»Komödie des Alterns« von Michael Scharang

Marx, Musil, Musik

In der »Komödie des Alterns«, seinem ersten Roman seit zwölf Jahren, zeigt Michael Scharang, dass man als Linker nicht allein einen Begriff von Kritik, sondern auch einen Begriff von Poesie haben kann.

Es ist ein sonderbares und rätselhaftes Land. Österreich hat Grissemann und Stermann, Michael Haneke, Ulrich Seidl, Elfriede Jelinek, Michael Scharang, Wolf Haas, Thomas Glavinic, Gerhard Rühm, Thomas Bernhard und Ernst Jandl (beide verstorben). Deutschland hat Mario Barth, Bernd Eichinger, Sönke Wortmann, Martin Walser, Ildikó von Kürthy, Durs Grünbein, Botho Strauß, Kristiane Allert-Wybranietz, Heinz G. Konsalik und Heinrich Böll (beide verstorben). Damit ist im Grunde schon alles gesagt.
Aber das hier soll am Ende ja ein längerer Text werden, in dem es um den österreichischen Schriftsteller Michael Scharang und dessen neuen Roman geht. Erstaunlich ist es schon, dass ausgerechnet aus dem weltweit unterschätzten und vor allem für seine überaus hübschen Kaffeehäuser und seinen unbeschwerten Antisemitismus bekannten »kleinen kotelettförmigen Land« (Bernd Eilert), der »Eiterbeule Europas« (T. Bernhard), nicht nur eigenwillige Käsesorten, Rechtspopulisten und Inzestmörder, sondern auch immer wieder gute literarische Texte kommen. Warum das so ist, weiß niemand zu sagen. Es ist eben so. In Scharangs neuem Roman »Komödie des Alterns« erklärt sich ein Franzose die Verbitterung der Österreicher so: Die Nazis seien verbittert, »weil sie den Krieg verloren«, die Antifaschisten seien verbittert, »weil die Nazis trotz des verlorenen Kriegs immer noch das Sagen hätten«. Möglicherweise sind in einem Land voller verbitterter Menschen die Entstehungsbedingungen für Literatur besonders günstig.
Der 69jährige Scharang, ein prononciert politischer Schriftsteller, kann heute als Ausnahme­erscheinung gelten: ein Linker, der sich für Ästhetik interessiert; ein Kommunist, der, was selten genug vorkommt, nicht allein einen Begriff von Kritik, sondern auch einen von Poesie hat; einer, der aufmerksam macht auf die »massenhafte Schundproduktion, die unter dem Namen Roman ihr Unwesen treibt«, und dagegen das »Sprachkunstwerk« setzt, und der eine »formbewusste und engagierte Prosa« (Falter) schreibt, in der es klar, geordnet, streng und gleichmäßig zugeht.
Heute schlägt er zuweilen einen heiter querulierenden, bernhardesken Erzählton an, verfolgt aber ansonsten ein literarisches Programm, mit dem man es als Künstler derzeit schwer hat: Er schreibt noch immer Romane, in denen die Frage nach den Möglichkeiten einer Veränderung der Gesellschaft gestellt wird und diese Frage auch die Sprache des Textes, die literarische Form durchdringt. Seine Gesellschaftskritik ist keine von der Art, die – wie in vielen linken Trivialromanen minder begabter Autoren – wie ein strenger Geruch dem schematisierten, »fortschrittlichen« Romaninhalt entströmt.
Die Handlung sei kurz skizziert: Scharang erzählt von einer 40 Jahre währenden Männerfreundschaft zwischen dem aus einer Arbeiterfamilie stammenden Österreicher Heinrich Freudensprung, einem Schriftsteller und Philosophen, und dem Ägypter Zacharias Sarani, Spross einer einflussreichen Familie, der Naturwissenschaftler und Ingenieur ist. In eingeschobenen Rückblenden lesen wir von ihrer Jugend, davon, wie die beiden Männer sich kennen gelernt haben und zu Freunden geworden sind. Angetrieben von der Idee, dem Kapitalismus eine »andere Art des Wirtschaftens« entgegenzustellen und gewissermaßen versuchsweise ein richtiges Leben im falschen zu entwerfen, errichten sie gemeinsam mit anderen mitten in der Wüste eine Art sozialistisches Modellprojekt, eine genossenschaftlich organisierte Farm, die im Laufe der Jahre zum florierenden Wirtschaftsunternehmen heranwächst.
Irgendwann aber geschieht etwas, das beide Männer, die mittlerweile das 60. Lebensjahr hinter sich haben, dazu bringt, vom jeweils anderen anzunehmen, er sei ein Schurke und habe die Freundschaft »gemein verraten«. »Für beide gab es nur einen Schuldigen: den anderen.« Doch wäre das Ganze keine Komödie, würde sich nicht irgendwann alles in Wohlgefallen, Lebensgenuss und Sinnenfreude auflösen.
