Über deutsche Missbrauchsskandale

Jungsfleisch zwischen den Fingern

Was der sexuelle Missbrauch bei der Kirche, Homophobie im Fußball und die Ekelmutproben bei der Bundeswehr miteinander zu tun haben.

Seit Wochen beschäftigen drei Ereignisse, die vieles gemeinsam haben, aber doch kaum miteinander in Verbindung gebracht werden, die deutsche Öffentlichkeit. Es handelt sich um aufsehenerregende Verstöße gegen Regeln, Sitten und Gesetze. Die Rede ist von »Skandalen«, also übernehmen wir vorläufig diese Sprachregelung. Was ist das Gemeinsame der drei Skandale? Alle spielen sich in homosozialen Milieus ab. Homosozial sind Menschen mit einer Vorliebe für die Gesellschaft von Personen des gleichen Geschlechts, so die Sexualwissenschaft. Ein Frauencafé ist demnach ebenso ein homosozialer Raum wie ein Männerstammtisch. Die homosozialen Räume der gegenwärtig diskutierten Skandale zeichnen sich durch die weitgehende bis gänzliche Abwesenheit weiblicher Personen aus. Es sind Skandale deutscher Männlichkeit(en):
Erstens der Skandal um zahlreiche Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche, insbesondere bei den Jesuiten. Zum zweiten der Skandal um angebliche sexuelle Übergriffe des Schiedsrichter-Beobachters des Deutschen Fußball-Bundes, Manfred Amerell, auf den von ihm protegierten Schiedsrichter Michael Kempter und weitere Kollegen. Drittens der Skandal um sogenannte Ekelmutproben bei der Bundeswehr.
Schauergeschichten von Ekelmutproben werden immer mal wieder erzählt. Der jüngste Fall spielt bei den Gebirgsjägern in Mittenwald. Hier sollen Angehörige des Bataillons 233 (mutmaßlich untergebene) »Kameraden« gezwungen haben, rohe Leber mit Hefe zu essen – bis zum Erbrechen. Nach Bekanntwerden der Vorfälle meldeten sich weitere Soldaten, aktive wie ehemalige, denen ähnliches widerfahren war. In allen Fällen spielt Alkohol eine Rolle, weit verbreitet ist offenbar eine spezielle Form des Kampftrinkens: Kameraden werden von Kameraden gezwungen, so lange zu trinken, bis sie kotzen. Bis zum Exzess. Bis zur Vergasung.
Bis zur Vergasung. In meiner Kindheit war diese Formulierung alltäglich. In einem kleinbürgerlich-proletarischen Vorort von Frankfurt am Main wurde in den sechziger und siebziger Jahren einiges »bis zur Vergasung« getrieben. Trinken, Essen, Fußballspielen, Kartenspielen, aber auch: Arbeiten. Schaffen. Bis zur Vergasung – das hatte was von maximaler Verausgabung, von Grenzerfahrung im Alltag. Vielleicht haben manche auch gefickt bis zur Vergasung, aber davon wusste ich damals noch nichts. Es dauerte jedenfalls ziemlich lange, bis ich verstand, dass man besser nicht »bis zur Vergasung« sagt. Kontrollierte Exzesse des Alltags hatten in unserem Vorort die Vereine im Angebot. Im Fußballverein mussten wir Runden laufen bis …, wenn der Trainer einen schlechten Tag hatte. Liegestützen, Entengang, Paradeschritt, bis … Nach dem Training konnte man saufen bis … An Fastnacht ging das drei, vier, fünf Tage lang, dann kamen die Lieder dazu: »Jeder Junge hat einen Zinnsoldaten, jedes Mädchen hat einen Schützengraben, jeder Zinnsoldat muss mal in den Schützengraben.«
Das musste immer und immer wieder gesungen werden. Man musste mitsingen, man musste dabeisein, als Zehn-, Elf-, Zwölfjähriger, wenn die Älteren soffen und sangen. Man wollte ja respektiert werden, also musste man Apfelkorn trinken und das Lied vom Zinnsoldaten singen. Und so tun, als würde man kapieren, worum es geht. Wer nicht mitmacht, macht auf sich aufmerksam. Das kann unangenehm werden.
