Die Kunst von Christian Boltanski

Hans und Franz

Die Kunst von Christian Boltanski handelt nicht von Biografie und Erinnerung, sie stellt sie in Frage. Eine kurze Einführung.

Auf den Flohmärkten, wenn sie nicht gerade edel »antik«, sondern schön schäbig sind, findet man die Briefe und Bilder von Verstorbenen. Es sind Funde, die einen unangenehm berühren. Wir blicken in die Vergangenheit von Unbekannten, und sie ist nicht traurig, sondern erst mal komisch. Tante mit Pudel am Weihnachtsbaum, Tante, noch etwas jünger, zur Kur in Oberbayern, Hochzeit von Bärbel, Konfirmation von Martin. »Liebe Daheimgebliebenen! Hier ist es sehr schön. Das Hotel ist sauber, das Essen anständig. Jeden Tag scheint die Sonne. Eure Tante Elfriede.«
Wer darüber lacht, muss vernagelt sein. Denn er schaut auch in die eigene Vergangenheit. Angenommen, unsere Erben sind ebenso abgebrüht wie die von Tante Elfriede, picken sich die Stereoanlage heraus und überlassen den ganzen Rest der Sachen, samt den Briefen und Fotos, einem Trödler, der unser Allerheiligstes in einem schmutzigen Karton feilbietet. Was sähe dann der zufällig vorbeischlendernde Flohmarktbesucher? Da er uns nicht kennt, nichts über uns weiß, sieht er Bilder, wie er sie tausendmal zuvor schon gesehen hat, liest er Briefe, die er nicht verstehen kann und die ihm deshalb läppisch vorkommen. Die Vergangenheit der andern ist sehr banal.
Diese Einsicht ist der Ausgangspunkt der Arbeit von Christian Boltanski. Die Banalität der Erinnerungsstücke berührt einen deshalb, weil sie an die Banalität des eigenen Lebens erinnert – sobald es von außen betrachtet wird. Boltanski tut genau das, er betrachtet das Leben von außen. Er blickt auf das Leben, auch das eigene, als ob es schon vorüber wäre, kurz, er ist ein Existenzialist. »Reconstitution d’un accident« (1969), eine Konzeptarbeit des 25jährigen, dokumentiert mit gestellten Fotos den eigenen Unfalltod. Im selben Jahr verschickt der Künstler Säckchen mit Haaren. Bilder von sich und Angehörigen, teils authentisch, meist aber fiktiv, und krude Andenken sammelt er in »Vitrines de référence«, sie dokumentieren ein nicht gelebtes, ein »unmögliches Leben«.
»Autobiografie«, sagt Boltanski, sei nicht möglich, »weil man nur über das sprechen kann, was der andere kennt«. Also gibt der Künstler sein eigenes Leben als Allerweltsleben aus, das wiedererkannt werden kann. Und er greift das Allerweltsleben von andern auf, so im »Album de la famille D.« (1971), dem Fotoalbum der Familie D., die tatsächlich Durand heißt, aber auch Dupont hätte heißen können, »Familie Schmidt« oder »Familie Müller«, everybody’s autobio­graphy. Jeder kennt sie, und gerade das macht sie unkenntlich. Diese Kunst ist zuerst in Deutschland geschätzt und missverstanden worden, Günter Metken rubrizierte sie unter »Spurensuche« und assoziierte Boltanski mit Jochen Gerz, was einem, angesichts des Interesses der beiden an der Geschichte des Holocaust, ganz passend zu sein scheint. Dabei ist es ziemlich unpassend. Mit Gerz und einer »Spurensuche« hat Boltanski nicht viel zu tun. Und der Unterschied liegt gerade im Existenziellen: Boltanski lenkt den Blick immer aufs eigene Leben, des Künstlers wie des Betrachters, zurück. Der Betrachter soll nichts über Geschichte lernen, sondern über sich selbst. Er soll sich selbst objektiver sehen; eine Arbeit, die einen verzweifeln lassen kann. Um den Unterschied vor Augen zu führen, hat Boltanski 1974 Kindern mit einer lustigen Handpuppe das eigene erfundene Durchschnittsleben vorgeführt. Man denke an das englische Wort pathetic, das sowohl »pathetisch« als auch »rührselig« und »jämmerlich« bedeutet. Es passt genau auf Boltanski, der private Themen aufgegriffen hat, als fast alle andern die politischen bevorzugt haben, und der in einer Zeit, in der man sich hinter Konzepten versteckte, nach letzten Dingen gefragt und sich so dem Gelächter preisgegeben hat, andererseits aber nie ein Selbstdarsteller war, sondern vielmehr ein Selbst-Nichtdarsteller.
