Die Rache des Emirs. Selbstmordanschläge in Moskau

Die Rache des Emirs

Nach den Selbstmordanschlägen in Moskau und im Nordkaukasus suchen die russischen Behörden nach den Drahtziehern. Der »Emir« des Nordkaukasus, Dokku Umarow, hat sich bereits zu den Anschlägen bekannt.

Nach fast sechsjähriger Pause wird in der russischen Hauptstadt seit Montag vergangener Woche wieder über den Nordkaukasus diskutiert. 40 Tote und Dutzende Verletzte erinnerten die Moskauer schmerzlich an die ungelösten Konflikte in dieser Region. Die zahlreichen Meldungen über Terroranschläge in den dortigen Provinzen werden häufig ignoriert. Zur Hauptverkehrszeit am frühen Morgen sprengten sich in der Moskauer Metro im Abstand von 20 Minuten zwei Selbstmordattentäterinnen in die Luft. Die erste Bombe explodierte in der Metrostation Lubjanka, 30 Meter unter der Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB, die zweite detonierte in einem Zug, der durch die Detonation an der Station Park Kultury an der Weiterfahrt Richtung Lubjanka gehindert wurde. Möglicherweise wurden die Sprengsätze ferngezündet.

Eine der Selbstmordattentäterinnen ist mittlerweile identifiziert worden. Es handelt sich um die 17jährige Witwe des ehemaligen Anführers einer islamistischen Gruppe in Dagestan, der Ende vorigen Jahres getötet wurde. Die Identität der zweite Attentäterin ist noch nicht eindeutig geklärt. Angeblich soll es sich um die Witwe eines ebenfalls im vergangenen Jahr getöteten tschetschenischen Untergrundkämpfers handeln.
Zwei Tage nach den Anschlägen in Moskau kamen infolge zweier Selbstmordattentate in Kizljar zwölf Menschen ums Leben. Die Stadt befindet sich in unmittelbarer Nähe zur tschetschenischen Grenze in der russischen Republik Dagestan im Nordkaukasus, in der seit Jahren besonders viele terroristische Anschläge verübt werden. Die russische Regierung mutmaßt, alle vier Attentate könnten von derselben Gruppe verübt worden sein. Grund dafür ist nicht nur die zeitliche Nähe, sondern auch der Umstand, dass Kizljar wegen seiner guten Verkehrsanbindung bereits in der Vergangenheit als logistischer Knotenpunkt für die Vorbereitung von Attentaten in Moskau diente. Der Mittäter eines im September von der Miliz vereitelten Anschlags hatte ein Zugticket Kizljar-Moskau in der Hosentasche. Auch die Selbstmordattentäterinnen von Moskau könnten über diese bewährte Route in die Hauptstadt gelangt sein.
Wie immer nach spektakulären Anschlägen in Moskau – davon gab es in den vergangenen elf Jahren, seit Beginn des Aufstiegs von Wladimir Putin, eine ganze Reihe mit Hunderten von Todesopfern – gibt sich die Öffentlichkeit wilden Spekulationen hin. Die Frage: »Wem nützt es?« wird üblicherweise mit »dem Kreml« oder »dem FSB« beantwortet und steht im Zusammenhang mit der Frage nach den Drahtziehern im Hintergrund.
Zwei Tage nach den Anschlägen veröffentlichte der islamistische Untergrund in seinem Internetorgan, der Webseite »Kavkazcenter«, ein Video, in dem der Anführer der Untergrundkämpfer, Dokku Umarow, vorgibt, die Attentate seien auf seinen direkten Befehl hin erfolgt. Er erklärte, es handele sich um eine Vergeltungsaktion für die Ermordung unschuldiger junger tschetschenischer Bauern während einer Antiterror-Operation an der Grenze zu Inguschetien Mitte Februar.

