Die Wahl in NRW

Sozis in Partystimmung

Die Wahlen in Nordrhein-Westfalen kamen für die Union zu früh. Großspurig hatte sie sich auf das Koalitionsprojekt mit der FDP festgelegt und kann vorerst nicht zurück, während die SPD ihre Wiedergeburt feiert und von einer zweiten rot-grünen Ära träumt. Der Aufstieg der Grünen zur Bürgerpartei setzt sich indessen fort. Sie stützen sich dabei auf ein neues Bürgertum aus subventionierten Dienstleistungsmilieus. Eine mögliche Linksregierung stünde ebenso vor den Zwängen des bürgerlichen Krisenmanagements. Rücksichtnahme auf die eigene Klientel ist kaum zu erwarten.

Die SPD hat verloren. Sie hat bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1954 eingefahren und damit ihre historische Niederlage von 2005 noch einmal unterboten. Und das alles bei einer niedrigeren Wahlbeteiligung als noch vor fünf Jahren. Trotzdem zeigten die Bilder am Wahlabend eine jubelnde, geradezu besinnungslos euphorische Partei. Solche Bilder hatte es zuletzt 1998 gegeben – als Helmut Kohl abgewählt wurde, in fast ganz Europa Sozialdemokraten regierten und Rot-Grün eine schier unbeschränkte Zukunft zu blühen schien. Rot-Grün, das in den vergangenen Jahren von den Bürgern mit entschiedener Konsequenz abgewählte Politikmodell der Bundesrepublik, könnte plötzlich doch noch einmal die Zukunft verkörpern.
Dass die SPD sich überhaupt zum Jubeln in der Lage sieht, zeigt, dass mittlerweile schon kleinere Verluste als große Gewinne gelten. So sehr ist die Basis politischer Meinungsbildung – die großen, stabilen Wählermilieus – zuletzt zusammengeschrumpft. Parteien gewinnen Wahlen nicht mehr aus eigener Stärke, sondern profitieren von der Schwäche der momentan regierenden Konkurrenz. An deren Stelle rückt man nach und erbt ihre Probleme: leere Haushaltskassen, eine exorbitant hohe Staatsverschuldung und nicht zuletzt eine Krise, die sich langsam aber sicher durch alle Wirtschaftszweige frisst.

Die »kleine Bundestagswahl«, zu der die Wahl in Nordrhein-Westfalen im Vorfeld von Kommentatoren und Politikern stilisiert wurde (was jedoch nichts an der schlechten Wahlbeteiligung geändert hat), spiegelt die Zwangslage des bürgerlichen Krisenmanagements wider. Und diese fängt bereits bei der Linkspartei an. Deren Freude ist zwar groß, mit dem Einzug in den Landtag des bevölkerungsreichsten Bundeslandes endlich »angekommen« zu sein. Sie kann sich davon erhoffen, dass die Ausgrenzungsstrategie der bürgerlichen Öffentlichkeit, die Partei in der Regel totzuschweigen oder, wo es sich nicht vermeiden lässt, zu diffamieren, obsolet geworden ist. Doch sie befindet sich auch in einem Erfolgsdilemma: Tritt die Linkspartei in eine rot-rot-grüne Regierung ein, freut das zwar den Bundesvorstand, der von Trotzkisten und Linkssozialisten dominierte Landesverband könnte aber in der Wüste der Realpolitik verenden. Auch die Koalition wäre dann gefährdet – mit fatalen Folgen für die Bundespolitik. Tritt die »Linke« nicht in die Regierung ein, behält der Landesverband zwar den identitätsstiftenden Nimbus der Totalopposition, die Gesamtpartei muss aber registrieren, dass es nach den Wahlen in Hessen, in Thüringen und im Saarland das vierte Mal ist, bei dem sich ein Stimmenerfolg nicht in regierungspolitische Anerkennung ummünzt. Auch das wäre kein gutes Signal.
Die CDU muss ihrerseits zur Kentniss nehmen, dass ihre Modernisierungsstrategien an Grenzen stoßen. Vergesst den Ultra Roland Koch, so die Botschaft der Merkel-CDU, schaut auf Ole von Beust, den Urbanen, Peter Müller, den Flexiblen, Christian Wulff, den Integrativen, und schaut auf Jürgen Rüttgers, den Arbeiterführer. Rüttgers spielte die Rolle des kühl kalkulierenden Populisten, der alle Register sozialdemokratischer Ressentimentpolitik ziehen konnte: Verteidigung der heimischen Industrie mit dem Hinweis etwa auf die arbeitsscheuen Rumänen. Und diese Ressentiments konnte er schließlich gegen die SPD selbst wenden, wenn er gegen den roten Filz in den großen Städten Nordrhein-Westfalens wetterte. Diese berechnende Taktik hat ihn nun eingeholt: Für viele Wähler zählt Rüttgers mit seiner Sponsoring-Affäre wohl selbst zum Filz. Am Ende bekam er die Balance zwischen souveränem Landesvater und aggressivem Bierzeltdemagogen nicht mehr hin. Hannelore Kraft, gerade mal seit zehn Jahren in der Landespolitik und erst seit Ende 2006 SPD-Landesvorsitzende, wirkt da einfach frischer – noch. Man weiß ja, wie schnell das Pendel wieder zur anderen Seite ausschlägt.

