Die »Jungles« der Migranten in Calais

Das Leben nach dem Jungle

Als die französische Polizei im Herbst ein großes Flüchtlingscamp bei Calais räumte und mit Bulldozern zerstörte, sollte das der Anfang vom Ende der illegalen Einreise nach England sein. Drei Monate später leben viele Transitmigranten noch immer in der Hafenstadt am Ärmelkanal, wo immer neue »Jungles« entstehen.

Man kann die Geschichte von Calais anhand der Geschichte des Ärmelkanals erzählen. Die örtliche Historikervereinigung Les Amis du Vieux Calais tat dies im November mit einem internationalen Kolloquium. »Die Überfahrt von Frankreich nach England vom Mittelalter bis heute«, hieß eine Ver­anstaltung, deren Plakate noch einige Wochen später in der Hafenstadt aushängen. Viel mehr als solche Überfahrten passiert hier nämlich nicht. Das europäische Festland liegt nirgendwo anders so nah bei Großbritannien wie an der Straße von Dover. Die kaum 30 Kilometer entfernte Küste Englands ist an klaren Tagen mit bloßem Auge sichtbar, und die Fähren haben hier eine Frequenz wie andernorts Regionalzüge. Der nahe Eurotunnel bietet außerdem seit 15 Jahren eine schnel­le Verbindung für Züge und Autos. Dem jüngsten Kapitel der Geschichte von Calais nähert man sich am besten, indem man die Brachen inspiziert. Die erste liegt einige Kilometer südlich der Stadt an der Ausfahrt des Dorfs Sangatte. Eine betonier­te Freifläche zwischen den umliegenden Feldern erinnert an das Flüchtlingslager, das vom Roten Kreuz an dieser Stelle im Jahr 1999 errichtet wurde. In kürzester Zeit zog es Zehntausende Glückssucher an. Von hier aus wollten sie nach England gelangen, versteckt auf einem Truck, mit der Fähre oder dem Zug. Im Jahr 2002 wurde das chronisch überfüllte Lager, das schnell zum Symbol für in Europa bis dahin ungekannte humanitäre Desaster wurde, auf Druck aus Großbritannien hin geschlossen.
Wenn die Bewohner der Reihenhaussiedlung, die gegenüber der Brache entstanden ist, in Richtung Meer schauen, sehen sie nur noch ein Fundament.
Die zweite Brache ist frischer. In der Zone In­dus­trielle Des Dunes, gleich hinter dem Fährhafen, erstreckt sich zwischen einem kleinen Elek­tri­zi­tätswerk und einem Busdepot ein wahres Schlacht­feld aus gefällten Bäumen.

