Über die Tierbilder von Walton Ford

American Beauty

Die Gemälde des Tiermalers Walton Ford handeln vom Naturverständnis der amerikanischen Gesellschaft.

Um die großformatigen Tierbilder des US-amerikanischen Malers Walton Ford, die zurzeit in einer Ausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen sind, angemessen zu beschreiben, muss man etwas weiter ausholen. Sie wirken in ihrer Farbigkeit und ihrem scheinbaren naturalistischen Realismus so fremdartig, wie US-Amerikaner auf Europäer immer noch wirken können. Sie stehen in einer Tradition, die hierzulande ohne Beispiel ist: die Darstellung des Naturschönen auf Amerikanisch.
Es gibt eine spezifisch amerikanische Natur-Psychedelic. Man findet sie in den Büchern des Schriftstellers und Anthropologen Carlos Castaneda, im Film »Easy Rider« (z.B. in einer Szene, in der die Hippie-Kommunarden damit beginnen, ihre Saat auf schlechtem Boden auszuwerfen) und in den Stücken der Folkband Country Joe and the Fish. Sie hat ihren Ursprung eher in den Sümpfen Floridas und den Wäldern des Ostens als im Wilden Westen. Ihre frühen Vertreter sind der Ornithologe und Zeichner John James Audubon und der in der Romanfigur des Lederstrumpf porträtierte Nathaniel »Natty« Bumppo. Der Vogelmaler Audubon, der sich das Ziel gesetzt hatte, als erster alle Vogelarten Nordamerikas zu zeichnen, und Bumppo, der Held aus James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Romanen, sind Figuren, die es so nur in Amerika und nirgendwo anders geben konnte. Und doch behalten sie auf eine merkwürdige Art auch in Amerika etwas Fremdartiges. Sie fügen sich nicht in die englisch-protestantische Mayflower-Tradition. Sie hängen an einem anderen Strang, der französisch-anarchistischen Traditionslinie, deren Vertreter in den Wäldern und Sümpfen allein mit der Natur bleiben wollen.
Wenn Bumppo die Holzfäller zu nah kamen, musste er weiterziehen, tiefer in den Wald. Den Pionier Audubon zog es derweil auf der Suche nach der Vogelwelt in die moskitoverseuchten Sümpfe Floridas, nicht weil er dort die Sümpfe trockenlegen und das Land gewinnen, sondern weil er die dort lebenden Menschen beobachten und malen wollte. Die Einwohner der ersten Stunde, das sind in Amerika natürlich auch immer die Indianer. Sie standen den neuen Siedlern, den »Bebauern des Bodens«, als die sie sich selbst sahen, im Wege. Deshalb begannen sie einen Krieg, dessen Folge die Ausrottung der Indianer war. Mit den Indianern rotteten sie auch die dort lebenden Tiere aus und zerstörten die Natur. Das Leben mit und in der Natur gehörte aber auch zum Gründungsmythos Amerikas. Deshalb wurde das richtige Leben auch immer wieder in den Wäldern gesucht, angefangen mit dem Philosophen Henry David Thoreau bis hin zum »Una-Bomber« Theodore Kaczynski. Weil sie aber immer die Gewalt, die der Natur zu Leibe rückt, in ihren Erzählungen über die Wälder und Sümpfe transportieren, verbinden die US-amerikanischen Autoren das Naturschöne mit dem Sozialschönen auf eine Weise, die dem europäischen Publikum nicht unmittelbar zugänglich ist.
Die Wälder Amerikas waren Urwälder – und sind es teilweise noch heute. Sie haben wenig mit dem deutschen Forst, dem bewirtschafteten Wald, gemein. Für die Einwanderer aus ­Europa boten die Urwälder eine ganz neue Dimension des Naturerlebens, die nicht im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Erfahrungen stand. Das Soziale wie die Umwelt wurden als Herausforderung erlebt, es ging in der Natur wie in der Gesellschaft um die Eroberung von Neuland und um Grenzüberschreitung. Auch deshalb wird in den Schriften und Bildern von amerikanischen Künstlern wie Cooper und Audubon die Gewalt in der Natur und gegen sie zu einer Allegorie, die nicht nur ein Bild- oder Textverfahren ist, sondern auch eine Lebensform.