Bei den drei Skandalen stoßen wir immer wieder auf ein bestimmtes Muster: die Wiederkehr des Verdrängten. Ehemalige Jesuitenschüler berichten von Missbrauchszenen, die 30, 40 Jahre zurückliegen. Auch das Lied von den Zinnsoldaten kehrt aus der Verdrängung zurück. Ich hatte es jahrzehntelang einfach vergessen, plötzlich ist der Text wieder da.
Das Zinnsoldatenlied in der Fußballer-Kabine, ein widersprüchliches Bild. Das Lied postuliert drastisch die abstrakte heterosexuelle Norm: Jeder Zinnsoldat muss irgendwann in den Schützengraben, das ist mehr Drohung als Versprechen. Gleichzeitig bietet die Umgebung maximale homosoziale Nähe. Zwölf, vierzehn halbnackte, besoffene junge Männer in einer verschwitzten Kabine, zotige Lieder singend – da ist der Schritt von der homosozialen zur homo­sexuellen Nähe so groß nicht. Aber das ist zugleich das größte aller Tabus. Fußball ist schließlich nichts für Schwule, also gibt es keine schwulen Fußballer. Allerdings gab es in jedem Verein den einen oder anderen schrulligen Typen, das Unikum. Man wusste nicht so genau, was mit ihm los war, man munkelte. Oder er war gleich freigegeben zur offenen Verspottung.
Solche Typen waren nie aktive Fußballer. Auch keine Trainer. Sie wurden entweder Mannschaftsbetreuer (Betreuer: noch so ein Wort aus dem »Wörterbuch des Unmenschen«, »Betreuer« hat überlebt, anders als »Vergasung«) oder Schiedsrichter. Mannschaftsbetreuer sind, nomen est omen, Mädchen für alles zwischen Kabine und Spielfeldrand. Sie sorgen für die Getränke, helfen den Kleinen beim Schuhebinden, vielleicht auch beim Umziehen und beim Waschen. Sie tun alles für ihre Jungs, ehrenamtlich. Und geben nach dem Spiel noch eine Runde Cola aus. Oder Bier. Aus dem eigentlichen Fußballspiel machen sie sich anscheinend wenig, wenn mal ein Betreuer aus Versehen gegen einen Ball tritt, dann sieht das ziemlich unbeholfen aus. Mädchenhaft.
Schiedsrichter braucht jeder Verein, sonst gibt’s Geldstrafen und Punktabzüge. Man mag sie nicht, sie müssen halt sein. Schiedsrichter können in der Regel nicht kicken, deswegen sind sie ja Schiedsrichter geworden. Und weil sie daheim nichts zu sagen haben. Das kompensieren sie dann sonntags auf dem Platz.
In meinem Heimatverein gab es ein besonderes Exemplar, nennen wir ihn Heinzi. Interessanterweise hat man den komischen Betreuer- und Schiri-Typen oft verniedlichende Kosenamen verpasst, gern mit »I« am Ende – einer wurde tatsächlich »Schnucki« gerufen.
Heinzi also war Schiedsrichter. Anders als viele seiner Kollegen nahm er am Vereinsleben aktiv teil. Manchmal kickte er sogar mit, dann konnte man sehen, warum er Schiri geworden war. Heinzi machte sich zum Gespött, aber das schien ihm nichts auszumachen. Üble Beschimpfungen, fiese Witze, böse Fouls, an Heinzi prallte das ab. Er reckte das Kinn in die Höhe und machte einfach weiter. Auch wenn sie sich über seinen mädchenhaften Gang lustig machten. Sich über Heinzi lustig zu machen, gehörte einfach dazu. Auch für mich. Jahre später traf ich Heinzi wieder. Er arbeitete bei einer Behörde, ich brauchte ein Dokument, die Warteschlange war lang. »Hallo Heinzi, kannst du mich vielleicht vorlassen.« Heinzi, Kinn in die Höhe: »Nein, bitte stellen Sie sich hinten an.«
Hätte ich damals gewusst, was das bedeutet, ich hätte in Heinzi wohl einen schwulen jungen Mann erkannt, der homosoziale Räume aufsuchte, weil er in seiner Umgebung nicht in der Lage war, offen homosexuell zu leben. Da ließ er sich lieber im Fußballverein quälen und verspotten.