Die Spuren der Bulldozer haben sich tief in den nassen Sand gegraben. Sie werden gesäumt von Brettern, Paletten und Plastikplanen. Das sind die Überbleibsel der erbärmlichen Behausungen, die sich im so genannten Jungle von Calais befanden, einem Elendscamp, das vor einigen Monaten zum neuen Sinnbild für das Flüchtlingsdrama am Ärmelkanal wurde.
Zerknüllte Hosen und Pullover, verschimmelnde Schlafsäcke und Matratzenspiralen zeugen heute noch von dem Polizeieinsatz, mit dem die französische Regierung die Siedlung im September dem Erdboden gleichmachte. Kurz zuvor hatte das Gelände noch rund 1 000 Menschen beherbergt. Die Hälfte von ihnen war jünger als 18.
»Ein Zeichen gegen Schlepperbanden« wollte man setzen, gegen das »Gesetz des Jungle«, welches hier nach den Worten des französischen Immigrationsministers Éric Besson herrschte. Vor allem wollte Frankreich beweisen, dass es nun endlich ernst machen und der illegalen Kanal­überquerung ein Ende setzen würde. Im Sommer hatten die französische und die britische Regierung ein Abkommen unterzeichnet. Es sieht die Verstärkung der gemeinsamen Grenzkontrollen vor, die Durchführung einer erhöhten Anzahl von Abschiebungen und den Einsatz neuer High-Tech-Geräte. Bis Ende des Jahres, sagte Besson damals, werde Calais, wo zwei Drittel der versuchten Einreisen nach Großbritannien ihren Ausgang nehmen, »wasserdicht gegen illegale Migration«. Die offiziell knapp 300 Bewohner des Camps, die bei der Räumung verhaftet wurden, sollten nur der Anfang sein. Ihre planierten Unterschlüpfe landeten auf den Titelseiten der internationalen Presse. Wenn der Kanal die Stadt bekannt gemacht hatte, brachten die Bulldozer ihr Weltruhm.
In den vergangenen zehn Jahren kehrten in der Gegend um Calais gewisse Gesetzmäßigkeiten ein. Wenn in der Stadt die Bedingungen zu hart wurden, verlagerte sich das Geschehen an andere Orte. Als das Camp in Sangatte geschlossen wurde, nahmen die »Jungles« – davon gab es mehrere – seine Stelle ein, und auch die »Squats«, wie die von Migranten provisorisch bewohnten verlassenen Gebäude genannt werden. Auf der Karte der Transitmigration tauchten auch andere Hafenstädte auf, wie Boulogne weiter südlich oder Dunkerque im Norden, aber auch die belgischen Seebäder Ostende und Zeebrugge.
In den vergangenen Monaten wiederholte sich dieses Phänomen. Migranten zogen die Küste hinunter bis nach Caen und Cherbourg. Auch im Hinterland bei Lille gibt es inzwischen provisorische Camps in strategischer Nähe zu LKW-Parkplätzen. Da die Zerstörung des »Jungle« von Calais zuvor angekündigt wurde, sind mehrere hundert Bewohner in Paris untergetaucht. Viele haben sich vorübergehend in einem Park nahe der Gare de l’Est niedergelassen.
Andere wählen näher liegende Alternativen. An einem zugigen Wintermorgen taucht eine Gestalt aus dem Buschland am Rande der Brache auf, die einst der »Jungle« war. Der Afghane hat ein furchiges Gesicht und trägt eine dunkelblaue Mütze, eine Jogginghose und einen Parka. Früher wohnte er hier. Nun tritt er unvermittelt in die neue Szenerie. Er deutet mit einer scharfen Handbewegung den Kahlschlag an und sagt nur: »Finished.« Langsam geht er weiter. Hinter dem Gelände liegt eine Straße. Er überquert sie und verschwindet auf der anderen Seite zwischen den Bäumen. Ein anderer Waldstreifen, ein neuer »Jungle«. Die Festnahmen häufen sich in letzter Zeit. Irgendwann kommen die Bulldozer immer.
Die Brache ist Teil eines Kreislaufs, der vom stetigen Zufluss der Verzweifelten aus Kriegsgebie­ten wie Afghanistan, Irak und dem Horn von Afrika am Leben gehalten wird.