Hier setzt Walton Ford mit seinen Bildern an. »Falling Bough« (Fallender Ast) lautet der Titel eines seiner Gemälde. Es zeigt einen frei schwebenden, von Wandertauben umschwirrten Ast über einer weiten Landschaft, durch die sich ein Fluss schlängelt. Das Bild misst 1,5 Meter in der Höhe und drei Meter in der Breite. Beschriftet ist es mit »Ectopistes migratorius, Passenger pigeon«, dem lateinischen und dem englischen Ausdruck für Wandertaube. Die Wandertaube war vermutlich die Vogelart mit der größten Individuenzahl weltweit. Wenn die Taubenschwärme über Nordamerika hinwegzogen, verdunkelte sich der Himmel. Mit ohrenbetäubendem Lärm gingen die Vögel auf Felder und Wälder nieder, und wenn sich aus der fliegenden Amöbe ein paar Blasen lösten, um sich auf den Bäumen niederzulassen, krachten nicht selten die Äste unter der Last der Vögel zusammen.
Dass man heute noch weiß, wie die Exemplare der inzwischen ausgerotteten Art – die letzte Wandertaube, Martha, starb 1914 im Zoo von Cincinnati – aussahen, sich verhielten (und wie sie vernichtet wurden), ist den Bildern und Texten von Audubon und Cooper zu verdanken. Coopers Schilderung, wie die weißen Jäger mit Kanonen in die Schwärme schossen, gehört zum Unsentimentalsten überhaupt, was die amerikanische Literatur über das frühe Amerika zustande gebracht hat. Unsentimental malt und zeichnet auch Ford die Tauben mit Aquarell, Gouache und Bleistift auf Papier. Der Satz, der einem beim Betrachten der Zeichnung einfällt, ist: »Cut not the bough that you are standing upon«. Aber irgendwer hat den Ast bereits abgesägt. Auf dem Bild wirkt es so, als werde das Stück Holz allein durch den Taubenschwarm gestützt und in der Luft gehalten.
Es ist schon klar, wer Wandertauben und auch Bisons, ein weiteres Sujet von Ford, erledigt hat. Man kann das platt moralisierend oder kindisch nennen, was einige europäische Kritiker auch gleich getan haben. Man kann es aber auch in seinem allegorischen Verfahren lesen lernen.
Ford, der 1960 in New York geboren wurde und heute in einer Kleinstadt in Massachusetts lebt, geht oft von Texten aus, die er aus Büchern entnimmt, die entweder naturgeschichtlich oder im Stil der Zoogeschichten der alten Zeitungsbeilagen von Tieren erzählen. Das Bild »Pantherausbruch, Zürcher Zoo 1934«, auf dem ein lebensgroß gezeichneter schwarzer Panther durch eine verschneite Schweizer Alpenlandschaft schleicht, ist auf diese Weise enstanden. Die Geschichte von einem Panther, der 1934 aus dem Zoo ausgebrochen war und es einige Zeit geschafft hat, in den Alpen zu überleben, hat er einer Sammlung von Texten über Tiere in Gefangenschaft entnommen. Dass die Tiere ihre Geschichten nicht selbst geschrieben haben, gehört zu den Voraussetzungen, die Ford immer wieder in Szene setzt. »An Encounter with Du Chaillu« heißt ein Bild aus dem vergangenen Jahr, das einen aufrecht stehenden Gorilla zeigt, der ein Gewehr in der Hand hält und sich dessen umgeknickten Lauf in die Schnauze steckt. Im Gras sieht man die Beine eines offensichtlich toten weißen Menschen.
Der Amerikaner Paul du Chaillu war im 19. Jahrhundert auf dem besten Weg, der berühmteste Reiseschriftsteller seiner Zeit zu werden. Er veröffentlichte 1867 atemberaubende Berichte über seine Begegnungen mit Gorillas in Afrika. Sich selbst stilisierte er zum ersten Menschen, der mit lebenden Gorillas zusammentraf und dabei die ungeheuerlichen Bestien im heroischen Kampf erledigte. Die erlegten Gorillas verkaufte er an das Naturkundemuseum in London. Dass du Chaillu heute als einer der größten Lügner in der Reiseliteratur gilt, ging darauf zurück, das einer der Angestellten des Museums bald nach dem Ankauf erzählte, dass du Chaillu die Tiere von hinten erschossen hatte. Auch wenn diese Geschichte geklärt werden konnte, lebt sie in Fords Bildern wieder auf.
Sein emblematischer Vogel ist der europäische Star. Kein Tier kommt in seinen Bildern häufiger vor als der schwarze Vogel mit kleinen weißen Punkten. 1890 in New York eingeführt, ist er heute über die gesamten USA verbreitet. Die weißen Autoren des aktuellen Field Guide der Vögel Nordamerikas der National Geographic Society beschreiben ihn deshalb als »häufig dreist und aggressiv«. Keinen Vogel hassen die Amerikaner zurzeit mehr als diesen Eindringling. So wie Ford die Stare malt, mal naturgetreu in großer Zahl als Diebe und Belästiger sogenannter einheimischer Vögel, mal überdimensional riesengroß, werden sie zu den Boten der fortgesetzten Lügen im Sprechen des Menschen über das Tier.

Walton Ford: Bestiarium. Hamburger Bahnhof, Berlin. Bis 24. Mai