Geld und Moral in Zeiten der Krise

Die Mutter aller Schweine

Eigentlich soll der Kapitalist das Geld nicht horten, sondern zirkulieren lassen. Doch in Krisenzeiten wird eine asketische Moral gepredigt.

In seinem »Advice to a young tradesman« bemüht Benjamin Franklin, einer der Gründerväter des modernen Kapitalismus, einen heiklen Vergleich: »Bedenke, dass die Zeit Geld ist. (…) Bedenke, dass Kredit Geld ist. (…) Bedenke, dass Geld von einer zeugungsfähigen und fruchtbaren Natur ist. (…) Wer ein Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis ins tausendste Glied. Wer ein Fünfschillingstück umbringt, mordet alles, was damit hätte produziert werden können.«
Dass für Geld getötet wird, mag noch jedem einleuchten. Dass Geld – wie der Buchstabe – tötet, möglicherweise auch. Um aber auf die Idee zu kommen, dass Geld selbst umgebracht werden kann, bedarf es schon des Glaubens an eine kapitalistische Transsubstantiation, die Verwandlung von Blut in Geld, die das Tieropfer und das Geldopfer auf eine Stufe stellt. Im Stil der klassischen, bedenkenträgerischen Moralliteratur tut Franklin genau dies und gibt damit dem Begriff des Schweinesystems eine überraschend konkrete Bedeutung.
Das kapitalistische Äquivalent zum fruchtbaren Mutterschwein ist das Geld. Wie das Mutterschwein nicht geschlachtet werden darf, weil es mehr Schweine gebären soll, darf das Geld nicht ausgegeben werden, soll es mehr Geld gebären. Wie die Arbeit wird nun auch das Geld, also gerade das verallgemeinerte Mittel, zum Selbstzweck. Wird es in seinem eigentlichen Sinne als Mittel gebraucht, also ausgegeben, wird es getötet, da es an seiner Selbstvermehrung gehindert wird. Paradox genug, behält das Geld seine Fruchtbarkeit nur durch ein enthaltsames Leben. Geld, so das Credo Franklins, gehört ins Sparschwein.

Allerdings ist diese Ableitung aus einer puritanisch-religiösen Moral, wie sie auch Max Weber beschreibt, nur ein Gesicht des Kapitalismus. Sein anderes Gesicht zeigt sich an einer genau entgegengesetzten Definition des Geldes und verhält sich somit konträr zum asketischen Ideal der Schatzbildung. Muss nach Ansicht Franklins das Geld zurückgehalten und immobilisiert werden, um fruchtbar zu sein, muss es etwa bei Georg Simmel und Karl Marx gerade ausgegeben werden, um als Zirkulationsmittel Bewegung zu generieren. Georg Simmel schreibt in seiner »Philosophie des Geldes«: »Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt (…) gibt es kein deutlicheres Symbol als das Geld. Die Bedeutung des Geldes liegt darin, dass es fortgegeben wird.«
Auch Karl Marx beschreibt den Kapitalisten als einen Getriebenen, der sein Geld gerade nicht hütet und zurückbehält, sondern es einer rastlosen Bewegung aussetzt. Geld, so Marx, ist das »perpetuum mobile der Zirkulation« und der Kapitalist derjenige, der sein Geld dem »Risiko der Zirkulationsgefahr« aussetzt, mit der ungewissen Aussicht, dass es vermehrt zurückfließt: »Die rastlose Vermehrung des Werts, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Geld vor der Zirkulation zu retten sucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt.« In seiner »leidenschaftlichen Jagd nach dem Wert« ähnelt der Kapitalist eher dem Abenteurer und Raubritter als dem asketischen Priester, noch im Begriff des »Unternehmers« schwingt dieses manische Potential mit, das den Kapitalisten in die Nachbarschaft der Entdecker und Konquistadoren der Neuzeit stellt.

