Die Situation in Chile nach dem Erdbeben

Die Angst nach dem Beben

Die Schäden des Erdbebens waren größer, die Hilfe kam langsamer, als es dem chilenischen Selbstbild eines modernen Staates entsprach. Nachdem es zu Plünderungen gekommen war, bildeten sich »Bürgerwehren« und Soldaten marschierten auf.

Am 12. Januar erschütterte ein Erdbeben der Stärke sieben auf der nach oben offenen Richterskala Haiti, den ärmsten Staat Amerikas, der gemeinhin als »gescheitert« gilt. Die Bilder dieser Tragödie, die schätzungsweise 200 000 Todesopfer forderte, gingen um die Welt und trugen dazu bei, dass ein großes internationales Militärkontingent sowie enorme Mengen an Hilfsgütern eintrafen.
Am 27. Februar wurde das südliche Zentralchile von einem Beben der Stärke 8,5 heimgesucht. Es dauerte drei Minuten. Die Informationen, die in den ersten 24 Stunden in Chile zirkulierten und ins Ausland weitergegeben wurden, sprachen von nur zwei Dutzend Toten und einem sehr begrenzten Ausmaß materieller Schäden – ganz so, wie das für ein gut organisiertes, gerade in die OECD aufgenommes Land zu erwarten war. Niemanden verwunderte es, dass die chilenische Regierung internationale Hilfe, die ihr von zahlreichen Ländern und Organisationen angeboten wurde, anfangs zurückwies. Die internationale Presse feierte Chile, das als das entwickeltste Land Lateinamerikas gilt, und sein Wirtschaftsmodell.
Erst in den drei darauf folgenden Tagen sollte den Chilenen und der Welt das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe klar werden. Die Küste wurde auf einer Strecke von 350 Kilometern von einem Tsunami verwüstet, die Zahl der Toten und Vermissten musste ständig nach oben korrigiert werden und wird nun auf etwa 1 000 geschätzt. Hunderte Gebäude stürzten ein, zwei Millionen Menschen wurden obdachlos, eine Vielzahl von Krankenhäuser, Schulen und anderen öffent­lichen Einrichtungen ist lahmgelegt, in Städten und Dörfern brachen Strom- und Trinkwasserversorgung zusammen. Viele Telefonleitungen sind unterbrochen, mehrere Autobahnen und Landstraßen wurden unbefahrbar, Brücken stürzten ein, der größte Flughafen des Landes in Santiago ist unbenutzbar.

Vielen Chilenen fehlt es nun an Lebensmitteln, Medikamenten, Wasser, Benzin und Geld, doch wird über die Notlage von den meisten Medien, vor allem vom Fernsehen, meist sensationslüstern berichtet. Von der Regierung kam keine effektive Hilfe. Die Behörde für Notfallhilfe (Onem) versagte, sie reagierte nicht auf die Tsunami-Warnungen, und es dauerte vier Tage, bis sie endlich klare Aussagen über das Ausmaß der Katastrophe veröffentlichte.
Es wurde schnell deutlich, dass dem Staat die Mittel fehlten, um in den betroffenen Regionen schnelle Hilfe zu organisieren. Von einer solchen Hilfe aber ist die politisch nur schwach organisierte chilenische Gesellschaft abhängig, sie tritt den staatlichen Institutionen mit einer Erwartung gegenüber. Von einer Selbstorganisation der Bevölkerung und eigenen Antworten auf die Notsituation war nichts zu spüren. Vielmehr begannen viele Einwohner der urbanen Zentren wie Concepción, Santiago, Chillán und Talca damit, sich in Angst und sogar Paranoia hineinzusteigern. Die Bilder und Kommentare der meisten Medien, die immer wieder Plünderungen von Supermärkten zeigten, schürten die Furcht.

