1. Mai gegen die Ausbeutung von Migranten in Italien

Die Angst nach der Revolte

Seit der Revolte der afrikanischen Landarbeiter im Januar ist die kleine süditalienische Stadt Rosarno als die Stadt der »neuen Sklaven« bekannt. Hier hielten die drei größten italienischen Gewerkschaften ihre Kundgebung zum 1. Mai ab, um auf die Ausbeutung von Migranten durch die organisierte Kriminalität hinzuweisen. Der Erfolg war mäßig, vor allem die Migranten hatten Angst, auf die Straße zu gehen.

Peppe Valarioti wurde noch in der Wahlnacht mit zwei Schüssen getötet. Er war der Parteisekretär der Kommunisten in Rosarno und hatte im Wahlkampf den örtlichen Clans der kalabresischen ’Ndrangheta den Kampf angesagt. Das war im Juni 1980. Nach ihm ist der zentrale Platz der Kleinstadt im Süden Kalabriens benannt. Hier trafen sich am 1. Mai die drei Vorsitzenden der italienischen Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL zu ihrer traditionellen Kundgebung. In einem gemeinsam verfassten Aufruf hieß es, man wolle die klassischen Themen Arbeit und wirtschaftliche Entwicklung mit denen der Legalität und der Integration von Migranten verbinden.

Nach Angaben des italienischem Statistikamts liegt die Arbeitslosenquote bei 8,8 Prozent, unter Jugendlichen sogar bei knapp 30 Prozent. Gleichzeitig wächst die sogenannte Schattenwirtschaft: In der süditalienischen Landwirtschaft werden schätzungsweise ein Drittel der Gewinne unterschlagen und ein Viertel der Arbeitskräfte ohne regulären Arbeitsvertrag beschäftigt. Die tatsächlichen Zahlen dürften weitaus höher liegen als diese offiziellen Angaben. Migranten, denen ein gesetzlicher Aufenthaltsstatus verwehrt wird, sind für diese Schattenwirtschaft die idealen Arbeiter. Weil der Staat sie als »Illegale« strafrechtlich verfolgt, haben sie keine Möglichkeit, die gesetzeswidrigen Arbeitsverhältnisse anzuzeigen.
Rosarno gilt als Hauptstadt für die brutale Ausbeutung von ausländischen Schwarzarbeitern und Tagelöhnern in der Landwirtschaft. In der Kleinstadt an der tyrrhenischen Mittelmeerküste leben rund 1 500 afrikanische Migranten und mehrere hundert osteuropäische Einwanderer. Diese treten vor allem als sogenannte caporali auf, illegale Arbeitsvermittler, deren Schikanen und willkürlichen Übergriffen die afrikanischen Arbeiter ebenso ausgeliefert sind wie den Anfeindungen und Angriffen der lokalen Bevölkerung. Obwohl die sklavenähnlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Erntearbeiter seit Jahren bekannt sind, erregten sie erst nach einer Revolte im Januar über die Stadtgrenzen hinaus Aufmerksamkeit (Jungle World 03/10).
Nachdem zwei Afrikaner aus einem fahrenden Auto heraus angeschossen worden waren, zogen damals Hunderte von Migranten revoltierend durch Rosarno. Die Bevölkerung begann daraufhin eine gezielte Hetzjagd auf alle Afrikaner der Umgebung. Auf dem Höhepunkt der Pogromstimmung befahl Innenminister Roberto Maroni seinen Polizeikräften, die Migranten abzutransportieren, ihr Schutz sei in Rosarno nicht mehr zu gewährleisten, hieß es damals. Zuvor hatte er durch seine Behauptung, die Unruhen seien das Resultat einer »grenzenlosen Toleranz gegenüber der illegalen Einwanderung«, die vermeintliche »Selbstjustiz« des ortsansässigen Mobs gerechtfertigt.
Vorige Woche wurden die ersten Ergebnisse des von der kalabrischen Staatsanwaltschaft nach der Revolte eingeleiteten Untersuchungsverfahrens bekannt. Demnach zeichnet sich die Situa­tion in Rosarno vor allem durch »grenzenlose Toleranz« gegenüber einem mörderischen Ausbeutungssystem aus.

Gegen insgesamt 31 italienische Landbesitzer und ihre caporali wurde Anklage erhoben. Ihnen wird vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung gebildet, gegen die Arbeitsgesetze verstoßen und die staatlichen Versicherungssysteme betrogen zu haben. 20 Agrarbetriebe und mehr als 200 Grundstücke im Wert von zehn Millionen Euro wurden beschlagnahmt. Der zuständige Staatsanwalt betonte, dass die Ermittlungserfolge der Operation »Migrantes« allein aufgrund der Unterstützung der afrikanischen Arbeiter zustande gekommen seien, die den Mut aufgebracht hätten, ihre Unterdrücker anzuzeigen.
In den Festtagsansprachen der drei nationalen Gewerkschaftsvertreter blieb die Untersuchung der Staatsanwaltschaft unerwähnt. »Heute sind wir hier, um all jenen ein Zeichen der Hoffnung zu geben, die Respekt verlangen und den Glauben an eine bessere Zukunft nicht aufgeben.« Mehr als diese vage Beteuerung war von Guglielmo Epifani, dem Vorsitzenden der linken CGIL, nicht zu hören. Doch auch diese minimale Solidaritätsbekundung fand für italienische Verhältnisse keine große Unterstützung. An der Demonstration nahmen nur knapp 10 000 Menschen teil, vornehmlich kommunale und gewerkschaftliche Abordnungen aus den umliegenden Gemeinden sowie die in der Region aktiven Anti-Mafia-Bewegungen.