Wenn man ihn mit einem bekannten deutschen Künstler vergleichen wollte, dann am ehesten mit Hans-Peter Feldmann. In seinen Gesprächen mit Catherine Grenier sagt Boltanski, Feldmann und er seien immer zur selben Zeit auf dieselben Ideen gekommen. Sammlungen von Amateurfotos mit Standardmotiven gehören zu den Spezialitäten von Feldmann, der auch fiktive Briefe von Durchschnittstypen geschrieben hat. Das Interesse am Leben von Hans und Franz verbindet Boltanski mit Feldmann. Was sie trennt, ist die vie impossible von Boltanski selbst, dem Sohn einer korsisch-katholischen Schriftstellerin und eines ukrainisch-jüdischen Arztes.
Sein Leben hat aufs Werk immer nur negativ eingewirkt, dies allerdings massiv. Der Vater muss sich vor den Nazis und ihren französischen Helfershelfern unter den Dielen verstecken. Kurz nach der Befreiung von Paris wird Christian geboren, dessen zweiter Vorname Liberté ist. Die Eltern gehen auch nach dem Krieg nie wieder allein aus dem Haus. Sie akzeptieren nicht nur, sie heißen es sogar gut, dass Christian früh die Schule schwänzt. Es ist eine ungewöhnliche Familie; Luc Boltanski, Christians Bruder, wird ein bekannter Soziologe.
Christian Boltanski sagt, dass ihn die Außergewöhnlichkeit seiner Familie geniert hat und er sich vielleicht deshalb in eine erfundene Normalität gestürzt hat. Aber ein anderer Grund dürfte hinzukommen: Auch das Außergewöhnliche verliert sich im Rückblick und von außen gesehen, das Einzelne muss untergehen im Allgemeinen.
So hat er in den Siebzigern die Mitglieder­fotos des Mickey-Mouse-Club gesammelt und Mitte der Achtziger in Berlin, später auch in London Schulkinder fotografiert, unpersönlich, eines nach dem andern, wie ein Polizeifotograf. Kinderfotos aus Dijon erscheinen mit Lämpchen wie Heiligen- oder Toten-Bilder in einer makabren Inszenierung; zuerst in der Kapelle der Salpétrière (1986). Und dieses Prinzip kehrt immer wieder. Boltanski hat so viele Telefonbücher als möglich zusammentragen und so viele Herzschläge als möglich (derzeitiger Stand: 30 000) aufzeichnen lassen. Diese gigantischen Sammlungen sind pathetic, sie erinnern daran, dass es um jeden Einzelnen schade ist, können und wollen ihn aber doch nicht retten. Es ist paradox: Je mehr einer Einzelne retten will, umso mehr demonstriert er durch die bloße Masse der Namen, Nummern und Bilder, dass es noch unendlich viel mehr Einzelne gibt, die er nicht wird retten können. Es bleiben zwar von einem jeden Aufzeichnungen, Spuren, aber sie sagen nichts.
Das muss wissen, wen der Kitsch anwandelt, hier würde irgendein Schicksal der Anonymität entrissen. Und das muss wissen, wer Boltanskis Arbeit für politisch hält. Wenn seine Werke die dreißiger und vierziger Jahre thematisieren, vermischen sie häufig Opfer und Täter (»Menschlich«, 1994). Diese Werke sind nicht politisch im Sinne von Carl Schmitt oder in dem der Antifa. Aber es verkleinert einer nicht die Verbrechen, der sich keine einfache Erklärung für sie erlaubt. Ganz im Gegenteil. Für Boltanski darf sich niemand zu »den Guten« rechnen.
Installationen, wie er sie gerade im Pariser Grand Palais zeigt – ein riesiger Berg von Kleidern, die von einem Kranroboter Stück für Stück aufgegriffen werden; aufgestapelte rostige Keksdosen mit Nummern –, erinnern alle Kommentatoren, und nicht zu Unrecht, an die Kleider-, Schuh- und Brillenberge der KZ, an die Nummern der namenlosen Opfer. Doch haben sich diese Arbeiten ganz allmählich aus einem allgemein-philosophischen Zusammenhang heraus entwickelt, und es ist wichtig, dass Boltanski jede unmittelbare Bezugnahme der Kunst auf den Holocaust für »schamlos« hält; es gibt keine Leichenberge bei ihm.
