Comics und Pädagogik

Belehrung in Bildern

Im bürgerlichen Haushalt galten Comics lange Zeit als ebenso lustvolle wie gefährliche Lektüre. Seit sich die Pädagogen ihrer angenommen haben, soll auch dieser Spaß ein Ende haben.

Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz weiß besser als jedes Jugendamt, was Kids von heute cool finden. Um junge Menschen vor den Abgründen des Extremismus zu warnen, hat man eine Comicserie für Jugendliche produziert. Bereits drei Folgen sind von »Andi – Tage wie dieser« erschienen. Die Titelfigur, ein zirka sechzehnjähriger Knabe, sieht sich darin gemeinsam mit seiner Clique dem Zugriff wechselnder »extremistischer Gruppen« ausgesetzt.
Im ersten Teil der Heftserie ging es um Rechtsextremisten, im zweiten um Islamisten – wohlunterschieden vom Islam als »Religion« – und im vorerst letzten Band um die linke, autonome Szene. Jede dieser Gruppierungen beschäftigt, folgt man dem naiven Plot der Comics, eine Reihe von Bauernfängern, deren alleinige Aufgabe darin besteht, unwissende Jugendliche für ihre böse Sache zu ködern. Sie kennen die pubertären Bedürfnisse, die man bedienen muss, um junge Menschen zu verführen, und manipulieren sie gnadenlos. Die Rechten bedienen sich hierfür geheimnisvoller Abzeichen, von deren wahrer Bedeutung Andis Freunde natürlich keine Ahnung haben, bei den Linken ist es vor allem die abgeranzte Kleidung, die der Sehnsucht nach jugendlicher Rebellion entgegenkommt. Nur das Glücksversprechen der Islamisten lässt sich offenbar nicht so simpel veranschaulichen. Diese appellieren, so legt der Zeichner nahe, vor allem an das Ressentiment benachteiligter Migranten.
Verbindendes Bildsymbol aller Comics ist das Kopftuch von Andis Schulfreundin und heimlicher Liebe Ayshe, die die eigentliche Heldin der Hefte ist: Im ersten Teil figuriert sie als Opfer der Nazis, im zweiten als Kämpferin für kulturelle Gleichberechtigung und im dritten als unbestechliche Kritikerin linker Gewalt. Murat, der männliche Migrant in Andis Clique, wird als kindlicher HipHopper dargestellt, Andis Kumpel Ben als Punk mit violetten Haaren. Andi selbst ist, wie viele Hauptfiguren in narrativen Comics, die farbloseste Gestalt, der gute Junge von nebenan. Mit seinem platten Extremismusbegriff, seiner anbiedernden Jugendsprache und seiner drögen Story ist der Comic in linken Blogs und Internetforen verständlicherweise schnell zum Debatten-Highlight avanciert. Abgesehen von der auffallend harmlosen Darstellung des Islamismus, bietet er freilich wenig Neues und ist politisch ebenso uninteressant wie ästhetisch trivial.
Aufschlussreich ist er jedoch als prägnantes Beispiel für einen Trend, der sich bereits in den achtziger Jahren abzuzeichnen begann und heute massenwirksam geworden ist: die Pädagogisierung des Comics. Die jugendpsychologischen Klischees, mit denen die Verfassungsschützer aufwarten, sind die vorerst letzte Schwundstufe eines Verarmungsprozesses, in dessen Folge eine einst als subversiv und kulturrevolutionär geltende Gattung zum bevorzugten Medium paternalistischer Belehrung ­geworden ist. Zunehmend werden Comics auch von Schulen, Parteien und Kultureinrichtungen aller Art als »jugendgerechtes« Aufklärungsmedium entdeckt.