Tatsächlich kam es vielerorts zu spontanen Plünderungen, um die Grundbedürfnisse zu decken. Aber auch andere Konsumgüter wie Plasmafernseher, Computer und Waschmaschinen wurden mitgenommen. Immer häufiger verbreiteten die Medien auch Augenzeugenberichte über eine Vielzahl von Straftaten, über Raubüberfälle auf offener Straße oder Diebstahls- und Einbruchsdelikte unter Nachbarn. In einigen Vierteln kam es nun doch zu selbstorganisierten Aktionen. Ausgerüstet mit Pistolen, Schrotflinten und Eisenstangen versammelten sich zu allem entschlossene Bürger, die ihre Habe verteidigen wollten. In einigen Vierteln der Mittelschichten kursierten Gerüchte über die unmittelbar bevorstehende Ankunft des plündernden Lumpenproletariats aus den städtischen Randbezirken. Doch auch in den barrios populares, den ärmeren Wohngegenden, äußerten Einwohner vor laufenden Kameras Spekulationen über mögliche Angriffe aus dem benachbarten barrio – von Leuten, die genauso arm dran sind wie sie selbst.
Die chilenische Regierung, derzeit noch geführt von der sozialdemokratischen Präsidentin Michelle Bachelet, verhängte über die betroffenen Regionen den Ausnahmezustand und hob vorübergehend die verfassungsmäßigen Rechte auf. Tausende Soldaten wurden in die Straßen entsandt, um die »öffentliche Ordnung wiederherzustellen«. In Dutzenden Städten galt ab Mitternacht fortan eine Ausgangssperre. Sofort forderten »Bürgergruppen«, den Ausnahmezustand endlich auch auf weniger stark von dem Erdbeben betroffene Gegenden wie Santiago oder Valpa­raiso auszudehnen.
Neben allem menschlichen Unglück, den materiellen Schäden und dem institutionellen Versagen lässt sich in Chile nach dem Erdbeben eine Auflösung des »Sozialpakts« beobachten. Das Selbstbild politischer Stabilität und juristischer Sicherheit, das den lateinamerikanischen Nachbarn jahrzehntelang stolz präsentiert wurde, entpuppt sich als reiner Dünkel. Viele Menschen in Chile kommen nun zu dem Schluss, dass die Bemühungen, nach einer fast zwei Jahrzehnte andauernden Militärdiktatur ein ziviles Zusammenleben zu erkämpfen, nicht erfolgreich waren. Ebenso wie zu Beginn der siebziger Jahre war die Bevölkerung auch diesmal unfähig, sich zu artikulieren, es kam zu einer Intervention der Streitkräfte.
Keine Frage, viele Menschen in Chile hatten sofort die Bilder des im Jahr 1973 von General Augusto Pinochet geführten Militärputsches vor Augen, als sie die Militäroperationen im Fernsehen verfolgten. Doch die Übernahme polizeilicher Aufgaben durch Soldaten stößt kaum auf Kritik. Stattdessen melden sich immer wieder Repräsentanten diverser staatlicher Institutionen zu Wort, die sich darüber beschweren, dass es so lange gedauert habe, sich zu dieser Maßnahme zu entschließen.
Mehr noch, einige der großen Tageszeitungen veröffentlichten Kolumnen bekannter Politiker und Journalisten, die behaupten, dass die Schwächung der öffentlichen Ordnung in Chile kein neues Phänomen sei, sondern in direkter Verbindung mit einem allgemeinen Respektverlust gegenüber den Autoritäten stehe. Daraus wird der Schluss gezogen, dass nun der Moment gekommen sei, die Polizei wieder mit jenen Vollmachten auszustatten, die ihr wegen des ganzen Geredes über Menschenrechte aus der Hand genommen wurden. La Cuarta, die auflagenstärkste Tageszeitung Chiles, die sich vor allem an die Leserschaft der unteren Klassen richtet, titelte vier Tage nach dem Erdbeben über einem ganzseitigen Foto patroullierender Soldaten im Duktus Pinochets, dass nun die »Stunde der Ordnung« geschlagen habe.

So wachsen nicht nur die Zweifel an der »Rückkehr zur zivilen Ordnung«, sondern auch am »solidarischen und brüderlichen Charakter« der chilenischen Gesellschaft. Die Menschen fürchten einander, sie klammern sich an ihren individuellen Besitz. Das ist keine gänzlich neue Erkenntnis, doch wurde es nach dem Erdbeben unübersehbar. Wie in anderen Ländern der »Dritten Welt« wurden im Zuge beschleunigter ökonomischer Modernisierungsprozesse die gesellschaftlichen Verbindungen neu geknüpft, der Zugang zu Konsumgütern ist zum zentralen öffentlichen Anliegen verklärt worden.
Nach drei Jahrzehnten einer fortschreitender Kommerzialisierung der gesellschaftlichen Beziehungen, vermittelt durch die immer stärkere Deregulierung der Märkte, die auch Bildungs- und Gesundheitswesen, Sozial- und Unfallversicherung umfassen, zeigt sich Chile als eine Gesellschaft reiner Konsumbürger. Wenn die Normalität des Konsums und der Akkumulation von Gütern unterbrochen wird wie durch das Erdbeben, verliert die soziale Ordnung sofort an Legitimität, und es bleiben Vereinzelung, Misstrauen, Gewalt sowie der Ruf nach Autoritäten. Der Staat muss unter allen Umständen das Recht schützen, Güter zu kaufen, zu verkaufen oder zu akkumulieren. Die gesellschaftlichen Beziehungen beruhen auf einer potentiellen staatlichen Kontrolle über den individuellen Zugang zum Markt. Soziale Teilhabe drückt sich in in Chile im geordneten Zugang zur Shopping Mall aus.
Chile wird nach und nach zum business as usual zurückkehren. Am Ende wird sich die Regierung wohl doch noch um die Grundbedürfnisse der Menschen in den betroffenen Regionen kümmern. Zunächst dürften in den Städten und Siedlungen, in denen es die größten Zerstörungen gab, Notunterkünfte errichtet werden. Danach werden wahrscheinlich Wiederaufbauprogramme folgen. Es ist bekannt, dass solche Aufbauprogramme auch Konjunkturprogramme sind, sie steigern das wirtschaftliche Wachstum, sei es wegen der benötigten Arbeitskraft, sei es wegen der in Umlauf gebrachten monetären Mittel.
Doch viele Menschen fragen nun nach den politischen Konsequenzen. Die Stichwahl zur Präsidentschaft am 17. Januar hat Sebastian Piñera gewonnen, ein Kandidat der Rechten. Er wird in dieser Woche sein Amt antreten, und es ist wahrscheinlich, dass seine Regierung die Umstände nutzen wird, um sich als effektive wirtschaftliche Verwalterin zu profilieren und den Nationalstolz zu steigern, wie Piñera es bereits im Wahlkampf versucht hatte. Es ist ebenso wahrscheinlich, dass es die Regierung angesichts der aktuellen Situation leichter haben wird, politische Unterstützung für ihre konservativen Reformen im Rahmen einer »bürgerlichen Sicherheit« zu gewinnen, die eine Ausweitung polizeilicher Aufgaben und Befugnisse in den Städten vorsehen. Auch deshalb ist es zweifelhaft, ob die chilenische Gesellschaft nach der Katastrophe zu einem grundlegend anderen Selbsverständnis gelangen wird.

Aus dem Spanischen von Nils Brock