Gentrifizierung in Berlin

Mehr Licht, Platz und Sonne

Durch die Aufwertung ihrer Quartiere fühlen sich immer mehr Berliner an den Rand gedrängt. Inzwischen beschäftigen sich alle Parteien mit dem Thema.

Allein im vergangenen Jahr sind in Kreuzberg die Quadratmeterpreise bei Neuvermietungen um 7,2 Prozent gestiegen. 6,73 Euro kostet nun der Quadratmeter im Durchschnitt. Das ist keine linksradikale Propaganda, sondern ist so in der Berliner Ausgabe der Bild-Zeitung zu lesen, und auch im aktuellen Wohnungsmarktreport der GSW, einer längst privatisierten, ehemals städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Der Szenebezirk erreicht damit fast die Werte von Charlottenburg und hat Zehlendorf überholt. Innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren sind in Berlin die Mieten um etwa 25 Prozent gestiegen – bei gleichbleibenden Einkommen und Null Prozent Inflation.

Diese Entwicklung nennt sich Gentrifizierung und hat inzwischen nicht nur einzelne Quartiere wie den Kollwitzplatz oder den Bergmann-Kiez, sondern fast alle Bezirke der Hauptstadt erfasst. Die Quartiere werden modernisiert und damit aufgewertet, die Mieten steigen, und ein immer höherer Teil des Einkommens muss für die Wohnungskosten aufgebracht werden. Zu Zeiten des Mauerfalls lag der Wert für Miete und Nebenkosten im Westteil der Stadt bei etwa 25 Prozent des Verdienstes, inzwischen nähert er sich rapide der Marke von 40 Prozent. Es sind nicht nur die ganz Armen, deren Miete noch über Hartz IV gesichert wird, besonders betroffen sind der untere Mittelstand und das akademische Prekariat, die bei dieser Entwicklung nicht mehr mithalten können. Wer genügend Geld gespart hat, flüchtet sich in die Eigentumswohnung oder eine Baugruppe. Wer weder über Erspartes noch Geerbtes verfügt, kann sich seine nächste Wohnung in Marzahn oder Spandau suchen.
Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 wird dieses Thema wahrscheinlich eine zentrale Rolle spielen. So unstrittig die Zahlen sind, so unterschiedlich sind die politischen Bewertungen und möglichen Antworten darauf. Man sollte noch einmal kurz einen Blick zurück werfen. Nach den Boomjahren infolge des Mauerfalls wurde ein Wachstum der Bevölkerung auf fünf Millionen Einwohner prognostiziert.