Eine heterosexuelle Fassade, eine Scheinfamilie etwa, wäre nicht in Frage gekommen. Wer hätte Heinzi heiraten wollen? Heinzi ist heute ein paar Jahre jünger als Manfred Amerell. Der ist 62, knapp nach dem Krieg geboren. Verheiratet, Familienvater, auch im Alter ein hagerer Asket. Schiedsrichter alter Schule. Streng, soldatisch, autoritär, keiner von der neumodischen Sorte, kein Freund der Spieler.
Für Heinzi war in der Kreisliga Endstation, die Spieler hatten einfach keinen Respekt vor ihm. Manfred Amerell wurde Bundesligaschiedsrichter und später einer der höchsten Funktionäre seiner Zunft. Als Schiedsrichterbeobachter hat er die Macht, über Karrieren junger Kollegen zu entscheiden. Eine umfassende, kaum kontrollierte Macht. Wenn er will, kann er einen weit nach oben bringen. Das System lässt zu, dass ein einziger Schiedsrichterbeobachter über Jahre die Leistung eines bestimmten jungen Kollegen beurteilt. So entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis ähnlich dem zwischen Lehrer und Schüler, Ausbilder und Rekrut. Nur intimer. Michael Kempter hat es durch Amerells Förderung schon in jungen Jahren zum Fifa-Schiedsrichter gebracht, mehr geht nicht.
Im Skandal um die katholischen Priester melden sich Tag für Tag neue Opfer. Oft sind die Taten 30 oder 40 Jahre her. Ein Opfer aus dieser Zeit sagte jetzt, ihm sei damals gar nicht klargewesen, dass das Versohlen des nackten Arschs ein sexueller Übergriff sei, das habe er erst viel später verstanden. Die Wiederkehr des Verdrängten. In unserer Jugend war es nicht ungewöhnlich, dass man von männlichen Schutzbefohlenen auf eine Art körperlich gezüchtigt wurde, die heute als unzüchtig gilt. Hose runter, Arsch versohlen, das war eben so. Woher sollten wir wissen, dass es da um Sexuelles gehen könnte? Es gab kein Rechtsbewusstsein, also auch kein Unrechtsbewusstsein, Recht hatte der Stärkere. Vater, Lehrer, Trainer. Ganz zu schweigen vom Unrechtsbewusstsein im Umgang von Männern mit Frauen. Dass ein Mann einer Frau hinterherpfeift? Na und? Dass das mal sexuelle Belästigung genannt und als solche sanktioniert werden könnte? Unvorstellbar.
Tatsächlich habe ich bis vor ein paar Tagen erfolgreich verdrängt, dass das Versohlen des nackten Arschs eine sexuelle Komponente hat. Für mich war das die normale Alltagsbrutalität der autoritären deutschen Nachkriegsgesellschaft, geprägt von Männern, die die meiste und wichtigste Zeit ihres Lebens ohne Frauen verbracht haben. In homosozialen Milieus: Sportverein, Kirche, Militär, Krieg.
