Die »Friedenspolitik« der Bundesregierung

Einigkeit im Streit

Der Fall Afghanistan zeigt, dass die Bundesregierung den wichtigsten außenpolitischen Grundsatz von Rot-Grün übernommen hat: Sie betreibt »Friedenspolitik« im Namen der »afghanischen Zivilgesellschaft«.

Den aufschlussreichsten Satz im Rahmen der Kontroverse um den Abzugstermin der Bundeswehr aus Afghanistan hat Angela Merkel kurz vor Beginn der internationalen Afghanistan-Konferenz in London geäußert. Das vormalige Ziel der Alliierten, aus Afghanistan eine »Demokratie nach unseren Kriterien« zu machen, müsse heute als »vermessen« beurteilt werden. Dass dieser brutale Bescheid in ihrer eigenen Partei ohne jeden Widerspruch akzeptiert worden ist, macht deutlich, dass sich längst auch bei den Christdemokraten eine außenpolitische Neuorientierung durchgesetzt hat: weg von jenen Großmachtambitionen, die in den Augen vieler Linker noch immer zur politischen Praxis bürgerlicher Parteien in Deutschland gehören, hin zu einem Pluralismus, dem die gesellschaftlichen Verhältnisse in »Krisengebieten« gleichgültig sind, solange sie nicht der neuen globalen »Weltinnenpolitik« mit ihrem Primat der Sicherheit entgegenstehen.
Dass die laxe Formel von der »Demokratie nach unseren Kriterien« den Prinzipien des bürgerlichen Universalismus hohnspricht, indem sie »De­mokratie« in einen kulturellen Brauch verwandelt, für dessen Bewertung allenfalls lokale Maßstäbe gelten können, wäre christdemokratischen Außenpolitikern jedenfalls noch vor einigen Jahren gewiss aufgefallen. Heute dagegen merkt niemand mehr, dass Merkel im Grunde wie eine linke Friedenspolitikerin redet, wenn sie den westlichen Alliierten im asketischen Jargon des Kulturalismus nicht etwa Unvernunft oder Inkompetenz, sondern »Vermessenheit« attestiert. Handelt es sich dabei doch nicht um eine politische, sondern um eine moralische Kategorie, mit der die Hybris und Dekadenz eben jener »Demokratien« kritisiert werden soll, deren »Kriterien« man den bodenständigeren Afghanen auf keinen Fall glaubt zumuten zu können. Merkels Äußerung lässt sich also nicht anders denn als versteckte Handreichung an Grüne, SPD und Linke verstehen, deren verschiedene »Raus aus Afghanistan«-Kampagnen sich von der Politik der Bundesregierung ohnehin eher graduell als prinzipiell unterscheiden. »Raus« wollen sie nämlich alle, und ebenso sind sie sich darin einig, dass den Menschen in Afghanistan Stück für Stück die Verwaltung ihres Elends in die eigenen Hände gelegt werden muss und man zwecks solcher »Befriedung« auf die Hilfe der ortsansässigen Rackets angewiesen ist, denen man sich folglich gewogen zeigen muß.

