»Irene Binz. Befragung« von Ronald M. Schernikau

Vom Dichter zum Sohn

Vor 30 Jahren hat Ronald M. Schernikau ein Interview mit seiner Mutter geführt. Aus diesem Material ist später seine Kunstfigur Irene Binz entstanden. Der Rotbuch-Verlag hat den Stoff nun in Kolportage verwandelt.

Reportage, Interview und Dokumentation gehörten zu den wichtigsten Arbeitsweisen von Ronald M. Schernikau. Allerdings hat er sich ihrer nie unreflektiert bedient und sich nicht als Verfasser »dokumentarischer Literatur« verstanden. Die Protokollpassagen, die etwa in seinen Prosatext »die tage in l.« oder in sein posthum veröffentlichtes, bis heute kaum erschlossenes Großwerk »legende« eingeflossen sind, erfüllen nicht die Aufgabe, einen direkten Wirklichkeitsbezug herzustellen oder den »einfachen Menschen«, die dort zitiert werden, das Wort zu erteilen. Stattdessen werden die Zitate in einem vielschichtigen Fiktionalisierungsprozess zu einem völlig neuen Text verknüpft, der den empirischen Personen, auf die er sich bezieht, manchmal sogar widerspricht. Anders als zum Beispiel Maxie Wander in ihrer großartigen Interviewsammlung »Guten Morgen, du Schöne«, die sich dem Alltagsleben von Frauen in der DDR widmet, geht es Schernikau auch nicht darum, die verwendeten Dokumente als exemplarische Zeugnisse einer Epoche kenntlich zu machen. Im Gegenteil ist sein Verfahren in gewisser Weise anti-dokumentarisch. Die »dokumentarischen« Textfragmente werden bei ihm in eine Sprache überführt, die die Möglichkeit, geschichtliche und biographische Erfahrung unmittelbar abzubilden, radikal infragestellt.
Im siebten Abschnitt seiner »legende« hat Schernikau dieses Verfahren an einem Gegenstand erprobt, der sich wie kaum ein anderer gegen Distanzierungen und Verfremdungen zu sperren scheint. Hier verwendet er Passagen eines umfangreichen Textkonvoluts, das die Abschrift eines Gesprächs mit seiner Mutter Ellen enthält, mit der Schernikau im Herbst 1981 in Hamburg ein langes Interview geführt hatte. Ähnlich wie in den Interviews von Maxie Wander war es dabei nicht um ein von vornherein festgelegtes Thema gegangen. Vielmehr zeichnet das Gespräch mit seinen assoziativen Sprüngen zwischen Kindheitserlebnissen, Problemen des Alltagslebens, Ehe, Familie und Sexualität, Ellen Schernikaus Flucht in die BRD und den Sympathien Schernikaus für die DDR, deren Staatsbürger er 1989 werden sollte, sehr genau die Verflechtung von Politischem und Persönlichem nach, die ein wichtiges Thema von Schernikaus Texten ist. In der »legende« werden diese Materialien nicht nur chronologisch neu gruppiert, sondern auch stilistisch verdichtet. Zugeordnet wird der Text nicht mehr Schernikaus Mutter, sondern der fiktionalen Figur Irene Binz. Der Titel des Abschnitts, der eine eigentümliche Mischform von Bühnenstück und lyrischem Monolog ist, lautet »Irene Binz. Die Frau im Kofferraum«.
All das muss man wissen, um die Unverschämtheit zu ermessen, die ausgerecht Rotbuch, Schernikaus früherer Hausverlag, mit der Veröffentlichung des angeblich »erstmals aus dem Nachlass« edierten Manuskripts »Irene Binz. Befragung« an den Tag legt. Wirklich neu an dieser Publikation, die in Wahrheit nichts anderes als Schernikaus erste Bearbeitung der Abschrift des Gesprächs mit seiner Mutter zugänglich macht, ist allenfalls die Mischung aus Sensationslust und Unkenntnis, die sich in einer solchen Anpreisung äußert. In einer »Notiz« am Ende gesteht Herausgeber Thomas Keck durch die Blume sogar selber ein, dass der Text, den Schernikau zu Lebzeiten aus guten Gründen in dieser Form nicht publiziert hat, hier durch editorische und rhetorische