Wie deutsche Unternehmen die Rechte der Arbeitnehmer umgehen

Unter falscher Flagge

Immer mehr Unternehmen in Deutschland geben sich eine ausländische Rechtsform. Dabei handelt es sich um einen weiteren Baustein zur Aushebelung der Rechte auf betriebliche Mitbestimmung.

Arbeitnehmerrechte lassen sich nicht nur aushöhlen, sich lassen sich auch von findigen Unternehmen einfach umgehen. Zum Beispiel, indem man sich eine ausländische Rechtsform gibt, für die die deutschen Gesetze der Mitbestimmung nicht gelten. Einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge hat diese Strategie der Umgehung von Arbeitnehmerrechten in den vergangenen Jahren zugenommen. Danach hat sich die Zahl der in Deutschland ansässigen Unternehmen mit mindestens 500 Mitarbeitern, die eine ausländische Rechtsform haben und keine Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Aufsichtsräten kennen, in den letzten vier Jahren deutlich erhöht – von 17 Anfang 2006 auf 37 Ende 2009.
Gemessen an der Gesamtzahl von insgesamt 2 200 Unternehmen dieser Größenordnung, die eigentlich der gesetzlichen Mitbestimmung unterliegen, ist das zwar noch keine sehr große Zahl. »Aber die rechtliche Lücke ist an sich ein Problem, das mit jedem Fall, der dazu kommt, größer wird«, kritisiert Sebastian Sick von der Böckler-Stiftung diese Tendenz.

Hier ansässige Kapitalgesellschaften mit deutscher Rechtsform und mehr als 2 000 Mitarbeitern müssen nach dem Mitbestimmungsgesetz die Hälfte ihrer Aufsichtsratsposten mit Arbeitnehmervertretern besetzen. Für Aktiengesellschaften (AG) und Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), die über mehr als 500, aber weniger als 2 000 Beschäftigte verfügen, gilt eine Drittelparität: Jedes dritte Aufsichtsratsmandat muss von einem Vertreter der Arbeitnehmerseite wahrgenommen werden.
Allerdings hat der stets marktorientierte und investorenfreundliche Europäische Gerichtshof zur Förderung des Binnenmarktes eine Ausnahmeregelung zugelassen, der zufolge auch in Deutschland ansässige Firmen eine Rechtsform wählen können, wie es sie in anderen EU-Ländern gibt. Die deutsche Mitbestimmung gilt für sie nicht. »Ihre Beschäftigten müssen auf Mitbestimmungsrechte verzichten, die in vergleichbaren Unternehmen mit rein deutscher Rechtsform selbstverständlich sind«, moniert die Böckler-Stiftung. Als besonders prominente Beispiele nennen die Autoren der Studie die Fluggesellschaft Air Berlin, die Drogeriemarktkette Müller, das Logistikunternehmen Dachser und die deutsche Tochter der Fastfoodkette McDonald’s.
Die Wahl einer ausländischen Rechtsform begründen die Unternehmen nach Angaben der Böckler-Stiftung meist mit einer »einfacheren Koordination ihrer internationalen Aktivitäten«. Nach Einschätzung von Forschern der DGB-nahen Stiftung häufen sich aber ganz offensichtlich Fälle, in denen Unternehmen die deutschen Gesetze zur betrieblichen Mitbestimmung umgehen, um sich der Kontrolle durch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat entledigen wollen.
So habe etwa der Chef von Air Berlin, Joachim Hunold, explizit dieses Ziel benannt. Nun ist eben dieser ja auch kein unbeschriebenes Blatt, was den Kampf gegen Gewerkschaften und betriebliche Mitbestimmung angeht. Hunold, so der Tagesspiegel in einem Porträt seiner Person vom 13. März 2006, »hasst Gewerkschaften, nennt ihre Vertreter ›Betonköpfe‹ und polemisiert bei jeder Gelegenheit gegen die Mitbestimmung. Einen Betriebsrat gibt es nicht.« Denn die Beschäftigten von Air Berlin werden von der regional in weitere Kleinfirmen zergliederten Tochtergesellschaft Cabin and Handling Services eingestellt. So umgeht Hunold die Mitbestimmung – ein System, das inzwischen zahlreiche Nachahmer gefunden hat. Die Gewerkschaften beschuldigen Air Berlin, von den Mitarbeitern überlange Arbeitszeiten zu fordern und ihnen zu wenige Ruhepausen zuzugestehen. Bei Air Berlin herrsche ein Klima von Druck und Angst, deswegen sei auch öffentlich von den Mitarbeitern kaum etwas gegen die gewerkschafts- und arbeitnehmerfeindliche Politik des Unternehmens zu hören.

