Viele Asiaten leben lieber ohne Regierung

Auf der Flucht vor dem Staat

Bewusst entzogen sich viele Menschen in Südostasien der staatlichen Kontrolle, meint der US-Anthropologe James C. Scott. In unzugänglichen Bergregionen schufen sie relativ egalitäre Gesellschaftsformen.

Das westliche nation building in Afghanistan istweitgehend misslungen. Das Scheitern des Versuchs, eine staatliche Ordnung zu etablieren, dürfte nicht nur auf die Hartnäckigkeit der Taliban und die Unfähigkeit der afghanischen Regierung zurückzuführen sein. Denn weite Gebiete des ländlichen Afghanistan standen immer nur nominal unter staatlicher Verwaltung, sie gehören zu den unzugänglichen Regionen, die nur schwer kontrolliert werden können. So bieten Regionen wie das Shah-i-Kot-Tal schon seit Jahrhunderten für Guerillakämpfer gute Rückzugsmöglichkeiten.
Die Strategen der US-amerikanischen Außenpolitik jammern über »unregierbare Regionen« und »gescheiterte Staaten« in Asien und Afrika. Die Zerstörung schwer zugänglicher Rückzugsgebiete gehörte häufig zur Militärstrategie. Die US-Armee entlaubte im Vietnam-Krieg mit Agent Orange den Regenwald. Nach dem Krieg mit dem Iran ließ Saddam Hussein das Marschland im Genzgebiet zerstören, weil Widerstandskämpfer dort der irakischen Armee immer wieder schwere Verluste zugefügt hatten.
Solche Rückzugsgebiete werden von den meisten Militärstrategen als praktisches Problem betrachtet. Doch handelt es sich hier um ein gesellschaftliches Phänomen, viele Menschen siedeln bewusst in Gebieten, in denen geographische oder räumliche Barrieren einen staatlichen Zugriff erschweren.
James C. Scott, Professor für Politologie und Anthropologie an der Universität Yale, hat gerade ein Buch veröffentlicht, das sich mit der größten dieser Regionen in der Welt beschäftigt. Dort konnten etwa 100 Millionen Menschen über Jahrhunderte der Kontrolle durch Staaten entkommen und wurden immer noch nicht vollständig unterworfen. Scott nennt das zentrale Hochland Südostasiens »Zomia«, es erstreckt sich vom Südwesten Chinas über Teile Burmas, den Nordosten Indiens, Laos, Vietnam und Thailand. In seiner anarchistischen Geschichte »Zomias« zeigt er, wie dort die »Kunst, nicht regiert zu werden« (»The Art of Not Being Governed«), so der Titel des Buches, ausgeübt wurde.
Bis weit in das 20. Jahrhundert schrumpften die von Staaten kontrollierten Gebiete in den Tälern während der Regenzeit immer wieder auf die Hauptstädte und ihr Umland zusammen, da die Verkehrswege im Hochland unpassierbar waren. Scott versucht zu widerlegen, dass die »Bergvölker« Zomias wie die Miao, Hmong, Kachin, Akha, Padaung, Wa, Karen usw. klar definierte Ethnien seien, die so etwas wie die Vorfahren der Talbewohner darstellen würden. Vielmehr lebe in den Bergen eine bunte Mischung aus Menschen, die vor Kriegen, hohen Steuern, Skla­verei, Despotismus, Seuchen oder Hungersnöten aus den Staatszonen der Täler flohen und anderswo relativ egalitäre Lebensformen schufen.

