Ein Porträt der Schriftstellerin Isabelle Azoulay

German Schmerz

Ein Gespräch mit Isabelle Azoulay über weibliche Gewaltphantasien, die deutsche Schmerzreligion und den Hass auf die Medizin.

Vor kurzem ging wieder einmal die Klage durch die Presse, dass in Deutschland immer weniger »natürliche Geburten« stattfänden. Verbreitet wird sie regelmäßig zur Vorweihnachtszeit vom Deutschen Hebammenverband und anderen Interessenverbänden im Namen mütterlichen »Gesundheitsschutzes«. Medizinische Eingriffe wie der Kaiserschnitt werden hierzulande nach wie vor als »unnatürliche« Praktiken angesehen, die Mutter und Kind schädigten und daher so weit wie möglich zu vermeiden seien. Dass in Deutschland mittlerweile dennoch jedes dritte Kind durch Kaiserschnitt zur Welt gebracht wird und die Gefahren für das Neugeborene immer stärker reduziert werden konnten, wird ebensowenig zur Kenntnis genommen wie der ausdrückliche Wunsch vieler Frauen nach einem solchen Eingriff. Eine Geburt ohne brachialen Gebärschmerz gilt als ungesund und wird nicht zu den »natürlichen Geburten« gerechnet.
Von solchen und anderen Kuriositäten im Umgang der Deutschen mit dem Schmerz weiß Isabelle Azoulay zu berichten. Die 1961 geborene deutsch-französische Soziologin, die inzwischen als Schriftstellerin in Berlin lebt, hat bei Alfred Lorenzer und Volkmar Sigusch in Frankfurt studiert und repräsentiert eine Tradition der kritischen Sozialpsychologie, die durch den gegenwärtigen Siegeszug von Verhaltensforschung und Neurologie immer mehr an den Rand gedrängt wird. Promoviert hat Azoulay mit der 1996 erschienenen Arbeit »Phantastische Abgründe«, einer Studie über weibliche Gewaltphantasien, 1998 erschien »Die Gewalt des Gebärens«, ihre »Streitschrift wider den Mythos der glücklichen Geburt«. Die Themen beider Arbeiten hat die Autorin zwei Jahre später in dem bei Aufbau erschienenen Band »Schmerz« zusammengeführt. Keines dieser Bücher hat eine breitere Rezeption erfahren, einschlägige Fachbibliotheken wie die der FU Berlin führen die Titel nicht. Wohl auch wegen des öffentlichen Schweigens, mit dem ihren Arbeiten begegnet worden ist, hat Azoulay vor einigen Jahren ins belle­tristische Fach gewechselt: Ihr zweiter Roman »Josty«, eine Liebesgeschichte aus dem Berlin des 19. Jahrhunderts, ist gerade im Berliner Elfenbein Verlag erschienen, der bereits ihr Debüt »De Gaulle und ich«, eine Verbindung von historischem Roman und Erinnerungsbericht, veröffentlicht hat.
Eine Gemeinsamkeit zwischen ihren literarischen und soziologischen Arbeiten sieht Azoulay in der Auseinandersetzung mit den Funktionen des Gedächtnisses. Um die Frage, wie sich Erinnerung ins Individuum einzeichne, gehe es im Grunde bereits bei der Beschäftigung mit dem Schmerz, in dessen Erfahrung sich Natur und Gesellschaft verdichteten. In ihrem ersten Buch habe sie versucht, der Gleichsetzung von weiblichen Gewaltphantasien mit realen Ge­walterfah­rungen zu widersprechen, wie sie in der dama­ligen Frauenbewegung populär gewesen sei: »Phantasien haben einen anderen Status im Leben der Menschen als reale Erfahrungen. Deshalb können Gewaltphantasien weder einfach als Reflex von Gewalterfahrungen noch als verdrängter Wunsch verstanden werden. Die Phantasie des Überwältigtwerdens, ein wesentlicher Bestandteil sexueller Phantasien, hat nichts mit Vergewaltigung zu tun.« Die Vorstellung von der Frau als »sanftem Wesen«, wie sie auch in der Friedens- und Ökobewegung der achtziger Jahre verbreitet gewesen sei, habe bei vielen Frauen Scham über die eigene erotische Besetzung von Gewaltphantasien befördert, statt zu einem neuen Selbstbewusstsein zu führen. Insofern sei ihr Buch gar nicht gegen die Frauenbewegung gerichtet gewesen, sondern gegen deren Selbstverrat im Namen eines Befindlichkeitspathos, das Azoulay als deutsche Besonderheit ansieht: »Dieser grausame Stoizismus, das Verleugnen eigener abgründiger Phantasien, aber auch eigenen Schmerzes, ist in Frankreich weitgehend unbekannt.«
