Regierungskrise in Belgien

In Brüssel versteht man sich nicht

Nach dem Rücktritt der belgischen Regierung sollen Neuwahlen eine Lösung bringen. An der strukturellen Krise, die durch den Sprachenkonflikt befördert wird, ändert sich dadurch wahrscheinlich nichts.

Es ist ein hektischer Frühling in Brüssel. Der kleine Staat Belgien machte in den vergangenen Wochen Schlagzeilen wie seit langer Zeit nicht mehr. Zuerst mit der Regierungskrise, dann mit dem Burka-Verbot. Die Regierung des flämisch-christdemokratischen Ministerpräsidenten Yves Leterme zerbrach Mitte April am heftigen Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen über die Zukunft des zweisprachigen Brüsseler Wahlkreises, der schon in der Vergangenheit die eine oder andere Regierungskrise ausgelöst hatte. Doch kurz bevor ein neues Parlament gewählt wird, haben die belgischen Abgeordneten noch einmal Einigkeit gezeigt und ein Gesetz verabschiedet, welches das öffentliche Tragen einer Ganzkörperverschleierung unter Strafe stellt.
Als die flämisch-liberale Partei Open VLD ihren Austritt aus der Koalition von Leterme verkündete, der auch der frankophon-liberale Mouvement Réformateur, die Christdemokraten beider Sprachgruppen sowie der Parti Socialiste angehörten, erschien der Ministerpräsident beim König, um den Rücktritt seiner Regierung anzubieten. Albert II. jedoch verwies auf die schwierige wirtschaftliche Lage und auf den im Juli bevorstehenden EU-Ratsvorsitz Belgiens, dessen »Rolle in Europa ernsthaft Schaden« nehmen könne. Statt Leterme von seinem Amt zu entbinden, beauftragte er Vizepremier Didier Reynders, ein letztes Mal die Kompromissfähigkeit der Parteien auszuloten. Zunächst schien es Hoffnung zu geben, doch zwei Tage später gab Reynders auf. Dem Königshaus blieb nichts anderes übrig, als den Rücktritt der Regierung zu akzeptieren. Im Juni soll es nun Neuwahlen geben, und das Land wird zumindest seinen EU-Vorsitz in einer schweren Krise beginnen.

