarina. Doch die täglichen Handgriffe, die Zubereitung des Frühstücks und die Zimmerreinigung, all das geschehe mit der größten Selbstverständlichkeit und nicht minder professionell, als seien die Gäste Geschäftsreisende. Im Übrigen verdiene sie 30 Euro pro Nacht und Asylbewerber. Das sei weniger als sonst, doch die Überbelegung vieler Zimmer gleiche das wieder aus. »Finanziell hilft der Deal mit den Flüchtlingen«, sagt die Besitzerin.
Doch gerade weil es auch ums Geschäft geht, sorgt Zarina sich inzwischen um ihren Ruf. Dass Fedasil nicht ewig drei Viertel ihrer Zimmer mieten wird, ist ihr klar. Und dann sei ein Image als »Asylhotel« auf Dauer nicht eben geschäftsfördernd. Neben wirtschaftlichem Interesse und Menschlichkeit kommt eine dritte Komponente hinzu: Zarina und ihr Mann kamen in den sieb­ziger Jahren aus Pakistan nach Belgien. Dass 2009 im Auberge niemandem ein Glas Wasser verwehrt wird, hängt damit zusammen. Auch die Angestellten des Hotels sind Migranten, und das prägt das Verhältnis zu den Flüchtlingen: »Alle kennen schwierige Situationen in verschiedenen Ländern. Und dann wissen wir natürlich auch, wie es ist, hier fremd zu sein.«

Es ist Mittag. Die meisten Gäste haben sich auf ihre Zimmer begeben, die alltägliche Passivität lastet auf der Stimmung. Sara hat immer noch Wehen, die Zimmerdecke fällt ihr auf den Kopf, sie hadert mit einem Leben, in dem die Austeilung der Essensgutscheine den Höhepunkt der Woche markiert. Im Wohnzimmer trifft sie auf einen jungen Mann mit gescheiteltem Haar, elegantem weißen Hemd und beiger Stoffhose. Auch Jan Habibullah ist dieser Zustand unerträglich. Daher schaut er nur noch nach vorne, was soll er auch anfangen mit den alten Geschichten aus Kandahar, von den Taliban, die ihn bedrohten, festhielten und als letzte Warnung sein Haus niederbrannten? Wie seinem Zimmernachbarn Hassan haftete auch ihm der Vorwurf an, ein Kollaborateur der Amerikaner zu sein.
Jan, der sein gepflegtes Englisch Privatunterricht verdankt, übersetzte in der Taliban-Hochburg für die US-Truppen. Nun ist er der Dolmetscher in der Auberge. In drei Wochen, so lange wohnt er hier, hat er Arabisch gelernt und sein Farsi verbessert. Er begleitet seine Schicksalsgenossen zum Arzt und aufs Amt, und als einziger hier durchstreift er die Straßen der Umgebung. Ein niederländisches Paar, das er im Hotel traf, ließ sich von ihm Tipps geben. Auch ohne Geld geht Jan in Cafés und Galerien, zieht durch Geschäfte und Basare, spricht Menschen an, schließt Bekanntschaften. Er ist entschlossen, ein neues Leben zu beginnen und seine Frau und die Kinder nachkommen zu lassen. Die Auberge ist hilfreich dabei und doch Teil des Problems. Niemand bringt diese ambivalente Situation so treffend auf den Punkt wie Jan. »Die Leute hier sind sehr gut zu uns. Wir leben wie eine Familie in diesem Hotel. Aber eins ist klar: Niemand ist zu seinem Vergnügen hier.«