Kniffe zu einem »neuen« Werk zurechtgelogen worden ist. Für Schernikau selbst war das nun inklusive von Familienfotos und einem aktuellen Interview mit Ellen Schernikau vorliegende Manuskript nämlich, wie Keck völlig richtig schreibt, lediglich ein »Bearbeitungsschritt« bei der Arbeit am Binz-Text. Darüber, dass Ellen Schernikau bereits hier, wie in der späteren Fassung, nicht ihren biographischen Namen trägt, dass ihre Sätze später sogar in Versform übertragen worden sind, dass der biographische Bezug in der Bearbeitung also zurückgenommen wird, verlieren weder Keck noch Dietmar Dath ein Wort, der den Text, dessen Rohform für eine eigene Veröffentlichung kaum ausgereicht hätte, mit einem sprachlich und gedanklich kargen Vorwort garnieren durfte.
Nun ist gegen die Publikation literarischer Vorarbeiten und sonstiger Materialien natürlich nichts einzuwenden. Wenn sie von einem Autor wie Schernikau stammen, dessen Werk sehr voraussetzungsreich ist, mögen sich dabei mitunter völlig neue Erkenntnisse ergeben. Desaströs wird es aber, wenn die Vorarbeit, wie es hier geschieht, als der »eigentliche« Text verkauft wird. Dath, der in seinem Essay die gewohnten postmodernen Diskursversatzstücke diesmal mit vulgärromantischen Befindlichkeitsphrasen mischt – Schernikaus Text sei »die aller­innigste und zarteste Musik« –, bringt sogar die Schamlosigkeit auf, für die Tatsache, dass der Text in der »legende« in Versen verfasst ist, die Erklärung ins Spiel zu bringen, Schernikau habe die Arbeit der Poetisierung »nur für die allerärmsten und lahmsten Krücken auf sich genommen, welche Dichtung erst erkennen, wenn sie Verse vor sich sehen«. Eine Erklärung, die er freilich sofort zu der nicht minder banalen Behauptung abschwächt, »dies alles« seien eben »einfach jeweils unterschiedliche Fassungen«. Sprachlich verdichtete Texte sind demnach im Grunde etwas für Dumpfbacken, während Geistesmenschen den Unterschied zwischen Urtext und Bearbeitung gar nicht mehr ziehen müssen, weil sie Dichtung erkennen, sobald sie aus dem Mund von Mama sprudelt. Statt jedoch die Arbeitsschritte nachvollziehbar zu machen, die zwischen dem Urtext und seiner literarischen Umformung liegen, gibt der vorliegende Band die frühe Fassung des Textes als dessen »echtere« Variante aus und macht aus Schernikau, dem Dichter, wieder unmittelbar Schernikau, den Sohn.
Zu alldem passt, dass die editorischen Anmerkungen, die eigentlich dazu dienen sollten, direkte und indirekte Anspielungen, historische und literarische Zusammenhänge transparent zu machen, in der vorliegenden Ausgabe gerade einmal fünf karge Seiten einnehmen und sich in Erklärungen der Art erschöpfen, der Rias sei der »Rundfunk im amerikanischen Sektor« gewesen. Wen Schernikau als Autor dermaßen langweilt, dass er die verantwortungsvolle Aufgabe des Textkommentars bei einer Tasse Kaffee nach Feierabend erledigt, der sollte vielleicht besser ganz die Finger von ihm lassen. Interessant scheint Schernikau, der bis zu seinem frühen Tod nur einem kleinen Kreis von Freunden und Kollegen bekannt war, auch heute nicht als Autor, sondern nur als öffentliche Person zu sein. Als eine Art Szene-Freak nämlich, der als DDR-Wahlbürger, bekennender schwuler Kommunist und Bohemien posthum einen neudeutschen Exotenbonus zugesprochen bekommt. Rotbuch steuert zu dieser Legende, die nie Schernikaus eigene gewesen ist, die Information bei, der Outcast sei ein guter Sohn und Familienmensch gewesen, genau das also, was er in Wahrheit als allerletztes war: einer wie du und ich.

Ronald M. Schernikau: Irene Binz. Befragung. Rotbuch-Verlag, Berlin 2010. 224 Seiten, 16,95 Euro