Historiker als beflissene Dienstleister

Meine Firma und ich

Die Erosion der Geisteswissenschaften hat längst auch die Historikerzunft erfasst. Ihr jüngstes Zerfallsprodukt heißt »angewandte Geschichte«.

Die Behauptung, Geschichte werde von den Siegern geschrieben, war schon immer genauso falsch wie die gegenteilige Annahme, wonach Geschichtsbücher nichts als neutrale Darstellungen von Fakten seien. Gerade weil Historiographie gar nicht anders als »narrativ« sein kann, kommt ihr in glücklichen Konstellationen Verbindlichkeit zu. Die Form der Darstellung, die ihren Gegenstand zugleich konstituiert, verstellt durch solch konstruktiven Eingriff nicht den Blick, sondern ermöglicht historische Erkenntnis. Erst in der Postmoderne ist die Basisbanalität, dass keine Geschichtsschreibung ohne die reflektierte Subjek­tivität derer auskommt, die sie betreiben, zu der Lüge verfälscht worden, alle Historiographie sei immer schon »konstruiert«, der Glaube an ihren Erkenntnisgehalt mythologisch. Diente die pseudokritische Entzauberung der Historiographie aber früher wenigstens der Infragestellung naiver Überzeugungen von der »Objektivität« geschicht­licher Prozesse, fungiert sie heute als Legitimationsideologie für die fröhliche Selbstabschaffung einer ganzen Disziplin. Ähnlich den regredierten Germanisten, die ihr Fach in Creative-Writing-Seminaren diversen Judith-Hermann-Klonen als Vermittlung von »Kernkompetenzen« anpreisen, scheinen auch Historiker ihre einzige berufliche Perspektive zunehmend darin zu sehen, sich als akademisch geadelte »Content Manager« auf dem »Markt für historische Dienstleistungen« an den meistbietenden Dummbeutel zu verkaufen.

Die Frustration über den Bedeutungsschwund der Geschichtswissenschaft, der selbst zum Gegenstand historischer Forschung erhoben werden müsste, wird sublimiert in der Begeisterung über die neue »Marktorientierung«, die nichts anderes ist als ein Euphemismus für die Verwandlung des Historikers zum neofeudalen Hofschreiber. Interessanterweise stammen die Formulierungen über Historiographie als »Content Management « und »Dienstleistung« nicht von einem Mitglied der digitalen Boheme, sondern von einem Autor der Welt und Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit internationaler Reputation. Es handelt sich um Gregor Schöllgen, der seit 1985 Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg lehrt, wo er das Zentrum für Angewandte Geschichte (ZAG) gegründet hat, das im Februar sein zehnjähriges Bestehen feiern konnte. In einem programmatischen Artikel für die Welt über den »Historiker als Dienstleister« hat Schöllgen aus diesem Anlass die ideologischen Essentials des Projekts zusammengefasst. Sein wichtigstes Anliegen ist es, der »staatlichen Alimentierung«, die die akademische Innovationskraft hemme, durch »Marktorientierung«, also durch das Einwerben von Aufträgen bei Unternehmen und Stiftungen, zu entkommen, um seine Disziplin »für die Herausforderungen von heute und morgen nutzbar« zu machen. Auch in der Selbstdarstellung des ZAG wird die »Nutzbarmachung« und »Kapitalisierung« von »Geschichte« affirmativ als Arbeitsziel benannt. Verschwiegen wird, dass sich dadurch der Stellenwert des wissenschaftlichen Gegenstandes grundlegend ändert: Was vorher allein Objekt geduldiger Deutungsarbeit gewesen ist, verwandelt sich dem »Dienstleister« zum bloßen Anlass für die Erprobung seiner Fachkompetenz, die sich nicht etwa in der Erkenntnis ihres Gegenstandes verwirklicht, sondern routiniert auf ihn »angewendet« werden soll.