Der deutschen Tochtergesellschaft des schwedischen Textilkonzerns H&M werfen die Autoren der Böckler-Stiftung vor, die Rechtsform just zu dem Zeitpunkt gewechselt zu haben, als die Betriebsräte versuchten, einen sogenannten mitbestimmten Aufsichtsrat durchzusetzen. Und auch hier haben wir es lediglich mit einem weiteren Markstein in einer längeren Auseinandersetzung um die Durchsetzung von Mindeststandards betrieblicher Mitbestimmung zu tun. »Bei der Modekette Hennes & Mauritz wird die Mitbestimmung der Beschäftigten systematisch erschwert.« Das schwedische Unternehmen halte sich zudem in deutschen Niederlassungen nicht an Gesetze, Tarifverträge und Arbeitsschutzmaßnahmen, sagte noch 2008 ein Verdi-Vertreter gegenüber dem ZDF-Magazin »Frontal 21«. Inzwischen hat sich die Strategie des Managements offenbar ausdifferenziert. Dort, wo bereits Betriebsräte bestehen, soll nun versucht werden, »geeignete« Beschäftigte in diese hineinzuhieven und für eine arbeitgeberfreundliche Arbeitnehmervertretung zu sorgen. Bei Neugründungen von Betriebsräten hingegen wird weiterhin geblockt, gemobbt und getrickst, bis die Initiatoren mürbe geworden oder gekündigt sind.
Weitere Unternehmen, die mit der Annahme einer ausländischen Rechtsform die Mitbestimmung in Aufsichtsräten unterlaufen, sind die Modekette Esprit und die Spedition Kühne + Nagel, wie die Studie der Böckler-Stifung feststellt. Sie gehören zu jenen Personengesellschaften, in denen ein ausländisches Unternehmen Gesellschafter ist. Diese Möglichkeit, die Mitbestimmung zu umgehen, gibt es allerdings schon seit Bestehen des Mitbestimmungsgesetzes. Weitere Unternehmen dieser Kategorie sind die Drogeriemarktkette Müller und United Parcel Service (UPS) mit 16 500 beziehungsweise 14 000 Beschäftigten.
Die Hans-Böckler-Stiftung fordert im Hinblick auf die ausländischen Rechtsformen hiesiger Unternehmen eine Gesetzesänderung und verweist auf den bereits 2006 vorgelegten Bericht einer Regierungskommission zur Mitbestimmung. Bereits damals sei das Phänomen von der Kommission unter der Leitung des CDU-Politikers Kurt Biedenkopf kritisch bewertet worden. »Deshalb sollte die Politik mit einer gesetzlichen Regelung nicht länger warten«, fordert die Böckler-Stiftung. Noch 2006 hatten dieselben Autoren allerdings eher versucht zu beruhigen. Von Flucht aus der Mitbestimmung könne keine Rede sein, vielmehr herrsche auch bei Unternehmensspitzen ein hohes Maß an Akzeptanz vor. Diese vorsichtige Herangehensweise könnte jedoch auch taktisch motiviert gewesen zu sein, um keine schlechte Stimmung zu schaffen.

Insgesamt hat sich die Situation der betrieblichen Arbeiternehmervertretungen in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert. So gibt es immer weniger Firmen mit gewähltem Betriebsrat: Nur noch 45 Prozent der Lohnabhängigen in Westdeutschland arbeiten in einem Unternehmen mit Betriebsrat. 1993 waren es noch 51 Prozent. In Ostdeutschland beträgt der Anteil nur noch 38 Prozent. Im Privatsektor sind solche Lücken und die gewerkschaftsfreien Räume gerade in Dienstleistungsbranchen riesig geworden. Zugleich wird von Unternehmerseite immer öfter die Wahl eines Betriebsrats mit direktem Druck auf die beteiligten Beschäftigten verhindert.
Dass eine zunehmend arbeitgeberfreundliche Rechtsprechung inzwischen auch die Bagatellkündigung zu einem Mittel gemacht hat, mit dem sich unbequeme Mitarbeiter und Betriebsräte vom Hals schaffen lassen, ist Ausdruck dieser verschärften Gesamtsituation. Wer heute einen Betriebsrat gründen will und mit diesem mehr vorhat, als über den Veranstaltungsort für die nächste Weihnachtsfeier mitzubestimmen, der braucht häufig ein ziemlich dickes Fell und eine fähige und kämpferische Gewerkschaft im Rücken. Allzu oft ist davon nicht viel vorhanden.
Dass man sich gegen die Angriffe auf die betriebliche Mitbestimmung wehren muss, dürfte zumindest in linken Kreisen unstrittig sein. Allerdings ist es durchaus angebracht, auf die Janusköpfigkeit dieser institutionalisierten und eingefrorenen Form des Klassenkonflikts hinzuweisen. Betriebsräte und Arbeitsnehmervertreter in Aufsichtsräten bedeuten zum einen durch die historische Arbeiterbewegung erkämpfte Einschränkungen des Machtgefälles in den Arbeitsbeziehungen. Zugleich aber sind sie – so wie sie genutzt werden – überwiegend Organe der Stellvertretung und der Zusammenarbeit, mit der die reibungslose Einbindung der Lohnabhängigen in die Produktion gewährleistet werden soll. Und so hat es denn auch eine gewisse Logik, wenn der DGB und die Böckler-Stiftung in ihren Veröffentlichungen ständig darauf hinweisen, wie standortförderlich und profitabel die betriebliche Mitbestimmung gerade auch für die Arbeitgeberseite sei. »Mitbestimmung bietet handfeste ökonomische Vorteile und ist ein Standortvorteil für deutsche Unternehmen«, so warb etwa der DGB 2006 auf einer Sonderseite zu 30 Jahren Mitbestimmungsgesetz. Diese Behauptung wird durchaus von entsprechenden Studien gestützt.
Besonders problematisch ist dabei die Rolle von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten. Vom Telekom-Streik 2007 bis zur Opel-Krise hat sich auch in den vergangenen Jahren in erschütternder Deutlichkeit gezeigt, dass Gewerkschafter in Konzern-Aufsichtsräten als loyale Sprachrohre der Unternehmensleitung auftreten und relativ erfolgreich versuchen, deren Interessen ihrer gewerkschaftlichen Basis schmackhaft zu machen. Im Fall Opel war Aufsichtsratsmitglied und Gesamtbetriebsratsvorsitzender Klaus Franz gar zeitweilig so etwas wie ein halboffizieller Sprecher für Opel Deutschland, der statt des abgetauchten Managements als Standortverteidiger agierte, immer das Unternehmensinteresse im Blick. Die Arbeitsplätze sind trotzdem futsch.