Über den Film »Ajami«

Wo Gott seine Religionen ablud

Das von Arabern, Juden und Christen bewohnte Armenviertel Ajami ist kein Schmelztiegel, sondern ein Dampfdrucktopf. Der gleichnamige israelische Episodenfilm zeigt, wie Konflikte unter Nachbarn eskalieren.

Angst ist eine große Schande. Nur Feiglinge laufen weg. So lauten die Glaubenssätze, die sich die Figuren des Films »Ajami« an den Kopf werfen. Und sie haben auch allen Grund dazu: Omar (Shahir Kabaha), sein kleiner Bruder Nasri (Fouad Habash) und Kumpel Malek (Ibrahim Frege) haben einen Beduinenclan aus dem Süden Israels an den Hacken. Dabei hat der Clan mit dem Ärger angefangen: Gerade noch stand ein Mitglied der Gang im Café von Omars Onkel – und hat mit der Maschinenpistole herumgeballert. Nein, Omars Familie wollte das Schutzgeld einfach nicht zahlen.
Natürlich bleibt es nicht dabei. Alsbald ist der Gangster querschnittsgelähmt und der Onkel schwer verletzt. Weil die Welt ungerecht ist, macht das unterm Strich eine fünfstellige Ausgleichssumme, die Omar an den Clan zahlen soll. So urteilt der weise Dorfrichter und wendet damit Unheil ab.
Zunächst ist die Angelegenheit nur teuer. Dabei wird es aber nicht bleiben. Denn wenn das Geld nicht binnen 37 Tagen auf dem Tisch liegt, wird die ganze Familie ermordet. Ein schöner Deal. So hält sich Omar ran: Autodiebstahl, Drogenverkauf – es wird alles ausprobiert, was Geld verspricht. Vor allem lernt das junge Familienoberhaupt, wie man sich eine blutige Nase holt. Denn er kann wirklich überhaupt nichts dafür – der Gangster wider Willen steht noch ganz am Anfang seiner Karriere.
Und sein Freund Malek? Schmuggelt sich illegal über die Grenze, um in einem Restaurant als Küchenjunge zu arbeiten, da er Geld für die lebenswichtige Operation seiner Mutter braucht. Der Job, den er gezwungenermaßen annimmt, lässt ihn aber zu ganz neuen Einsichten kommen. Sein Kollege Binj, gespielt von Scandar Copti, einem der beiden Regisseure des Films, hat sich in eine Jüdin verliebt und verlässt deshalb immer häufiger die engen Grenzen seines Viertels, um mit der schönen Freundin ins Nachtleben Tel Avivs abzutauchen. Aber er bekommt auch Kontakt zur Drogenszene, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Als er seinen Freunden erzählt, dass er plant, mit seiner Freundin in Tel Aviv zusammenzuziehen, werfen sie ihm Verrat an der Kultur und Identität der Araber vor. Unterdessen werden sein Bruder und sein Vater unter dem Verdacht, einen Menschen erstochen zu haben, eingesperrt – und ihn ereilt bald das gleiche Schicksal.
Wie auch der Lebensweg dieser jungen Männer im einzelnen aussieht, eines wird klar: Ihre Jugend ist definitiv vorbei. »Ajami« ist auch ein Film über die prekäre Zeit des Erwachsenwerdens. Die Jugend ist vorbei, ab jetzt dürfen keine Fehler mehr gemacht werden. Zufälle und Fallen lauern jedoch überall.
Schauplatz des Spektakels ist das Viertel Ajami in der israelischen Stadt Jaffa nahe Tel Aviv, das vornehmlich von arabischen Israelis bewohnt wird. In Jaffa hat Gott seine drei Religionen abgeladen, und sie verstehen sich nicht immer miteinander. Judentum, Islam und Christenheit wohnen hier beisammen. Nicht dass das Zusammenleben grundsätzlich nicht funktionieren würde. Aber es ist eng, es gibt verschiedene Gebräuche und vor allem ganz unterschiedliche Machtverhältnisse. Aus diesen Strukturen herauszukommen, scheint schwer. Die Verknüpfung mit dem Thema Jugend zeigt: Man kann ja nicht mal sich selbst entkommen. So ist der Film nicht nur ein äußerst spannender Thriller, sondern auch eine Parabel aufs ganze Leben.