Die Gewerkschaften haben es nicht geschafft, wenigstens ihre Anhänger aus den benachbarten süditalienischen Regionen zu mobilisieren. Außerdem fehlte der Veranstaltung die breite Unterstützung der politischen Parteien und der lokalen Bevölkerung. Viele Migranten, die in der Re­gion gebliebenen waren oder inzwischen nach Rosarno zurückgekehrt sind, hatten Angst, noch einmal durch jene Straßen zu ziehen, durch die sie im Januar wie Freiwild gehetzt worden waren.
Noch im Frühjahr hatten die Gewerkschaften dem ersten Migrantenstreik (Jungle World, 10/10) ihre Unterstützung versagt. Morena Piccinini, die Immigrationsbeauftragte der CGIL, nannte den Aufruf damals einen »strategischen und politischen Fehler«. Auch die Basisgewerkschaften fürchteten, ihre Anhänger könnten auf die »separatistische« Mobilisierung mit »Feindseligkeit« reagieren. Das war vorsichtig formuliert, denn schließlich lässt sich ein nicht unbedeutendes Segment der italienischen Arbeiterschaft von den rassistischen Parolen der Lega Nord beeindrucken, wie die Parlamentswahlen im Jahr 2008 vor allem in Norditalien deutlich gezeigt haben.
Trotz der ambivalenten Haltung der Gewerkschaften wurde die Entscheidung, die zentrale Kundgebung zum 1. Mai in Rosarno abzuhalten, von den kalabrischen sozialen Bewegungen begrüßt. »Auch wenn wir den Gewerkschaften schwerwiegende Versäumnisse vorwerfen«, erklärt Celeste Costantino von der Assoziation ­DaSud gegenüber der Jungle World, »so müssen wir doch auch anerkennen, dass sie die einzigen waren, die erkannten, dass es jetzt darum geht, in der Stadt Präsenz zu zeigen.«
DaSud ist eine Anti-Mafia-Bewegung, zu der sich junge Menschen aus Kalabrien, die zum Studium oder zur Arbeit nach Rom gekommen sind, zusammengeschlossen haben. Eines ihrer Hauptanliegen besteht in der Aufklärungsarbeit. Im Februar hat die Organisation ein umfangreiches Dossier mit dem Titel »Blutige Orangen« herausgegeben, in dem die Geschichte der seit Jahren andauernden Ausbeutung und Verfolgung der migrantischen Arbeiter auf den Feldern rund um Rosarno dokumentiert wird.
Für die ’Ndrangheta geht es in der Agrarwirtschaft nicht nur um den ökonomischen Gewinn, dafür kontrolliert sie lukrativere Geschäftszweige. Wichtiger ist für sie die Kontrolle des Territoriums. Das Ausbeutungssystem der Clans schafft ein Netz von Komplizenschaften. Der durch die Regierungspolitik geschürte Rassismus bietet dabei weniger die Grundlage als vielmehr eine Rechtfertigung für die kriminellen Machenschaften. Alle im Süden wissen von diesem System, auch die Gewerkschaften, doch es gibt kaum Anzeigen oder staatliche Kontrollen. »Das demons­triert die Macht der ’Ndrangheta, denn das bedeutet, dass es ihr gelungen ist, auch die Gewerkschaften und die Ordnungskräfte zu unterwandern.« Für Costantino war deshalb die vom Ministerium angeordnete Umsiedlung der Arbeiter aus Rosarno im Januar das entscheidende Moment: »Hier haben der Staat und die Regierung abgedankt.«
Auch für Saidi A. war dies eine seiner schlimmsten Erfahrungen: »Die Polizei ist gekommen und hat uns erklärt, sie könne uns nicht mehr schützen.« Er gehört zu jenen Afrikanern, die nach der Revolte nach Rom flüchteten und dort tagelang am Hauptbahnhof kampierten, ehe DaSud und die römische Hausbesetzer-Bewegung Action in verschiedenen Centri sociali Notunterkünfte, eine ärztliche Versorgung und minimalen Rechtsbeistand organisierten. Die Gruppe hat sich zur »Vereinigung der afrikanischen Arbeiter von Rosarno in Rom« zusammengeschlossen und einen Aufruf verfasst. Unter dem Titel »Mandarinen und Oliven fallen nicht vom Himmel« schildern sie die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen auf den süditalienischen Feldern und fordern neben menschenwürdigen Arbeitsverhältnissen die Anerkennung ihres Aufenthaltsrechts. Doch inzwischen arbeiten die meisten von ihnen wieder in Apulien oder Kampanien unter denselben Bedingungen. »Tout comme toujours«, sagt Saidi sarkastisch. Doudha gibt sich kämpferischer, er will nicht, dass alles so weitergeht wie immer. Er ist nicht mehr bereit, unter diesen Bedingungen zu arbeiten.
DaSud und Action kämpfen derzeit darum, dass allen Arbeitern aus Rosarno ein humanitäres Aufenthaltsrecht zugesprochen wird. Die Aussichten stehen nicht schlecht. Erst nach der recht­lichen Grundsicherung können die Migranten ihren politischen Kampf gegen die kriminelle Ausbeutung fortsetzen. Doch die unter den Linken weit verbreitete Hoffnung, die Afrikaner würden »Italien retten« und gegen Verhältnisse rebellieren, mit denen sich eine Mehrheit der Italiener abgefunden zu haben scheint, ist nicht nur anmaßend, sondern auch trügerisch. Doudha sieht nicht so aus, als würde er Peppe Valariotis Kampf fortsetzen wollen. Im Gegenteil: Er ist fest entschlossen, nicht nach Kalabrien zurückzukehren.