Die Hauptstadt der EU und ihre Umgebung stellen geradezu eine Art Anti-Utopia für den europä­ischen Einigungsprozess dar: Der zweisprachige Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV) ist ein Beispiel dafür, wie rigide identitäre Konzepte den politischen Dialog verhindern. BHV ist ein verwaltungstechnisches Kuriosum. Nur hier können die Bewohner Politiker beider Sprachgruppen wählen, während in Flandern allein die Listen der flämischen Parteien und in Wallonien die der frankophonen gelten.
BHV umfasst allerdings nicht nur die offiziell zweisprachige Hauptstadt, sondern auch deren zu Flandern gehörendes Umland. Die flämische Peripherie zieht als beliebte Wohngegend zahlreiche Frankophone an, die in mehreren Orten die Bevölkerungsmehrheit stellen. Lokalparlamente, in denen kein einziger niederländisch sprechender Abgeordneter mehr sitzt, gelten vielen Flamen als Alarmsignal: Um den frankophonen »Imperialismus« einzudämmen, wollen flämische Parteien den Wahlkreis spalten. Die Gegenseite fordert indes, mehrheitlich frankophone Kommunen an Brüssel anzuschließen. BHV hat sich inzwischen zu einem landesweiten politischen Kampfbegriff entwickelt. Früher ein Streitpunkt von kommunalem Belang, blockiert er seit Jahren die Verhandlungen zwischen den Sprachgruppen.
Doch damit ist die Komplexität des Themas nicht erschöpft. Streng genommen können nämlich ohne eine Lösung nicht einmal Neuwahlen organisiert werden. Seit der Verwaltungsreform 2002 fallen die Grenzen der belgischen Wahlkreise mit denen der Provinzen zusammen. Der seit 40 Jahren umstrittene BHV allerdings wurde in Ermangelung eines Kompromisses schlicht von der Reform ausgenommen. 2003 erkannte das belgische Verfassungsgericht darin einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot. Dass 2007 trotzdem Parlamentswahlen stattfanden, war nach Angaben von Marc Bossuyt, dem Vorsitzenden des Verfassungsgerichts, ungesetzlich. Derzeit gibt es eine Kontroverse, ob Neuwahlen vor diesem Hintergrund überhaupt verfassungskonform sind. Dieses Dilemma bringt Belgien an den Rand der Unregierbarkeit, denn just an dem Versuch, dieses Problem zu lösen, war die Regierung zerbrochen.
Ungeachtet dessen verkündeten flämische Politiker Neuwahlen als Ausweg aus der Krise, die Belgien seit drei Jahren immer wieder einholt. Die Logik, wonach neue Mehrheitsverhältnisse neuen Verhandlungen den Weg ebnen könnten, blendet jedoch einen wesentlichen Aspekt aus : Föderale Wahlen in Belgien sind nichts anderes als die Addition der frankophonen und flämischen Resultate. Wer auch immer in Brüssel regiert, braucht daher auf beiden Seiten der Sprachgrenze eine Mehrheit. Wahlerfolge basieren aber vor allem in Flandern zunehmend auf einer identitären Agenda, die von der anderen Seite entsprechend abgelehnt wird. Der abgetretene Ministerpräsident Leterme ist dafür das beste Beispiel. 2007 bescherte ihm seine Kampagne für mehr politische Befugnisse Flanderns einen erdrutschartigen Wahlsieg. Seine Versprechen indes konnte er nie einlösen, unter anderem deshalb, weil ihm die frankophonen Parteien nach diesem Wahlkampf entsprechend misstrauisch begegneten.
Bei den allen verfassungsrechtlichen Einwänden zum Trotz anvisierten Neuwahlen dürfte sich diese Tendenz noch verstärken. Immer lauter artikulieren sich Politiker, die Sprachgruppenzugehörigkeit über sonstige Inhalte stellen. Olivier Maingain, Präsident des Front Démocratique des Francophones (FDF), rief unlängst alle französischsprachigen Parteien zu einer gemeinsamen Front auf. Auf der anderen Seite tat sich Bart De Wever, Vorsitzender der separatistischen Neu-flämischen Allianz (N-VA), mit einem deutlichen Appell hervor. Die niederländischsprachigen Parteien sollten ihre Streitereien untereinander beenden und zusammenarbeiten. Schuld an den derzeitigen Problemen seien schließlich »nicht bestimmte Personen oder Parteien, sondern die heutigen belgischen Strukturen, die einfach nicht mehr funktionieren«.

Diese Zuspitzungen gehen zurück auf eine Entwicklung, die 1970 mit der Umwandlung Belgiens von einem Zentralstaat in eine Föderation begann. In bisher fünf Staatsreformen wurden dabei immer mehr Zuständigkeiten auf die Ebene der Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel verlagert. Die gegenwärtige Krise begann 2007 mit den Verhandlungen über eine weitere Reformrunde, die von sämtlichen Parteien im nördlichen Landesteil gefordert, im Süden dagegen ohne Ausnahme abgelehnt wurde. Nicht nur diese Staatsreform ist bis heute aufgeschoben. In der raschen Abfolge der politischen Krisen kommen die immer kurzlebigeren Koalitionen auch nicht dazu, sich der dringenden sozialen und ökonomischen Probleme anzunehmen.
Unbesorgt zeigte sich, allen Auflösungstendenzen zum Trotz, Ex-Premier Jean-Luc Dehaene. Zwar versuchte auch er sich im April vergeblich daran, im Fall BHV zu vermitteln. Vor dem Hintergrund der belgischen Geschichte relativierte er jedoch die aktuelle Krise. Die Probleme zwischen den Sprachgruppen habe es immer gegeben, und auch eine Zuspitzung alle zehn Jahre sei normal. »Wir kommen da schon wieder raus, so wie immer.« Dehaene vergaß dabei aber einen Aspekt: In der Vergangenheit suchten viele Alt-Politiker wie Guy Verhofstadt, Herman Van Rompuy oder Dehaene selbst einen Ausgleich zwischen den Sprachgruppen. Heute sind dagegen flämische und frankophone Partikularinteressen zur Pri­orität geworden.