Die Grundlage dafür ist das Gemeineigentum an Grund und Boden. Die Unterscheidung zwischen »Zivilisierten« und »Barbaren«, die es sowohl in der Staatsideologie Burmas als auch Chinas gab, reduzierte sich Scott zufolge letztlich darauf, alle Menschen, die außerhalb der staatlich kontrollierten Zone leben, zu »Barbaren« zu erklären. »Zivi­lisation« wurde hingegen mit der Unterordnung unter den Staat gleichgesetzt. Zwar konnten der konfuzianischen Lehre zufolge die »Barbaren« zivilisiert werden, warum jedoch jemand aus der Staatszone zu den »Rückständigen« in die »Wildnis« überlaufen wollte, war im Rahmen der offi­ziellen Doktrin nicht erklärbar. In ähnlicher Weise konstruiert wurde auch die Definition von Ethnien durch die post-kolonialen Staaten.
Bereits die kolonialen Eroberer hatten große Probleme mit »Zomia«. Bei der Eroberung Burmas zwischen 1824 und 1885 beschwerten sich britische Militärs darüber, dass Hügel für Hügel eingenommen werden musste, da die »Bergvölker« keine Führer oder Repräsentanten besaßen, die kapitulieren konnten. Solange sich die Menschen wie Vögel in der Luft bewegen und sich unter keiner Form von Autorität organisieren, könnten sie nicht zivilisiert werden, meinten die Kolonialherren.
Scott beschreibt eindrucksvoll, wie die Menschen in den nichtstaatlichen Zonen von einer »Fluchtlandwirtschaft« lebten. Der Anbau von Reis oder Weizen machte es dem Staat einfach, die Ernte zu schätzen und Steuern zu erheben. Als Strafmaßnahme konnten Speicher leicht zerstört werden. Deshalb bauten die Menschen in den Bergen Feldfrüchte wie Süßkartoffeln, Yamswurzeln oder Maniok an, die lange im Boden gelassen werden konnten und nicht gelagert werden mussten. Überdies machte der Anbau einer Vielzahl von Feldfrüchten auf einem Acker die Ernte schwer schätzbar, falls sich mal ein Steuerbeamter in die Berge traute.
Andere Bergbewohner praktizierten Brand­rodung oder gingen auf die Jagd, so konnten sie ihre Dörfer immer wieder verlegen und blieben mobil. Scott zeigt auch, dass sich in guten Zeiten die Handelsbeziehungen mit den Tälern inten­sivierten. Wurden die Täler jedoch von Despotismus oder Krieg geplagt, isolierten sich die »Gebiete der Flucht« in den Bergen wieder stärker von der Staatszone.
Scotts beeindruckende Studie propagiert weder Ethnokitsch noch Revolutionsromantik. Die »Stämme« in den Bergen verteidigten sich oft über Jahrhunderte gegen die Unterwerfung durch Staaten. Die burmesische Armee startete noch im Jahr 2006 eine Offensive gegen die Guerilla der Karen und zerstörte viele Dörfer. Die Berggesellschaften bieten jedoch weder ein Modell für die Staatszonen noch versuchten sie, die Hauptstädte zu erobern und die Gesellschaftsordnung umzustürzen.