Seinen historischen Ursprung hat der pädagogische Comic weniger, wie man annehmen könnte, in den Bilderbüchern der Schwarzen Pädagogik wie dem »Struwwelpeter« als im dezidiert linken Kinder- und Jugendbuch. Ein Ahnherr der linken Jugendaufklärung war der so­zialdemokratische Volksschullehrer und Literaturpädagoge Heinrich Wolgast, der in seiner erstmals 1896 erschienenen Schrift »Das Elend unserer Jugendliteratur« die »Schund- und Schmutzliteratur« für Jugendliche anprangerte, als deren gefährlichsten Vertreter er damals Karl May ansah. Die sich in exzessiven Schilderungen phantastischer Abenteuer ergehenden Bücher, so Wolgast, stimulierten eine »Lesewut«, die die jungen Menschen geistig und moralisch verwahrlosen lasse. Als Gegenmittel empfahl er eine »ästhetisch wertvolle« Jugendliteratur, die die pubertären Bedürfnisse des Nachwuchses ernstnehme und im Sinne moralischer Läuterung zu formen wisse. 1986 wurde ein von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gestifteter Literaturpreis nach Heinrich Wolgast benannt, mit dem bis heute »pädagogisch hochwertige« Kinder- und Jugendbücher ausgezeichnet werden. In den achtziger Jahren hatte auch jene politische Jugendliteratur Hochkonjunktur, die hauptsächlich in der »Rotfuchs«-Reihe des Rowohlt-Verlags erschien und mit der mehrere Generationen von Schülern im Deutschunterricht gequält worden sind. Aus derselben Zeit stammen die ersten systema­tischen Versuche, den Comic pädagogisch zu instrumentalisieren, etwa Gabriel ­Nemeths damals bekannte Comicreihe zu Themen wie Menschenhandel (»Sklaven«, 1983) oder Kriegspolitik (»Rüstung«, 1984).
Schon die ersten Comics, die gezielt in Schulen als Mittel »jugendgerechter« Aufklärung eingesetzt wurden, folgten einer modernisierten Variante von Wolgasts Jugendpädagogik. Junge Menschen sollten von populären Lesestoffen, die als bedrohlich galten, nicht mehr einfach ferngehalten, sondern durch sie im »progressiven« und »humanistischen« Sinn geformt werden. Wie das Kinderbuch infolge dieser pädagogischen Indienstnahme immer phantasieloser und ästhetisch ärmer geworden ist – man denke an die sprachliche Einfallslosigkeit der Bücher eines Klaus Kordon –, so konnte der Comic nur durch Banalisierung seiner ureigenen Formsprache zum Schulinventar erniedrigt werden. Besonders drastisch lassen sich die Folgen dieser Veränderung an Themen studieren, deren ästhetische Bearbeitung von vornherein problematisch ist.
So sind seit der Kanonisierung von Art Spiegelmans »Maus« eine Reihe von Holocaust-­Comics auf den Markt gekommen, die künstlerisch weit hinter Spiegelmans Bearbeitung zurückfallen, aber gerade diese Regression als eine Form »jugendgerechter« Bearbeitung ausgeben. Zu den bekanntesten gehört der in Deutschland 2007 erschienene Comic »Die Suche« des niederländischen Zeichners und Geschichtslehrers Eric Heuvel, der auch für verschiedene Fanzines und Illustrierte arbeitet. Die Ausgangssituation der Geschichte scheint zunächst ähnlich zu sein wie bei Spiegelman: Die Jüdin Esther, die den Holocaust überlebt hat, erzählt ihrem Enkel Daniel wichtige Etappen ihrer Biographie, die dann als Rückblenden veranschaulicht werden. Die Umsetzung der Story zeigt jedoch, dass der Bezug auf Spiegelman rein rhetorisch bleibt. Wo Spiegelman mit Verfremdungen arbeitet, antisemitische Stereotype wie Mensch-Tier-Vergleiche in Bildform zu fassen versucht und die Chronologie der Ereignisse zersplittern lässt, bedient sich Heuvel ganz unmittelbar des realistischen Stils der »klaren Linie«, hält sich an die Abfolge der Ereignisse und durchsetzt seinen Comic mit »historischen Informationen«, so dass am Ende nicht mehr übrig bleibt als ein auf jugendlich getrimmtes, illustriertes Geschichtsbuch.
Ebenso wie seinen Vorgänger »Die Entdeckung«, der Episoden aus der Geschichte der Niederlande zur Zeit des Nationalsozialismus ­erzählt, hat Heuvel »Die Suche« als Auftragsarbeit gezeichnet. Kooperationspartner war die Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam, deren Vorgaben sich Heuvel nach eigenem Bekunden »völlig untergeordnet« hat. Zielgruppe der Comics sind, ähnlich wie bei »Andi«, Vierzehn- bis Sechzehnjährige, die den Comic vor Veröffentlichung sogar im Rahmen schulischer Projekte »testen« durften. Heuvels Comics haben in den Niederlanden Rekordauflagen erreicht. »Die Entdeckung« erschien in einer Auflage von 350 000 Stück, von »Die Suche« wurden 200 000 Exemplare auf den Markt gebracht. Inzwischen sind beide ins Englische, Deutsche, Polnische und Ungarische übersetzt worden. Ähnlich populär wurde Pascal Crocis 2005 erschienener Band »Auschwitz«, der bei der Bebilderung historischer »Fakten« noch dreister vorgeht als Heuvel. Croci nennt ausdrücklich »Schindlers Liste« als Vorbild seiner Arbeit, baut unmarkierte Bildzitate aus Lanzmanns »Shoah« in seine Zeichnungen ein und situiert die Rahmenhandlung – wiederum erinnern sich zwei Opfer des Nationalsozialismus an ihre Vergangenheit – während des Jugoslawienkriegs, um vermeintliche Parallelen zwischen beiden Epochen deutlich zu machen. Auch Croci sieht seine Aufgabe nicht in der ästhetischen Artiku­lation einer historischen Erfahrung, sondern in der Bebilderung von »Fakten«, und betont die »Recher­chearbeit«, die seinem Comic zugrunde liege.