Noch um die Jahrtausendwende befürchteten Experten die Entstehung von Armutsvierteln rund um die aufgewerteten Quartiere in Mitte und am Kollwitzplatz. Hunderttausende Mittelschichtsfamilien hatten, entgegen aller »Planungen«, in den Jahren nach der Wende die Innenstadtviertel verlassen und sich im Speckgürtel ein Eigenheim zugelegt. Noch im Jahr 2002 gab es Zeitungsberichte über den »Absturz der Oranienstraße« in Kreuzberg, die von entsprechend fallenden Immobilienpreisen begleitet wurden.
Diese Entwicklung hat sich komplett umgekehrt. Viele Ex-Berliner wenden sich, enttäuscht vom Leben auf dem Land, wieder der Stadt zu. Der Senat hat aufwändig für Townhouses geworben, um das Wohnen in der Stadt für einkommensstarke Bevölkerungsgruppen wieder attraktiv zu machen. Die einfachere Variante davon sind die derzeit populären Baugruppen, in denen der gut Verdienende ein neues Zuhause für sich und seine Kinder schafft. Hinzu kommt, dass Berlin für den weltweiten Tourismus immer attraktiver geworden ist und die Armut der Stadt als »sexy« vermarktet wird. Allein im gutbürgerlichen Riehmers Hofgarten in Kreuzberg sollen 60 Wohnungen als Ferienappartements vermietet werden. Und die Regierung und die Verbände und Lobby­organisationen, die sich in ihrem Schlepptau befinden, ziehen eine Menge gut bezahlte junge Leute an die Spree. Trotzdem rechnen inzwischen alle Experten höchstens noch mit einer gleichbleibenden Einwohnerzahl der Stadt. Als besonders preistreibend bei den Mieten erweist sich der Verkauf eines großen Teils des öffentlichen Wohnungsbesitzes. Denn warum sollte eine private Immobiliengesellschaft nicht die höchstmögliche Marge an Profit herauswirtschaften? Der frühere Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) hat die wenigen Wohnungsgesellschaften, die weiter im Besitz des Senats sind, der gleichen profitorientierten Logik unterworfen.
Es dauerte keine fünf Jahre, bis diese Entwicklung zum handfesten Problem für das Zusammenleben in der Stadt wurde. Mittlerweile nimmt auch eine größere Öffentlichkeit, alarmiert durch die fast jede Nacht in den betroffenen Vierteln brennenden Luxus-Autos, das Problem wahr. Anfänglich wurde es nur in kleinen Stadtteilinitia­tiven und Expertenkreisen diskutiert. Ein immer größerer Teil der Berliner Bevölkerung fühlt sich ökonomisch und sozial an die Wand gedrängt und verdrängt.
Jetzt zeigen sich alle besorgt, mit Ausnahme der zuständigen Senatorin für Stadtentwicklung Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Ihrer Ansicht nach sollten sich die Berliner Mieten mit denen in Paris und London vergleichen. Wer sich die teuren Mieten im Zentrum nicht leisten könne, müsse eben in günstigere Quartiere umziehen, sagte sie lapidar im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Ihre politische Konkurrenz hingegen ist aufgewacht. Insbesondere Franz Schulz, der grüne Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, macht trocken formulierte Vorschläge, deren Verwirklichung fast sozialrevolutionäre Konsequenzen hätte. In einem offenen Brief fordert er die Koppelung der gesetzlich zulässigen Mieterhöhungen an die Inflationsrate. Derzeit sind innerhalb von drei Jahren 20 Prozent zulässig, ohne jegliche Verbesserung des Wohnwerts. Ebenfalls gefordert wird die Begrenzung der Modernisierungsumlagen auf die tatsächlichen Kosten für den Vermieter – sind die neuen Fenster abbezahlt, sinkt die Miete wieder. Bei Neuvermietungen soll der Mietspiegel als Grundlage dienen. Und zumindest in Milieuschutzgebieten sollte sich die zulässige Miete langfristig an 25 Prozent des Durchschnittseinkommens orientieren. Bei den Grünen in Berlin bleibt offen, ob sich der linke Kreuzberger Flügel innerparteilich durchsetzen kann. Der ökologische Flügel der Partei träumt von einer energetischen Sanierung der Stadt, die »sehr viel Geld kosten wird«, sagte die Fraktionsvorsitzende Franziska Eichstädt-Bohlig auf dem »Grünen Mietenkongress 2010«. Der grüne Abgeordnete Dirk Behrendt musste sie darauf hinweisen, dass »man sich entscheiden muss, ob man auf der Seite der Mieter oder der Vermieter steht«.

Eindeutig auf der Seite der Mieter befindet sich das Bündnis »Steigende Mieten stoppen« (), das einen Katalog mit sieben zentralen Forderungen vorgelegt hat. Darin wird ein neues Mietrecht, ähnlich dem der Initiative der Kreuzberger Grünen, gefordert. Das Bündnis plädiert nicht nur für ein Verbot von Zwangsräumungen bei Beziehern von Hartz IV, sondern fordert auch, dass die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen verboten wird.
Anders als bei diesem radikalen Programm sieht es bei einigen Initiativen aus dem autonomen Milieu aus, die die Auseinandersetzungen um die Aufwertung von Stadtteilen primär als kulturellen Konflikt beschreiben. Als ob das Bestehende erhaltenswert wäre, wird jede Veränderung als Einbruch des »Fremden« von außen beschrieben und somit faktisch wertkonservativ argumentiert. Ihren traurigen Höhepunkt erreicht diese Politik, wenn zum Protest gegen Baugruppen aufgerufen wird und nicht einmal mehr zwischen den Nutzern einer Wohnung und Investoren mit Renditeinteressen unterschieden wird. Doch viele Menschen wollen endlich die Zentralheizung und mehr Licht, Platz und Sonne.
Es kommt darauf an, wer das bezahlt. Der Stadtentwicklungsexperte Uwe Rada fragt zu Recht, ob nicht das eigentliche Problem »die Spaltung auf dem Arbeitsmarkt ist«. Denn die meisten Berliner verdienen viel zu wenig, und auf dem Wohnungsmarkt der Stadt wird das ganz konkret wahrnehmbar.