Scotts Anarchismus ist mehr von einem tiefen Misstrauen gegenüber dem modernen Staat geprägt als sozialrevolutionär beeinflusst. In seinem 1998 veröffentlichten Klassiker »Wie der Staat sehen« (»Seeing like the State«) zeichnet er nach, wie hochmoderne Staaten mit »wissenschaft­lichen« Konzepten versuchen, die Gesellschaft zu ordnen. Von der preußischen Forstwirtschaft über modernistische Reißbrettentwürfe für Städte bis hin zur sowjetischen Kollektivierung bauten diese Blaupausen auf einem völlig vereinfachten Bild der Gesellschaft auf, deren Funktionsmechanismen die Technokraten gar nicht verstanden.
Häufig hätte nur der Widerstand von unten verhindert, dass diese Modelle in einem Desaster endeten. Zum Beispiel hätten die sowjetischen Kollektive ohne die Einzelparzellen der Bauern und die privaten Märkte überhaupt nicht funktioniert. Die vom Staat als rückständig betrachteten Bevölkerungsschichten wie Kleinbauern sind Scott zufolge äußerst kreativ im Gebrauch der »Waffen der Schwachen« (»The Weapons of the Weak«, 1985) wie Unterschlagung, Diebstahl oder Manipulation von Erntestatistiken, um sich gegen den Staat zu wehren und ihre Interessen zu wahren.
Auch in seinem neuen Buch erscheinen die kolonialen und auch die postkolonialen Staaten als ignorante Feinde der Berggesellschaften. Sie verstehen diese Gesellschaften nicht, wollen sie aber unterwerfen. Sein Argument, dass die Basis für die Herrschaft des Staats in den Tälern der Reisanbau war, erinnert sehr an Karl August Wittfogel, der Marx’ Anmerkungen zur »asiatischen Produktionsweise« zu einer globalen Theorie des »asiatischen Despotismus« erweiterte, der auf der Regulierung der Bewässerungssysteme für die Landwirtschaft beruhe.
Auch wenn Scott sich nicht direkt auf Wittfogel bezieht, so zeichnet er doch ein recht graues Bild von den Staatszonen im Gegensatz zu den bunten Gesellschaften in den Bergen. Dass Staaten nun auch versuchen, durch soziale Transferleistungen und nicht nur mit Gewalt eine Ordnung zu stabi­lisieren, wird nicht thematisiert. Die Gegenüberstellung von bösem Staat und guten selbstverwalteten Einheiten erinnert an die Geschichtsschreibung des russischen Anarchisten Peter Kropotkin (1842–1921), der zum Beispiel in den mittelalterlichen Städten eine positive Kraft gegen die zentralisierenden Tendenzen der aufkommenden Staaten sah.
Scott lässt sich weder von Wirtschaftsliberalen vereinnahmen, die jegliche Staatseingriffe dämonisieren, noch gibt er Think Thanks Ratschläge, wie die »Zonen der Flucht« von den Staaten unterworfen werden könnten. Er zeigt, dass Staatslosigkeit nicht zwangsläufig zur Barbarei führen muss. Beeindruckend wird Geschichte geschrieben, die sich nicht in nationalstaatliche Grenzen einzwängen lässt. Das Buch ist vor allem deshalb wichtig, weil es mit »Zomia« eine Region ins Blickfeld rückt, der weder von den bürgerlichen Medien noch von Linken viel Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Einen Grund für eine naive Idealisierung der »Bergvölker« gibt es nicht, wie in einer Besprechung von Scotts neuem Buch im Boston Globe zu Recht angemerkt wird. Die Hmong kämpften zum Teil auf Seiten der USA gegen die nordvietnamesische Armee, die Wa finanzieren ihr Gebiet im burmesisch-chinesischen Grenzgebiet durch Mohnproduktion und Heroinschmuggel. Sicher werden Anthropologen unter den unzähligen »Ethnien« Beispiele finden, die Scotts These von den egalitären Strukturen oder flachen Hierarchien nicht bestätigen. Bei den Kachin gibt es eine lange Tradition, einen »Häuptling« zu töten, wenn er zu mächtig wird. Stammesgesellschaften können jedoch auch, wie die Paschtunen in Afghanistan und Pakistan, eine Aristokratie hervorbringen. Überdies mag die Einbeziehung in weltwirtschaftliche Strukturen in vielen Gebieten noch immer vergleichsweise marginal sein, doch führt etwa der Opiumhandel zu einer gewissen Kapitalakkumulation, die sicher nicht ohne Auswirkung auf die Gesellschaft bleibt.
Bereits im Vorwort schreibt Scott, dass die Tage der nichtstaatlichen Zonen gezählt sind. Helikopter und moderne Kommunikationstechnik machen militärische Offensiven in den Bergen auch während der Regenzeit möglich. Die Staatsmacht konnte in den vergangenen Jahrzehnten immer höher in die Berge vordringen. In einer Rezension des Buches in dem US-Journal Foreign Affairs wurde jedoch angemerkt, dass die Meldungen über die fehlgeschlagenen Operationen des amerikanischen Militärs im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet dafür sprechen würden, dass auch die Bergbewohner in »Zomia« noch länger durchhalten könnten, als Scott annimmt.

James C. Scott: The Art of Not Being Governed: An Anarchist History of Upland Southeast Asia. Yale University Press, 2009