Indes lernen wir etwas über Sandstürme in der Wüste, über die Arbeit in einem österreichischen Stahlwerk, begleiten die beiden Protagonisten, wenn sie auf einen Berg klettern, in einer Almhütte im Hochgebirge sitzen, in einem Festzelt in der Wüste speisen oder in der Wartehalle eines Flughafens stehen.
Wobei das Geschehen Scharang zu Genüge Anlass bietet, seinen beiden alternden Hauptfiguren, starrsinnigen, des Lebens überdrüssigen und dennoch fröhlichen Querulanten, wiederholt einschlägige Kommentare zu Kunst, Sprache, Politik, Gesellschaft, Ökonomie, Arbeit und Religion in den Mund zu legen: Die Welt, in der »unter all den Zumutungen, die einem entgegenschlugen«, »die Zumutung, dass es einen Gott geben soll, die unverfrorenste war«, sei »von Religionen bis zur Unbewohnbarkeit verkrustet«. Ihre Änderung zum Besseren beginne »mit der Änderung der Wirtschaft, nicht mit einer Änderung der Politik, die doch, zusammen mit Polizei und Militär, nur eine schützende Glocke über einer grotesken Wirtschaftsordnung« sei. Der Bürger »organisiere unermüdlich Arbeit, wobei er sich begünstige, den andern übervorteile« und »Tag und Nacht die Welt verwalte, die er als ein einziges riesiges Geschäft betrachte«. Nur diejenigen »sprächen von sich als Elite, die es nicht sind, während die anderen, welche, gäbe es einen positiven Begriff von ihr, die Elite wären, diesen Begriff nicht nur für sich, sondern schlechthin ablehnten«.
Scharang schreibt über Marx, Musil und Musik, über den Gebrauchswert wie über Schuberts Streichquintett, über das Wesen des Kapitalismus und der Revolution wie über Fragen der Kunst, weil er weiß, dass das eine nicht ohne das andere zu denken ist.
Wenn Sie also endgültig genug haben von all den geistlosen Langweilern und eitlen Literaturbetriebsnudeln, vom neuen »Jahrhundertroman« Lieschen Müllers, von den zahlreichen, Saison für Saison mit ihren Bestsellern die Buchhandlungen überflutenden deutschen Fräuleinwundern und Jungschriftstellertalenten, die der deutschen Sprache nur rudimentär mächtig sind und ihr Befindlichkeitsgestammel mit Literatur verwechseln, von wahlweise »atemberaubenden«, »fesselnden«, »spannenden« oder sonstwie verzichtbaren Machwerken talentloser »Kultautoren«, von der von Scharang bereits vor Jahrzehnten kritisierten »Schlammlawine des literarischen und politischen Kunstgewerbes«, all den »die Kunstszene bevölkernden Opportunisten, diesen stets anachronistischen Adjutanten des Zeitgeists«, von den bedenklichen Erzeugnissen Margot Käßmanns und Stephenie Meyers und den anderen meterhohen Stapeln frisch bedruckten Altpapiers, die in deutschen Buchhandlungen herumstehen, von der unfassbaren Menge Rotz, der in den »Kulturkaufhäusern«, Hugendubel-Filialen, Bezirksbibliotheken und Goethe-Instituten dieser Welt die Regale verstopft, dann sollten Sie vielleicht den neuen Roman von Michael Scharang lesen, der es mit dem Schreiben, so ist anzunehmen, so hält wie seine beiden Protagonisten, wenn sie einander Briefe schreiben: »Sie schrieben nicht im Plauderton, sondern wohlüberlegt, und suchten für die Sache, um die es ging, den schönsten Ausdruck, der Sache wegen, aber auch aus Lust am Klang der Wörter.« Vielleicht ist ja dieser Roman was für Sie. Da haben Sie gewissermaßen was Reelles. Etwas, was es in der Form praktisch heute kaum mehr geben dürfte: richtige Literatur, deren Verfasser sich Mühe gegeben hat. Über 250 Seiten, bedruckt mit einem Text in deutscher Sprache, in dem die Konjunktive stimmen. Selbst die Zahl der Druckfehler ist überschaubar. Derlei hat man heute nicht mehr oft. Kaufen Sie das. Sie tun ein gutes Werk. Und können beim Lesen noch etwas lernen, z.B. über die Herrscher und die Beherrschten: Jene beteuern »in ihrer Hirnlosigkeit, nicht zu herrschen«, diese sind »in ihrer Hilflosigkeit überzeugt, nicht beherrscht zu werden«.

Michael Scharang: Komödie des Alterns. Ein Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2010. 253 Seiten, 19,80 Euro