»Schlafende Hunde« von Marko Martin

Erst Yad Vashem, dann vögeln

Die kurzen Erzählungen von Marko Martin sind große Literatur.

Was macht der gealterte Ostdeutsche, der, auch Jahre nach dem Fall der Mauer, Ostdeutscher geblieben ist in seinem Inneren, in einer Bar in Marseille, in der eine ebenfalls gealterte Tunte, die sich »Cocaine« nennt, zu Vollplayback Lieder trällert? Welcher Deutsche eilt gleich nach einem Besuch von Yad Vashem nach Tel Aviv, um sich dort mit den braunen Jungs vom Strand die Seele aus dem Leib zu ficken? Warum dringt das schwule Berliner Paar in einem afrikanischen Land, das noch vom Bürgerkrieg gezeichnet ist, langsam in die heterosexuelle Ehe zweier Amerikaner ein, wenn auch unfreiwillig? Wie erlebt ein Deutscher, der sich für locker hält, eine Orgie in Teheran, und was denkt er, als die Revolutionswächter klingeln?
Marko Martin beschäftigt sich mit diesen und vielen anderen Fragen in seinem Erzählungsband »Schlafende Hunde«, der vor einigen Monaten in der Anderen Bibliothek bei Eichborn erschienen ist.
Der Band glänzt wieder durch seine Aufmachung, neben einem edlen, weil schmalen Lesebändchen und der obligatorischen Fadenheftung beeindruckt der Einband durch sein schwarz-weißes Dalmatinermuster, das sich ein bisschen wie ein Fell anfühlt. Der Band ist darüber hinaus sorgsam gesetzt, wenngleich die von den Setzern gewählte Type nicht so schön, weil nicht so gut lesbar ist. Auf diese Details, die normalerweise in keiner Buchrezension Erwähnung finden, soll hier eingegangen werden, denn sie sind einer der Gründe dafür, dass dieses Buch, obschon es ein gutes Buch ist, ein wenig untergegangen ist im Literaturbetrieb.
Denn die Andere Bibliothek ist, obschon sie, in der Nachfolge von Hans Magnus Enzensberger, von Klaus Harpprecht und Michael Naumann herausgegeben wird, die ja nicht wenig prominent sind, seit einigen Jahren immer mehr an den Rand des Literaturbetriebs gedrängt worden, unter anderem auch, weil die Bücher der Anderen Bibliothek die Rezensenten daran erinnern, wie Bücher aussehen könnten, wären sie etwas anderes als eine lieblos produzierte Massenware.
Dies aber, wie gesagt, ist nur ein Grund dafür, dass das Buch unverdientermaßen verhältnismäßig unbeachtet blieb. Der andere und wohl auch gewichtigere Grund dafür ist im Autor selbst zu suchen, in etwas, was wohl noch immer als Deformation wahrgenommen wird, jedoch keine Deformation ist. Der Autor nämlich ist offen schwul, stolz und dabei nicht im klassischen Sinne links. Zwar hat er einst seine journalistische Karriere bei der Taz begonnen, doch schnell fand er auch andere Publikations­orte, zurzeit sind seine Texte vor allem in der Welt und in der FAZ zu finden.
Marko Martin ist Antikommunist, doch ist er kein Rechter, sondern ein Liberaler, auch wenn das Wort »liberal« dank einer merkwürdigen Partei heute so einen hässlichen Beiklang hat. Für sein eigentliches Umfeld wiederum ist er wahrscheinlich sogar ein Linker. Denn Martin, der vor fast vierzig Jahren in Burgstädt in Sachsen geboren ist, verließ die DDR im Mai 1989 als Kriegsdienstverweigerer. Was er als ein solcher vor seiner Reise auszustehen hatte, lässt sich nur ahnen, was er als junger Schwuler in der NVA hätte ausstehen müssen, ist ebenso kaum vorstellbar.