Heuvels und Crocis Umgang mit dem Holocaust als Comic-Gegenstand verweist auf die Gefahr, die gerade politisch gut gemeinten, didaktisch versierten Versuchen der ästhetischen Auseinandersetzung mit Geschichte innewohnt. Anders als bei Spiegelman, dessen Versuch, gerade eine als niedrig und popkulturell geltende Gattung für die Beschäftigung mit der Shoah einzusetzen, noch ein wahrhafter Tabubruch war, besteht das Skandalon solcher Comics darin, dass sie alles richtig machen und jede Provokation vermeiden wollen. Es sind sozusagen Comics mit eingebautem Jugendschutz, die eben deshalb weder den Ansprüchen ihrer eigenen Form noch denen ihres Gegenstandes gerecht werden. Nicht zufällig gibt es in fast allen pädagogischen Comics lange Passagen mit Informationstexten, die diskursiv erläutern sollen, wie der Comic »richtig« zu verstehen sei, und dadurch nur unterstreichen, dass hier die Künstler ihrer eigenen Form nicht über den Weg trauen. Der Comic wird dabei ästhetisch so weit ausgehöhlt, bis von seinen Ausdrucksmöglichkeiten nur noch seine Verwendbarkeit als »jugendliche« oder »subkulturelle« Gattung übrigbleibt.
Neben den Niederlanden, in denen es eine lange Tradition pädagogischer Kinder- und Jugendkunst gibt und aus denen die Mehrzahl pädagogischer Comics kommt, ist Deutschland Vorreiter bei der Verschulung des Comics. Auch politische Stiftungen interessieren sich neuerdings für ihn. So hat die Konrad-Adenauer-Stiftung im vergangenen Jahr den interkulturellen Comic »Afrique Citoyenne« vorgestellt, der in Zusammenarbeit mit einer senegalesischen Partnerorganisation als Teil eines Entwicklungshilfeprojekts entstanden ist. Dieser Comic, von dem mittlerweile mehr als ein Dutzend Folgen herausgebracht wurden, erzählt von einer Gruppe junger Senegalesen, die wahlweise gegen das Waldsterben, den Klimawandel, gegen Zwangsheirat und Aids kämpfen, und wird in mehreren afrikanischen Ländern als Schullektüre eingesetzt. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat für kommenden März eine ganze Tagung über »Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Comics« angekündigt, auf der über die Frage nach dem pädagogisch sinnvollen Einsatz der Gattung ebenfalls diskutiert werden soll. Unter anderem wird es dort auch um »rassistische und antisemitische Stereotype in ­Asterix und Lucky Luke« gehen. Dass der pädagogische Wert des Comics neu entdeckt wird, während »unpädagogische« und »künstlerische« Comics gleichzeitig vermehrt auf ihre »Ideologie« hin analysiert werden, sind nur zwei Seiten desselben Kanonisierungsprozesses, in dessen Folge etwa auch der »literarische«, hochkulturelle Comic unter dem Titel der »Graphic Novel« neue Aufmerksamkeit erfährt. In Vergessenheit gerät der Comic dabei gerade in seinem ursprünglichen Gebrauchswert, als lustvoller Gegenstand jener »Lesewut«, die sich weder um Didaktik noch um Politik kümmert und die schon Wolgast bekämpfen wollte. Die pure Langeweile der meisten pädagogischen Comics berechtigt aber immerhin zu der Hoffnung, dass seine Zielgruppe sich diese Wut auch künftig nicht abgewöhnen lassen wird.

Die Comics von Eric Heuvel sind zu beziehen über den Onlineshop des Anne Frank Zentrums www.annefrank.de. Die »Andi«-Comics kann man unter www.andi.nrw.de bestellen