»Noch am Abend der Räumung kamen neue Migranten in Calais an«, erzählt Chiara Lauvergnac, eine Aktivistin des internationalen No-Border-Netzwerks, die in London lebt. Wie einige weitere Mitglieder aus England und Frankreich ließ sie sich im Herbst in Calais nieder. Die Aktivisten patrouillieren nachts in den Straßen der Stadt, denn auch die Polizei tritt meist im Dunkeln oder in der Morgendämmerung in Erscheinung. In einem Blog dokumentiert No Border die Entwicklung, seit der »Jungle« planiert wurde. Es ist eine Chronologie von Gewalt und Willkür. Beinahe täglich wird von Festnahmen und Räumungen von Camps, Brücken und leer stehenden Häusern berichtet, die den Migranten als Unterschlupf dienten. Die Weltpresse verschwand nach zwei Ta­gen wieder aus Calais, die Repression ging weiter. »Die Menschen hier finden keine Ruhe«, sagt Lauvergnac. Bis 40 Migranten werden täglich festgenommen und meist nach kurzem Gewahrsam wieder ausgesetzt.Wenn sie danach zurück zu ihren Unterkünften kommen, finden sie diese in der Regel zerstört vor.
Nabi und Ahmadi haben allmählich Übung darin, die Teile, die noch brauchbar sind, wieder zusammenzusetzen. In den vergangenen Tagen bekamen sie regelmäßig rabiaten Besuch, abends um neun Uhr, oder morgens um sieben, manchmal auch abends und morgens. »Jedes Mal kommen fünf oder sechs Polizeiwagen. Die Beamten treten uns, sie versprühen Tränengas. Sie zerstören die Zelte und Decken und alles, was sie finden können.« Die Spuren der vergangenen Nacht sind noch frisch. Verkohlte Bretter, die Beine eines Stuhls und Besteck liegen zwischen zwei niedrigen Bäumen im Gras, nur 100 Meter von der Stelle, an dem sie ihr neues Lager aufgebaut haben.
Der so genannte Hasaren-Jungle ist das kleinste der verschiedenen Camps in Calais, die in der Regel nach Nationalitäten oder Sprachen getrennt sind. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz, dem sich nur wenige der dort anwesenden Migranten entziehen. Sechs Angehörige der Farsi sprechenden Minderheit aus Zentralafghanistan haben sich in den Dünen beim verlassenen Hovercraft-Terminal niedergelassen. Auf der einen Seite begrenzt ein grotesk idyllischer Nordseestrand das Areal. Auf der anderen führt die Straße an einem Wald aus grellweißen Zäunen entlang vom Fährgelände ins Zentrum der Stadt. Vor ein paar Monaten noch inspizierten die Bewohner hier unverhohlen die Trucks, die im schleppenden Verkehr den Check-in ansteuerten. In diesem Winter dagegen sind die Seitenstreifen bis auf sporadisch auftauchende Passanten verwaist.
Die Lage im »Hasaren-Jungle« ist symptomatisch für die Situation am Kanal. Solange der Strom der Migranten nicht abreißt, werden die strengeren Kontrollen vermutlich nur dazu führen, dass die Verzweifelten, die sich in Calais stauen, langfristig ein neues festes Camp errichten werden. Wenn der Druck zu groß wird, schaut niemand so genau hin. »Darum kündigte Besson eine Woche vorher an, dass der ›Jungle‹ zerstört würde«, erzählt ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation Association Salam. »Und in dieser Woche schafften es 800 Flüchtlinge nach England, so viele wie sonst nie.« Auch die Berichte von fast 300 Festnahmen bei der Räumung seien stark übertrieben. Schließ­lich koste die Unterbringung und gegebenenfalls Abschiebung der Migranten Zeit und Geld, die der Staat lieber spare. Dasselbe gelte für die im Dublin-II-Abkommen vorgesehenen »Rückführungen« in die Länder, die die Migranten bei der Einreise in die EU zuerst betraten. Im Fall der Afghanen, Iraker und Ost­afrikaner, die in Calais festsitzen, sind das meist Italien oder Griechenland. Frankreich kommt der Vereinbarung, die Migranten in diese Länder auszufliegen, kaum nach. Griechenland seinerseits nimmt längst nicht von allen Migranten die Fingerabdrücke, um jene, die aus den nördlichen Mitgliedsstaaten abgeschoben werden, nicht zurücknehmen zu müssen. Reguliert wird der Transitbereich nur mit Worten. In der Tat heißt die Devise Elendsverwaltung – mit einem stetig steigenden Maß an Repression.

Es ist dieser festgefahrene Zustand, der Maureen McBrien an den Kanal gebracht hat. Kosovo, Kongo, Rwanda, Calais – die bisherigen Einsatzorte der Mitarbeiterin der Flüchtlingskommission der Vereinten Nationen (UNHCR) vermitteln einen Eindruck von der Dimension, die das Transitdrama angenommen hat. Seit Juni ist das UNHCR per­manent in der Stadt. Im Herbst übernahm die US-Amerikanerin die Leitung. Viele der Migranten haben ihrer Ansicht nach durchaus Chancen auf einen legalen Aufenthalt in Frankreich. Sie darüber zu informieren, ist Maureen McBriens Auftrag. Mit ihrem afghanischen Assistenten besucht sie die »Jungles« und die »Squats« der Umgebung. Nicht ohne Resultat, wie sie sagt, denn »immerhin haben 267 Migranten aus Calais im letzten halben Jahr in Frankreich Asyl beantragt«.
Für die überwiegende Mehrheit von ihnen aber steht das nicht zur Diskussion. Schon allein nicht wegen der mehrmonatigen Ungewissheit, die ein Asylantrag in Frankreich mit sich brächte, von einer Ablehnung gar nicht zu reden. Also bleiben viele Migranten freiwillig außerhalb des Asylsystems und haben keinerlei Recht auf Unterstützung. Daher kommt Maureen McBrien zu einer dras­tischen Einschätzung. 13 Jahre lang registrierte sie in UN-Lagern Flüchtlinge, in der ehemaligen Sowjetunion, auf dem Balkan und in afrikanischen Kriegsgebieten. »Aber die Zustände hier sind schlimmer als alles, was ich irgendwo anders gesehen habe. Gerade weil die Menschen hier auf Hilfe aus der Zivilgesellschaft angewiesen sind.«
Diverse Unterstützungsgruppen bestreiten die Notversorgung in Calais. In einem riesigen Wa­renhaus verteilen Nonnen und christliche Hilfsorganisationen am Wochenende Kleider und Schuhe. Die No-Border-Aktivisten, die sich eigentlich vor allem politisch mit der Abschottung der »Festung Europa« beschäftigen, haben nach den Verhaftungswellen in diesem Winter ein Notdepot errichtet, das Tag und Nacht offen ist und Decken ausgibt. Eine Gruppe von 15 Ärzten des städtischen Krankenhauses bietet seit 2004 gratis medizinische Versorgung in einer Baracke am Autobahnzubringer an. Der Notfallarzt Mohamed al-Mouden hat sich an die Krankheitsbilder gewöhnt, die Mangelernährung, Kälte und unzureichende Hygiene mit sich bringen. Verbreitet sind vor allem Hautinfektionen, Parasitenbefall, Bronchialkrankheiten, seit dem vergangenen Jahr gab es auch fünf Fälle von TBC.