Asket und Konquistador – entsprechend diesen zwei ideellen Symbolfiguren lässt sich die Geschichte des Kapitalismus in Zyklen einteilen. In seinen expansiven Phasen zeigt er eher sein Abenteurergesicht, wie in den neunziger Jahren, die durch globale Kaperfahrten des Kapitals gekennzeichnet waren. In sogenannten Krisenzeiten wie der jetzigen gibt er sich dagegen eher moralisch-asketisch. Der Wortsinn von Krise, »krisis«, ist ja ohnehin ein religiös-moralischer und meint eigentlich »Scheidung«, nämlich Scheidung des Guten und des Bösen vor dem Gericht. In diesem Sinne geht die Rede von einer Krise immer mit einer Remoralisierung einher.
Nichts ist also falscher als die Annahme, ein solcher moral turn sei dem Kapitalismus äußerlich und würde seine »Auswüchse« kritisieren. Im Gegenteil, es ist nichts verheerender als gerade diese Kombination von Kapitalismus und Moral, weil sie der ökonomischen Repression noch die gesellschaftliche hinzufügt. Die kapitalistische Moral ist auch heute wieder eine puritanische Arbeits- und Leistungsethik. Ihre erfolgreichsten Priester in Deutschland sind derzeit Guido Westerwelle und Peter Sloterdijk. Früher waren sie eher kapitalistische Abenteurer und Marodeure, Westerwelle kurvte im Guidomobil umher und schaute bei »Big Brother« vorbei, Sloterdijk amüsierte sich im Ashram Bhagwan Shree Rajneeshs. Nun geben sie sich, dem kapitalistischen shape shifting gemäß, ernst, asketisch und moralisch. Als Konvertiten vertreten sie das Franklinsche Schweinesystem besonders radikal.
Nach dessen modernisierter Logik ist, paradox und infam genug, gerade Armut ultimativer Luxus, weil sie keine Arbeit, keine Leistung kennt. Innerhalb dieser moralischen Matrix ist der Arme der Böse, er macht sich schuldig. Einerseits hängt er an den Zitzen des Mutterschweins »Staat«, andererseits wäre er der erste, der es schlachtet. Und es sind die Reichen, denen, so sekundiert Sloterdijk, von den Armen etwas genommen wird, auf dem Umweg über die Steuern.
So schlägt in der Krise wieder die Stunde des Franklinschen Schatzbildners. Es sind die Reichen, die einerseits nichts mehr investieren, das Geldopfer verweigern, und andererseits an einer moralischen Umwertung der Werte von oben arbeiten. Die Schuld an der ökonomischen Krise wird den armen Schweinen gegeben, an die man das Geld qua Sozialleistung transferiert und derart unfruchtbar macht, anstatt es seiner Selbstverwertung zuzuführen. Die Hartz-IV-Empfänger, die ihr Geld nicht ins Sparschwein stecken, sondern für Fernseher und Fast Food ausgegeben, sind die potentiellen Mörder in Franklins Schweinesystem, die Armen ohne monetäres Gewissen, die amoralischen Endverbraucher.

Allerdings liegt in alledem auch eine Chance, nämlich die Chance, die Verhältnisse wieder sichtbar zu machen. War der Kapitalismus während seiner Kaperfahrten in den neunziger Jahren noch das gute »Ende der Geschichte«, lösten sich die politischen Wahlmöglichkeiten in einer eingebildeten »Neuen Mitte« auf, war die Politik vermeintlich »alternativlos« und musste jeder theoretischen Positionsbestimmung ein »Post-« vorgehängt werden, so werden nun die immer vorhandenen gesellschaftlichen Antagonismen wieder sichtbar ausagiert. Der moralische Klassenkampf von oben wird nun wieder mit hinreichender Deutlichkeit betrieben.
Diese neue Sichtbarkeit betrifft auch die monetären Systeme und die Verteilung des Reichtums. In den neunziger Jahren wurden, nach dem zen­tralen Grundsatz des kapitalistisch-monetären Abenteurertums, dass Geld Bewegung ist, die Geldströme so sehr beschleunigt, dass sie sich gleichsam selbst überholten und virtualisierten, ganz wie im alten Kinderlied: »Taler, Taler, du musst wandern/von der einen Hand zur andern/ … niemand darf ihn sehen.«
Durch Krisen aber entvirtualisiert sich das Geld. Um den wandernden Taler schließt sich die Faust. Die Angst vor der Entwertung treibt dazu, das beschleunigte Geld wieder in Schätze zurückzuverwandeln. Das zur Unsichtbarkeit beschleunigte Kapital wird als Schatz wieder sichtbar, gerade weil klar ist, wo es sich versteckt.
»Non olet« – es stinkt nicht, sagte der römische Kaiser Vespasian über die Sesterzen in seiner Hand. Gegenüber dieser vermeintlichen Neutralität des Geldes, die wie jede Neutralität nur eine Strategie der Totalisierung ist, machen Krisenerfahrungen klar: Geld stinkt doch.
Ein neueres amerikanisches Sprichwort lehrt: »Man kann ein Schwein mit Lippenstift schminken, aber es bleibt dennoch ein Schwein.« Den Kapitalismus zu moralisieren, auch dann, wenn man auf die Moral von oben mit einer neuen Moral von unten reagiert, würde nur bedeuten, das stinkende Geld erneut zu parfümieren; bereits Marx wusste, wie gut Opium riecht. Zu verhindern ist eine Renaissance jener Verknüpfung, die bereits an einem der Anfänge des Kapitalismus stand und nun an seinem vermeint­lichen Ende wieder aufzutauchen scheint: die Verknüpfung von Kapitalismus und religiös fundierter Moral.