Die Anwendungsorientierung geht konsequent mit einem Totalausfall historischer Grundlagenreflexion einher. Wichtigstes Arbeitsgebiet der angewandten Geschichte ist nicht zufällig die Familienunternehmensforschung, die schon immer eher hagiographische Funktionen erfüllte und ihre Hochkonjunktur im späten 19. Jahrhundert hatte. Zu den »Kunden« des ZAG gehören die Siemens AG, deren Archivbestände das ZAG betreut, das Versandhaus Quelle, dem mehrere Studien Gregor Schöllgens gewidmet sind, das Unternehmen Schöller, über dessen Gründer er ein Buch mit dem Titel »Der Eiskönig« geschrieben hat, und das Unternehmen Brose, das Automobiltechnik herstellt und dessen Familiengeschichte Schöllgen in einem weiteren Buch ausbreitet. Außerdem kooperiert das ZAG mit der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, für die Schöllgen Brandts Nachlass herausgegeben hat, und mit dem Auswärtigen Amt, für das er seit 2005 als Mitherausgeber der »Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland« verantwortlich zeichnet.
Das ZAG ist also selbst ein autokratisches Ein-Mann-Unternehmen in der Tradition von Quelle, Schöller und Brose, wo ohne den Chef nur wenig läuft und dessen in marktliberaler Rhetorik beschworene Kunden in Wahrheit nicht in freier Konkurrenz angeworben wurden, sondern dem eigenen Hause dank quasi-feudaler Klientelpolitik in freundschaftlicher Treue verbunden sind. Die »marktgesteuerte Nachfrage«, von der Schöllgen in seinen Interviews und Texten redet, ist nichts als ein Alibi für die Durchsetzung einer vormodernen Cliquenwirtschaft auf modernstem Niveau.

Die Idee, sich durch Verzicht auf die eigene Reflexionsfähigkeit als Geschichtsprofi und Vorkämpfer gegen »staatliche Alimentierung« an diverse »Kunden« und »Auftraggeber« heranzuwanzen, die früher allenfalls als exemplarische Erkennt­nisobjekte in Betracht kamen, kommt vor allem bei Nachwuchshistorikern gut an, die sich ihre berufliche Tätigkeit ohnehin nicht anders denn als akademisch aufgemotzte Ich-AG vorstellen können. In Berlin etwa gibt es ebenfalls seit zehn Jahren eine von den Historikern Alexander Schug und Hilmar Sack betriebene »Vergangenheitsagentur«, die für ihre Publikationen einen eigenen »Vergangenheitsverlag« unterhält. Zu ihren Auftraggebern zählen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, BASF sowie die Sparkasse, für die die Agentur eine Sparschwein-Sonderedition entworfen hat.
Dass dem Geschichtsdienstleister kein Auftrag zu dämlich sein darf, erläutert Schug, der als Lehrbeauftragter für angewandte Geschichte an der Humboldt-Universität arbeitet, auch in seinem 2004 erschienenen Buch »History Marketing«, worin er die »zielgruppengerechte und fachlich versierte Darstellung von Geschichte« als Arbeitsfeld von Historikern beschreibt. Um den solcherart bestimmten Begriff »angewandter Geschichte« von ordinärer Werbung zu unterscheiden, betont Schug den konstruktiven Charakter von Kritik, die bei der Erstellung fachlich versierter Hagiographien nicht unterdrückt werden dürfe, sondern als »Krisenprävention« gegen »Imageschäden« und »Teil der strategischen Kommunikationsarbeit« begriffen werden müsse.
So kommt Gerhard Schröders Maxime, wonach ein Staat wie ein Unternehmen zu regieren sei, zu sich selbst. Das »selbstkritische« Verhältnis zur Vergangenheit, das Schröder zum Erfolgskonzept gemacht hat, wird nun auch jedem Familienunternehmen als PR-Strategie empfohlen. Dass sich diese aufgeklärte Propaganda auf das in den siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelte Konzept der Public History beruft, kann nur als Ironie der Geschichte begriffen werden. Stand Public History doch, ähnlich wie die Tradition der Alltagsgeschichtsschreibung, für den Anspruch, die Deutungshoheit über historische Prozesse der akademischen Kaste zu entreißen und zum Gegenstand öffentlichen Streits zu machen. Angewandte Geschichte dagegen erzählt Unternehmensgeschichte als Autobiographie in der dritten Person und revitalisiert so einen geradezu Bismarckschen Personenkult. Objektivität, verstanden als Verbindlichkeit historischen Urteilens, hat darin so wenig Platz wie die Meinung des Gesindes, zu dem der Historiker sich selber macht.