Mit getragenen Kleidungsstücken arbeitet er schon seit Jahrzehnten. Jedes einzelne Stück Kleidung mit seinen Gebrauchsspuren, seinem Geruch erinnert an den Unbekannten, der es getragen hat. Kleider können auf dem Boden ausgelegt (Paris 1994) werden oder ihn ganz und gar bedecken (Nagoya 1990), sie können dicht an dicht aufgehängt sein (Toronto 1988) und erscheinen dann wie Tote oder Häute von Toten, Kleider können aber auch (Paris 1993) an die Besucher verteilt werden und so gewissermaßen ein zweites Leben erlangen. Boltanski hat solche Kleiderbörsen auch zu karitativen Zwecken in einer Kirche veranstaltet. Die Assoziation mit den KZ stellt sich also erst in einer bestimmten Konkretisierung der Grundidee ein.
Ganz genauso ist es mit den hochgestapelten rostigen Dosen. Diese Idee ist sogar noch älter. Keksdosen gesammelt, ihnen Namen oder Bilder oder Nummern unbekannter Personen zugewiesen hat er schon in den Siebzigern und Achtzigern. Immer stehen diese Dosen, auch wenn sie meist gar nichts enthielten, für tote Personen, für ihre paar Habseligkeiten, für ihre Asche, für ihr Nichts. Aber tote Personen müssen keineswegs tote Juden sein.
Bei »Suisses morts« (1991ff.) waren unter anderem Stapel von Keksdosen zu sehen, auf die jeweils ein meist unscharfes Amateurbild eines toten Schweizers aufgeklebt war. Die Fotos hat der Künstler aus den Todesanzeigen des Nouvelliste du Rhône, einer Lokalzeitung, ausgeschnitten. Boltanski ist ein ernster Mann, aber schwarzem Humor nicht abgeneigt. Dass er ausgerechnet Schweizer porträtiert hat, hat mit deren wohlgenährter und properer Erscheinung zu tun. Man mag gar nicht daran denken, dass auch sie eines Tages sterben. Die metallischen Dosenstapel erinnern, wenn sie zusammenstehen, an Bankschließfächer oder Urnengräber und, wenn aus ihnen Türme errichtet werden, an wankende Gestalten. Auch diese eindrucksvolle Installation ist, wie alles, was Boltanski gemacht hat, ein memento mori, und wie nahezu alle Gedenken, die nach 1945 veranstaltet worden sind, positiv oder negativ mit dem Mord an den europäischen Juden in Verbindung stehen, so, auf indirekte Weise, auch dieses. Der Holocaust bleibt, wie Maurice Blanchot gesagt hat, der Horizont unseres Denkens.
Boltanski: »Kennen Sie den Witz: Alle Juden und Friseure müssen getötet werden. Na? Jetzt müssten Sie antworten – aber warum die Friseure? Also das antwortet man normalerweise, und dann lacht man, verstehen Sie? Also meine Arbeit ist in gewisser Weise schon an den Holocaust gebunden, weil man fragen könnte – warum die Schweizer? Eigentlich gibt es für die einen oder anderen nicht mehr Gründe, von den Nazis umgebracht zu werden. Aber den Schweizern passiert normalerweise nichts. In meiner Arbeit sterben sie wie die Fliegen.«
Die Schweizer mögen beruhigt sein, damit ist keine Aversion gegen sie ausgedrückt, damit werden sie vielmehr in die große Solidarität mit den Sterblichen einbezogen, die Boltanskis Arbeit prägt. Sie dienen aber auch als Exempel für die tragische Unmöglichkeit, sich unter so vielen Toten an einen Einzelnen erinnern zu können. Erinnern und Vergessen fallen bei Boltanski zusammen, hat Peter Moritz Pickshaus gesagt. Auch deshalb heißt die Pariser Ausstellung »Personnes«, denn das können Personen sein, das können aber auch Niemande, Nichtse sein. Damit sind nicht nur die ermordeten Juden, sondern auch die Betrachter gemeint.

Christian Boltanski: »Personnes« (Monumenta 2010). Die Ausstellung im Pariser Grand Palais ist noch bis zum 21. Februar zu sehen.
Christian Boltanski / Catherine Grenier: Das mögliche Leben des Christian Boltanski. Herausgegeben und übersetzt von Barbara Catoir. Walther König, Köln 2009, 270 Seiten, 19,80 Euro