»Ajami« verknüpft fünf Geschichten von im Viertel lebenden Juden, Arabern, Christen und Muslimen miteinander und erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen von den jeweiligen Lebenswirklichkeiten der Menschen, die am Ende doch miteinander verstrickt sind.
Omar ist der Protagonist jenes Erzählstrangs, der das Leben arabischer Israelis widerspiegelt. Ein anderer Strang erzählt von dem wohlhabenden Kaufmann Abu Elias (Youssef Sahwani), der Malek hilft. Er gehört der Arabisch sprechenden christlichen Minderheit in Jaffa an. Abu Elias besitzt Restaurants, hat Einfluss und ist ein lokalpolitisches Schwergewicht. Aber ihm entgleitet die Kontrolle über das Familienleben, wie er es kannte. Denn die Tochter hat sich ausgerechnet in den jüdischen Jungen Omar verliebt.
Dann ist da noch die Geschichte des jüdischen Polizisten Dando (Eran Naim), der nur beruflich mit den Bandenkriegen zu tun hat. Plötzlich verschwindet sein Bruder, der als Soldat in den palästinensischen Gebieten eingesetzt war. Nun droht die Familie zu zerbrechen, und Dando wachsen die Konflikte über den Kopf. Dann geht ein anonymer Hinweis ein, das israelische Militär startet eine Suchaktion. In einer Höhle wird der Leichnam eines Soldaten gefunden, und schließlich, nach langem Warten, wird er als Dandos Bruder identifiziert.
Wenig später stehen die Polizisten vor Binjs Tür und verlangen Einlass. Was hinter der Tür wirklich passiert, wird nie jemand erfahren. Gewiss ist in dieser Stadt nur, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Und gewiss ist auch, dass Binj am nächsten Tag tot ist.
Der Episodenfilm »Ajami« wurde von Kameramann Boaz Yehonatan Yaacov perfekt fotografiert. »Ajami«, das ist ein großer Eintopf, in dem Erzählungen wie auch Erzählweisen mit viel Energie zusammengemischt werden. Die Regisseure spielen mit hohem Einsatz, wenn sie das Leben aller Protagonisten auf schicksalhafte Weise miteinander verknüpften. Sie haben es aber dennoch geschafft, dass Handlung, Figuren und Konstellation nicht konstruiert wirken. Das Charakteristische des Films ist der Verzicht darauf, Schuldige für Vorgänge zu suchen, die sich mit ein wenig Glück auch anders ereignet haben könnten. Hier treffen Menschen unterschiedlicher und durchaus rabiater Weltreligionen unter komplizierten Bedingungen in einer brisanten Weltregion zusammen. Armut und auch die Beschränktheit aller Beteiligten lassen die scheinbar unausweichlichen Konflikte entstehen. Ein wenig klaustrophobisch kommt das rüber.
Es sieht aus, als hätten sich mit Scandar Copti und Yaron Shani die richtigen getroffen: Copti ist arabischer Christ aus Ajami. Seine Familie lebt auch heute noch dort. Shani ist ein jüdischer Israeli. 2002 arbeitete er als Leiter des Internationalen Studentenfilmfestivals Tel Aviv und lernte Copti kennen. Seit dieser Zeit haben sie an »Ajami« gearbeitet.
»Die Idee war, verschiedene Geschichten zu erzählen, eine nach der anderen«, sagt Regisseur Shani. Aber dann wurde es eine, die aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt wird. Eine gute Wahl.
Copti sagt, dass er sich an diesem Ort nun einmal auskenne. »Solche konfliktbehafteten Orte bieten sich an, wenn man dramatische Geschichten erzählen will.« Es wurde meist mit Laiendarstellern gearbeitet. Und auch das war eine gute Wahl.

»Ajami« (D, ISR 2009). Regie: Scandar Copti, Yaron Shani. Darsteller: Shahir Kabaha, Fouad Habash, Ibrahim Frege. Start: 11. März