Die Nachkriegsgesellschaft bestand in der alten BRD lange fort, mindestens bis in die frühen Siebziger, ’68 kam ja überall verspätet an, von wenigen Zentren abgesehen. Bis tief in die Siebziger gab es Lehrer wie Dr. Meder. Geschichte, Latein, Kunstgeschichte, geboren im frühen 20. Jahrhundert. Im homosozialen Milieu unseres »Gymnasiums für Jungen« – wir waren der letzte Jahrgang vor Einführung der sogenannten Koedukation – hatte sich Dr. Meder eine spezielle Technik der Züchtigung ausgedacht, die vermutlich von jedem Schulgesetz gedeckt war, weil sie keinen nennenswerten physischen Schaden am Gezüchtigten hinterließ. Dr. Meder, ein drahtiges weißgraues Männchen, näherte sich dem Schüler, beugte sich zu ihm herunter, legte ein sardonisches Lächeln auf und führte die rechte Hand zum Gesicht seines Opfers. Mit erstaunlichem Geschick klemmte er ein Stück Wange zwischen seinen Zeige- und Mittelfinger und drehte dieses Stück Jungsfleisch, als würde er eine Schraube festzurren. Das tat nicht sehr weh, aber man bekam einen roten Kopf, sehr unangenehm. Heute wissen wir, dass Dr. Meders Wangenschraube ein Angriff auf die körperliche Integrität war. Heute erkennen wir die sexuelle Dimension des Übergriffs. Damals war es normal. Alter Nazi halt.
Der schönste Tag meines Lebens war die erste heilige Kommunion. Das wurde mir eingetrichtert im Kommunionsunterricht: Deine erste heilige Kommunion wird der schönste Tag in deinem Leben sein! Der alte Pfarrer, würdevoll distanziert, der junge Kaplan, hohläugig-furchterregend wie Klaus Kinski in den Edgar-Wallace-Filmen. Da musste man hin und sich die Kommunion verabreichen lassen. Eingeschüchterte Zehnjährige in Erwartung des Leibes Christi, eingesperrt in dunklen Beichtstühlen. Der schönste Moment deines Lebens? Im Kälbermarsch zum Altar, auf die Holzbank knien, die Zunge so weit rausstrecken, wie es geht. Dann kommt der alte Mann mit dem strengen Blick und dem strengen Geruch und legt die bittersaure Oblate auf die herausgestreckte Zunge. Den Finger-Zunge-Kontakt vermeidet er dabei nicht. Der schönste Tag in deinem Leben? Irgendwie dann schon. Das Schlimmste ist jetzt vorbei. Aus diesem Gefängnis kannst du bald raus.
40, 45 Jahre ist das jetzt her. Die Gesellschaft ist heute eine andere. Was damals Norm und Alltag war, ist heute schon mal Skandal. Die jüngsten Skandale gründen in homosozialen Milieus, die sich als hartnäckig modernisierungsresistent erweisen. Genau das macht sie für viele Männer so attraktiv. Die Institutionen Kirche, Fußballverein und Bundeswehr mögen sich mitverändert haben in den vergangenen Jahrzehnten, sie bieten aber noch immer homo­soziale Räume und Strukturen, in denen Männer ihre Macht und/oder ihre körperliche Überlegenheit missbrauchen können, ohne bestraft zu werden. Gerade in bestimmten linken Kreisen wird die Existenz solcher Milieus gern geleugnet oder verharmlost, auch aus Gründen der Selbstaufwertung. Viele Achtundsechziger halten sich zugute, diese Zöpfe abgeschnitten, diese Ställe ausgemistet zu haben, schwuler Außenminister, Frau im Kanzleramt, schwarzer US-Präsident, so leuchtet unsere Zivilgesellschaft. Daher weigern sich viele, das Fortleben und Florieren solcher Milieus zur Kenntnis zu nehmen. Zur Kenntnis zu nehmen, dass die Amerells, Benedikts, Mixas und wie sie alle heißen eben nicht nur komische Freaks aus dem Mittelalter sind, sondern bis heute an Schaltstellen dieser Gesellschaft sitzen und dafür sorgen, dass ihre homosozialen Räume ungestört weiterbestehen. Nur wer ignoriert, dass die psychosoziale Nachkriegszeit in manchen Nischen der Gesellschaft bis in die Gegenwart reicht, kann von den Vorfällen in Bundeswehrkasernen, Schiedsrichterkabinen und katholischen Einschlussmilieus wirklich überrascht sein. Und sie als skandalöse Einzelfälle verbuchen. Und nicht als normalen kontrollierten Exzess in autoritär strukturierten homosozialen Milieus deutscher Männlichkeit(en).