Martin studierte, lebte lange in Paris, seitdem bereist er die Welt, während der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Birma Ende 2007 war er der dortige Sonderkorrespondent der Welt. Als Reisender ist er allerdings immer ein politischer Denker, sein Ideal ist die Freiheit aller, nicht der bewaffnete Kampf von Völkern für ihr Selbstbestimmungsrecht. Marko Martin glaubt an den Westen. Doch zwingt ihn die Verachtung all der stumpfen eurozentristischen Antiamerikaner nicht dazu, Bush zu lieben und Obama zu hassen. Seines Feindes Feind ist nicht unbedingt sein Freund.
Just das aber, zusammen mit der schwulen Perspektive, die Marko Martins Erzählungen prägen – in denen manchmal so beiläufig gefickt wird, dass es einige mit Sicherheit verstören wird –, bereitet vielen bürgerliche Rezensenten Schwierigkeiten mit diesem Autor. Die Schwulenpresse wiederum, die lieber eine von Scheuklappen beschränkte Klientelpolitik betreibt, statt einem allgemeinen Freiheitsrecht das Wort zu reden, betrachtet jemanden wie Martin mit Skepsis.
Das ist schade. Denn man muss Martins politische Positionen nicht mögen, um seine Erzählungen, Romane und Reportagen schätzen zu können. Martin hat sich, gerade für die in »Schlafende Hunde« versammelten acht Erzählungen, eine sehr feine Beobachtung auferlegt, die auch Missverständnisse genauestens seziert.
So trägt etwa Daniel, einer der Protagonisten der Titelerzählung, auf einer Party in einem vom Bürgerkrieg geschüttelten Land ein roséfarbenes Hemd. »›Ist das eine politische Demonstration?‹ Jasons Stimme hatte die gleiche, leicht verschwörerische Färbung, mit der er in den Jahren zuvor Worte wie Tuntenbarock, Lohnfortzahlung-im-Krankheitsfall oder Röhm-Affäre ausprobiert hatte. ›Was ist los‹, fragte Daniel leise. Jetzt begannen ihn auch die Gäste in der Diele anzustarren.« Daniel reagiert angesäuert und trotzig, trifft dann auf einen deutschen Entwicklungshelfer: »Das Cocktailglas in der Hand, zeigt er auf das roséfarbene Hemd. ›Ist das Absicht?‹ ›Wegen des Schwulen-Rosa‹, fragte Daniel. (…) ›Wegen der Völkermörder‹, sagte Oliver. ›Zweihunderttausend von denen sind im Gefängnis, aber die meisten arbeiten tagsüber draußen auf den Feldern. Sogar in der Stadt laufen sie mit ihren Flamingo-Hemden herum.‹«
Missverständnisse wie diese sind es, die Marko Martin sehr detailliert beschreiben kann. Der gealterte Ostdeutsche, der, obschon er es hasst, selbst ins Sonnenstudio geht, projiziert seinen Selbsthass auf die ebenso gealterte Marseiller Tunte, die ihm vor Jahren, als Reisefreiheit noch ein Ereignis war, die große Welt bedeutete. Dass die Tunte, deren Pseudonym »Cocaine« der entsprechenden Erzählung den Namen gibt, genauso am Jugendideal gescheitert ist wie er, merkt er erst spät. Er muss zurück zu seinem Job, ausgerechnet als Touristenführer im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit, und hofft inständig darauf, in der schwulen Idylle ein bisschen bleiben zu dürfen – versagt es sich aber zugleich.
Martin pflegt, wie er es als Journalist gelernt hat, einen trockenen, nüchternen Stil. Nur selten wird er belehrend. Er beschreibt und fabuliert nicht, die meisten seiner Sätze sitzen. Und sie sind besser als das schwülstige Zeug, mit dem man heutzutage – homo- oder heterosexuell – angegangen wird. Seine »Schlafenden Hunde« begeistern mit Weltgewandtheit und Weltoffenheit. Dafür sollte man den Autor schätzen, was immer man sonst auch an seinen politischen Kommentaren kritisieren will. Literatur ist selten und muss verteidigt werden.

Marko Martin: Schlafende Hunde. Erzählungen. Eichborn-Verlag, Frankfurt a.M. 2009. 384 Seiten, 32 Euro