Man blickt auf ein weites, von einem grünen Zaun begrenztes Gelände im schäbigen Hafenviertel. Dieser Hof ist der einzige Beitrag der Stadt zur an­sonsten von ehrenamtlichen Trägern geleisteten Hilfe. Im Herbst wurde der Hof den verschiedenen Gruppen zur Verfügung gestellt, die drei Mal täglich Essen an Migranten verteilen. Sechs nagelneue Wasserhähne stehen zur Verfügung, die Toiletten sind jedoch nur für die freiwilligen Helfer reserviert. Immerhin darf die Polizei während der Essensausgabe keine Verhaftungen vornehmen. Die Streifen beschränken sich auf musternde Blicke im Vorbeifahren. Neben den Mahlzeiten dient das Gelände auch zur Kontaktaufnahme zwischen Migranten und Unterstützern. Letztgenannte erfahren, wer unter welchen Umständen festgenommen wurde und in welcher Unterkunft gerade was gebraucht wird. Oder dass in der vorigen Nacht drei jungen Afghanen die Flucht nach England gelungen ist. Der älteste war 14, der jüngste elf Jahre alt.
Den Männern, die an diesem Abend in einer ver­lassenen Schreinerei um das Feuer sitzen, steht dieser Schritt noch bevor. Seit ihr Camp unter freiem Himmel im Herbst geräumt wurde, haben die Sudanesen Zuflucht gefunden in einer riesigen Halle an den Bahngleisen in Richtung Eurotunnel, die seit Jahren Migranten aus Eritrea als Unterkunft dient. »African Squat« wird sie nun ge­nannt. Hier rückt man zusammen und sitzt dennoch weit auseinander. Drei Feuer brennen in den Ecken des 600 Quadratmeter großen Gebäudes. Um eines scharen sich die Sudanesen, um ein weiteres die Äthiopier, um das dritte Feuer sitzen die Eritreer. Der Rest der Halle liegt in völliger Fins­ternis. Plastikbarrieren stehen um den aufgerissenen Boden in der Mitte, der als Abfallgrube dient. Das Werkstatt-Tor lässt sich nicht mehr schlie­ßen. Immerhin hat ein Baumarkt einige alte Paletten gespendet. Trockenes Brennholz wird knapp im dauerfeuchten Winter am Kanal.
Steven, der wie fast alle an diesem Feuer aus Darfur stammt, hat seine Socken zum Trocknen ausgezogen und wärmt seine Füße an den Flammen. Auf einem Rost über dem Feuer steht eine undichte Plastikflasche, in der das Wasser für den Tee erwärmt wird. Der Topf wird an diesem Abend an einem anderen Feuer gebraucht. »Das einzige, was man hier nicht teilt, sind die Fluchtpläne«, meint Steven. Keiner weiß, wer wann die Flucht versucht. »Man erzählt niemandem davon. Wenn schon, dann ruft man später von England aus an.« Jemand kippt Zucker in das Wasser. Leise zischt es. »Es kommt vor, dass einer aus der Gruppe nur kurz in die Stadt geht, und dann sehen Sie ihn nie wieder«, sagt er. Die anderen nicken. Zwei Tage später ist Steven verschwunden.