Uneinigkeit besteht eher in Stilfragen. Darin etwa, ob es politisch klug ist, schon heute einen konkreten Abzugstermin zu nennen, oder in der genauen sprachlichen Formulierung der deutschen Strategie. So redet Außenminister Guido Wes­terwelle gern davon, »den Menschen« eine »zi­vile Perspektive« bieten zu wollen, während Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg sich in Afghanistan »mehr Ausbildung und weniger Offensive« wünscht. Ein wirklicher Widerspruch zu der scheinradikalen Forderung der Linkspartei, »die Menschen in Afghanistan« müss­ten »selbst über den Frieden verhandeln«, ist das aber nicht. Eine »Demokratie nach unseren Kriterien« jedenfalls strebt in Afghanistan längst niemand mehr an, stattdessen wird durch alle Par­teien hindurch dieselbe Rede von der »Verantwortung« und vom »Vorrang des Zivilen« bemüht, für die die EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann gerade erst gerügt worden ist (Jungle World 3/10). Dissens herrscht allein in der Frage, wie jener »Vorrang des Zivilen« politisch durchzusetzen sei, nicht aber im gemeinsamen Bekenntnis zur zivilgesellschaftlichen Ideologie.
Die einzige Stimme, die nicht in diesen Chor passte, stammt ausgerechnet vom CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, der das afghanische »Aussteigerprogramm« jüngst mit bayrischer Derb­heit als »Abwrackprämie für Taliban« bezeich­nete. Für diese Formulierung gebührt ihm schon deshalb Dank, weil sie mit den Befindlichkeitsphrasen bricht, mit denen hierzulande Friedensfreunde aller Couleur die »Demokratisierung« des Landes in der Denkungsart von Therapeuten und Sozialpädagogen als allmählichen, gleichsam unmerklichen Prozess darstellen, in dessen Folge alle Patriarchen irgendwann zu Volksschullehrern und alle marodierenden Banden zu Selbst­hilfegruppen würden. Entsprechend wird oft vom »Übergang« Afghanistans zur Demokratie ge­sprochen, als handle es sich um einen natürlichen Wachstumsprozess und nicht um eine Umwälzung der Gesellschaft, die den Lebensalltag aller Menschen unabsehbar verändern würde. Auch in dieser Hinsicht sind Merkels Äußerungen im Rahmen der Londoner Konferenz symptomatisch. Jetzt schon einen Abzugs­termin zu nennen, wie die SPD dies fordert, nannte sie nicht etwa politisch falsch, sondern »verantwortungslos«, und Westerwelle rechtfertigte die Pläne der Bundesregierung für eine vorübergehende Truppenaufstockung bei gleichzeitigem Beginn des Abzugs ab 2011 mit den Worten, »das Politische« müsse gegenüber »militärischen Strategien« im Vordergrund stehen. Zwar rief Merkel in Erinnerung, »dass Afghanistan Brutstätte des Terrors von 2001 war«, und nannte die Korruptionsbekämpfung sowie »demokratische Wahlen« als »Mindeststandards« bei der Demokratisierung des Landes. Indessen weiß man aus Erfahrung, dass auch die »Kriterien«, die in dieser Region für »demokratische Wahlen« gelten, eher taktisch formuliert wer­den. Und wie in einem Land, in dem der »Vorrang des Zivilen« sich nur durch Kollaboration mit lokalen Herrschercliquen durchsetzen lässt, die Korruption bekämpft werden soll, bleibt völlig unklar.

Über solche Widersprüche hinwegsehend, haben Merkel und Westerwelle für ihre Afghanistan-Politik eine Prioritätenliste formuliert, die sich auf der Londoner Konferenz weitgehend durchgesetzt hat. Demnach möchte man neben dem En­gagement beim Aufbau einer ordentlichen Polizei – wer wäre dafür besser qualifiziert als Deutsch­land – vor allem den Straßen- und Schulbau fördern und sich auch sonst »zivil« engagieren. Leitend ist dabei nach wie vor das »Prinzip afghanischer Eigenverantwortung« (»Afghan ownership«), das bereits die vorige Bundesregierung unter Frank-Walter Steinmeier formuliert hat und das auf der Londoner Konferenz fast wortgleich bekräftigt worden ist. Es nimmt die ba­sisdemokratische Argumentation der Linkspartei auf, wonach ein Truppenabzug schon deshalb so bald wie möglich stattfinden müsse, weil die Mehrheit der Deutschen dies ebenso wünsche wie die Mehrheit der Afghanen, und wandelt sie in ein genuin deutsches Beglückungsversprechen um. Der Unwille, politische Maßnahmen einzuleiten, um Ansätze einer transparenten Gewaltenteilung und einer aufgeklärten Öffentlichkeit in Afghanistan entstehen zu lassen, camoufliert sich in der Londoner Abschlusserklärung denkbar schwammig in einer »Selbstverpflichtung« der afghanischen Regierung zu »guter Regierungs­führung«. Im Umkehrschluss möchte man großzügiger bei der Integration von »Mitläufern« verfahren, damit »junge Männer, die nicht Ideologen und fundamentalistische Terroristen sind, eine Chance bekommen, in die afghanische Gesellschaft zurückzukehren«, wie Westerwelle formulierte.
Eine solche Entwicklungspolitik, deren Vorbild die Jugendarbeit in ostdeutschen »Brennpunkten« zu sein scheint und die nicht zur Kenntnis nimmt, dass es in Afghanistan noch gar keine »Gesellschaft« gibt, in die Mitläufer »zurückkehren« könnten, betreibt unter dem Vorwand eines »Vorrangs des Zivilen« den Verrat an jenem Begriff der Zivilisation, den sie in Anspruch nimmt und dessen Glücksversprechen einmal darin bestand, mit Elendsverwaltung, Regionalismus und Tribalismus im Namen eines kosmopolitischen Bürgertums Schluss zu machen. Auf eine »Demokratisierung« nach solchen »Kriterien« darf in Afghanistan inzwischen niemand mehr hoffen.