Aufgefallen seien ihr die Unterschiede in der Behandlung von Schmerz erst während der Recherchen zu ihrem zweiten Buch, berichtet Azoulay: »Da sich in Frankreich wegen der Zen­tralisie­rung der Verwaltung sehr viel besser Materialien über die Geschichte der Anästhesie und der Gesundheitsversorgung aufspüren lassen, habe ich viel Zeit in dortigen Archiven verbracht. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Franzosen mit meinem Interesse an der Verbindung von Schmerzkult und Hass auf die Medizin oft gar nichts anzufangen wussten.« Umgekehrt sei sie in Deutschland wegen ihrer positiven Haltung zu Medizin und Pharmazie als »Französin« abgestempelt worden. »In Frankreich gebe man ja schon Kleinkindern bedenkenlos Medikamente, hieß es dann, von dieser Naivität sei wohl auch ich beeinflusst.« Während ihre Thesen bei Medizinern und Psychiatern mitunter großes Interesse erregt hätten, sei die Aufmerksamkeit für ihre Arbeiten im akademischen Bereich gering gewesen. Eine besondere Antipathie habe sie während ihrer Recherchen gegenüber dem Hebammenstand entwickelt: »Von Ausnahmen abgesehen, sind die Hebammen in Deutschland in ihrem Selbstverständnis tendenziell reaktionär und sadistisch – mit ihrer Begeisterung für ›natürliche‹ Geburten, ihrer Verherrlichung des Kreatürlichen, ihrer Warnung vor ›künstlichen Eingriffen‹ und ihrem Appell, nur wer den Gebärschmerz ›zulasse‹, könne eine gute Beziehung zu seinem Kind entwickeln.«
Dabei findet Azoulay für die Geburtserfahrung und für die Beziehung der Mutter zum Neugeborenen, das gewickelt werde, »als würden wir eine eigene Wunde verarzten«, in ihrem Buch bezwingende Formulierungen und ist keine Propagandistin inhumaner Apparatemedizin. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist vielmehr die simple Feststellung, dass sich im Schmerz ein einziger Wunsch ausdrücke: »Er soll mit allen Mitteln aufhören!« Was immer diesem Wunsch zugute komme, sei zunächst einmal zu befürworten. Die Schmerzreligion dagegen sehne sich in der Lebenswirklichkeit ebenso sehr nach einem »Aushalten« von Schmerz, wie sie die lustvolle Besetzung von Schmerz in sexuellen Phantasien exorzieren wolle. In der Entfaltung dieser Schizophrenie besteht ein Hauptmotiv von Azoulays Arbeiten, die wohl auch deshalb in Deutschland kaum beachtet worden sind. Trotzdem ist ihr Wechsel zur Literatur nicht als Ausweichmanöver zu verstehen. Im Gegenteil greifen ihre literarischen Werke, vor allem »De Gaulle und ich«, Elemente der vorigen Arbeiten auf: Das Buch erzählt die Geschichte marokkanischer Juden kurz vor ihrem, durch den Siegeszug der antisemitischen Rackets verursachten Exodus. Azoulay, die einer Familie sephardischer Juden entstammt und hier einen Teil ihrer biografischen Vorgeschichte behandelt, ist sich des antisemitischen Impulses durchaus bewusst, der der Verherrlichung von »Natürlichkeit« und den Verschwörungstheorien über die »Vergiftung« des menschlichen Körpers durch die Medizin latent schon immer innewohnt. Dass sie ihre Kritik nicht auf diesen Zusammenhang verkürzt, ihn aber ständig präsent hält, zeugt für die Verbindung von Prägnanz und Sachlichkeit, die ihre Bücher auszeichnet.

Bücher von Isabelle Azoulay:
Phantastische Abgründe. Die Gewalt in der sexuellen Phantasie von Frauen. Brandes und Apsel, Frankfurt/M. 2003, 157 Seiten, 15,50 Euro
Die Gewalt des Gebärens. Streitschrift wider den Mythos der glücklichen Geburt. List, München 1998, vergriffen.
Schmerz. Die Entzauberung eines Mythos. Aufbau, Berlin 2000, vergriffen.
De Gaulle und ich. Elfenbein, Berlin 2008, 180 Seiten, 19 Euro
Josty. Eine Liebe zwischen Berlin und Sils Maria. Elfenbein, Berlin 2009, 149 Seiten, 19 Euro