Ein öffentliches Bekenntnis ist zwar längst kein Beweis, in diesem Fall jedoch deutet der Umstand, dass zur Vorbereitung von Selbstmordattentaten nur wenige Gruppen und Personen in Frage kommen, darauf hin, dass Umarow tatsächlich hinter den Anschlägen stecken könnte.
Als der einstige tschetschenische Separatist Umarow im Oktober 2007 die Entstehung des »Emirats Nordkaukasus« ausrief und gleichzeitig »allen Gegnern des Islam« weltweit den Krieg erklärte, wollte ihn in Russland kaum jemand richtig ernst nehmen. Im Vergleich zum langjährigen Kampf für ein territorial unabhängiges Tschetschenien waren Umarows Ambitionen zu unkonkret, um das politische Establishment zu beunruhigen. Die Konflikte zwischen kaukasischen Bevölkerungsgruppen ließen außerdem einen übergeordneten Kampf gegen die russische Regierung unwahrscheinlich erscheinen.
Zur Befriedung des Konflikts in Tschetschenien, das im Vergleich zu anderen Nordkaukasusrepubliken groß, mächtig und ethnisch einheitlich ist, kennt man im Kreml heute nur ein Rezept: Geld spenden und beide Augen zudrücken. Die tschetschenische Führung unter Präsident Ramsan Kadyrow erhielt im Jahr 2009 Subventionen in Höhe von umgerechnet rund 1,5 Milliarden Euro. Dass Kadyrows Methoden zur Bekämpfung des Untergrunds, über dessen Größenordnung es nur unzuverlässige Angaben gibt, wenig zur Beruhigung der angespannten Lage im Kaukasus beitragen, ist Nebensache.

Die Menschenrechtsorganisation Memorial, die nach vorübergehender Einstellung ihrer Arbeit in Tschetschenien wieder dort präsent ist, berichtet von der von Umarow in seiner Erklärung erwähnten Antiterror-Operation, dass unschuldige Opfer als »Kämpfer« deklariert wurden, und von etlichen ähnlichen Vorfällen sowie von Mord und Folter, die von den tschetschenischen und inguschischen Sicherheitsorganen verübt wurden. Durch dieses brutale Vorgehen ist für einen ständigen Nachwuchs der Untergrundkämpfer gesorgt, so dass tote Kämpfer leicht durch neue ersetzt werden können.
Die Struktur und die personelle Basis des »Emirats« und insbesondere der zu radikalen Aktionen bereite Personenkreis haben sich in den vergangenen Jahren entscheidend verändert. Die Rekrutierung brauchbarer Kader erfolgt längst nicht mehr allein in den Republiken, in denen häufig Anschläge und Antiterror-Operationen stattfinden. Die Islamisten können sich auf einen wachsenden Rückhalt in weiten Teilen der Bevölkerung stützen, was mit den politischen Umständen im Kaukasus, dem Schüren von Angst, aber auch der ungehindert blühenden Korruption in der Region zusammenhängt. So ließ sich der kürzlich ermordete Anzor Astemirow, einer der Anführer der Jihadisten in Kabardino-Balkarien, seine Terrordienste von lokalen Geschäftsleuten bezahlen. Gleichzeitig existieren bewaffnete Einheiten, die in Konfrontation mit den Islamisten stehen, weil sie eigene ökonomische Interessen verfolgen oder dies im Auftrag mächtiger Staatsdiener tun.
Der radikale Untergrund kennt keine Nationalitäten mehr. Der Anfang März getötete Said Burjatskij, alias Alexander Tichomirow, einer der Chefideologen des Jihad und verantwortlich für die Ausbildung von Selbstmordattentätern, stammt ursprünglich aus dem buddhistisch geprägten Ulan Ude. Der Russe Pawel Kosolapow aus Wolgograd wird wegen möglicher Beteiligung an den Moskauer Attentaten gesucht. Über ihn ist wenig bekannt, außer der Tatsache, dass er nach seinem Armeedienst zum Islam übergetreten ist und sich Umarow angeschlossen hat.
Die Sicherheitsdienste sind offenbar bereits im Voraus über die Terroranschläge in Moskau informiert worden. Allerdings dürften sie kaum in der Lage sein, vor Ort effektiv nach potentiellen Attentätern zu suchen. Der Moskauer Durchschnittsmilizionär lässt sich in der Regel von einfach zugänglichen und in der russischen Gesellschaft weit verbreiteten und akzeptierten rassistischen Bildern leiten. Kontrolliert wird, wer »kaukasisch« aussieht. Wer als »Slawe« daherkommt, ist unverdächtig, selbst mit einem Fernzünder in der Hand.