Die FDP hat es jetzt immerhin offiziell, dass sie wieder die Extremistenpartei der sich elitär gerierenden Mittelschicht und dass die Illusion, sie wachse zur dritten Volkspartei heran, endgültig geplatzt ist. Zwar erringt sie weiterhin stabile Wahlergebnisse, wahlentscheidend – wie noch in Bayern oder Hessen – dürften sie in den kommenden Jahren aber nicht mehr sein. Das Ziel, die neue Bürgerpartei zu werden – aggressiv marktorientiert, aber durchaus integrativ und offen für »alternative« Lebensmodelle –, rückt wieder in weite Ferne. Dafür sind die Grünen diesem Ziel recht nahe.
Längst ist in Nordrhein-Westfalen ein neues Bürgertum herangewachsen, das ganz am Tropf von prestigeträchtigen Kulturprojekten und milliardenschweren Infrastrukturmaßnahmen hängt, die komplett durchsubventioniert sind. Das staatliche beziehungsweise halbstaatliche Dienstleistungsmilieu, das die Grünen zwischen Rhein und Ruhr ansprechen, ist im Prinzip die neue Staatskaste: all die Funktionäre für Integration, Bildung, Kultur, Stadtplanung, Gendermainstreaming und Ökobilanz, samt der Heerschar der sie betreuenden Coaches, Gesundheitstrainer, Mediatoren und Potentialberater. Dieses Milieu der sogenannten Lohas (»Lifestyle of Health and Sustainability«) ist gerade in Nordrhein-Westfalen, wo es in den vergangenen 40 Jahren – parallel zu etlichen Hochschulgründungen – einen rasanten Prozess der Deindustrialisierung gegeben hat, enorm angewachsen. Die Grünen repräsentieren es adäquat. Weil dieses Milieu zum Großteil ein subventioniertes ist, sind die Grünen quasi die natürliche Staatspartei Nordrhein-Westfalens. Das heißt aber noch lange nicht, dass ihr Milieu angesichts der Krise stabil ist. Die Sparmaßnahmen von Land und Kommunen werden in ihm tiefe Spuren hinterlassen und es ausdünnen. Die Prekarisierung der Dienstleistungs- und Beratungsintelligenz wird voranschreiten, und das dürfte die Grünen in die Bredouille bringen. Bislang zählten ihre Wähler zu den Gewinnern des Strukturwandels, sie verdienten immer mehr Geld. Mit der gegenläufigen Tendenz ist die Partei nicht vertraut.

Unerfreulich war für die CDU, dass diese bedeutsame Wahl so kurz nach der vergangenen Bundestagswahl stattfand. So sah sich die Partei verpflichtet, zu ihrem exzentrischen Koalitionspartner und dem kürzlich erst ausgerufenen »schwarz-gelben Projekt« zu halten. Schon jetzt damit zu brechen und noch weiter in Richtung Schwarz-Grün umzuschwenken, hätte die Bundeskoalition aus Union und FDP nicht überlebt. Die Grünen können mit der CDU aber immer besser, ist doch in Nordrhein-Westfalen die SPD, die in vielen Großstädten immer noch das Sagen hat, die Partei des Big Business, die Partei der Autoindustrie und der Energieriesen. Als Partei der brachialen Standortverteidigung verachtet sie die unproduktive Intelligenz mehr oder wenig offen, weil diese doch jener Standortpolitik ihre finanzielle Grundlage zumindest mittelbar zu verdanken hat. Rüttgers war da schon weitsichtiger. So spielte sein Integrationsminister Armin Laschet das grüne U-Boot in der schwarz-gelben Koalition. Doch auch die Option einer schwarz-grünen Landesregierung hat sich mit dem Wahlergebnis erledigt.
Die letzte Chance für Jürgen Rüttgers – oder eher für Laschet, sein größtes politisches Talent – könnte eine Große Koalition sein. Nordrhein-Westfalen ist das Vaterland des bundesdeutschen Korporatismus: der Verschmelzung von Konzernen, Gewerkschaften und Parteien zu einer Art staatsmonopolistischem Block. Eine Große Koalition ist da nicht abwegig. Sie müsste aber auf die dynamischen Teile des Landes – die Intelligenz, die Meinungsmacher – verzichten. Und noch einmal die öffentliche Meinung massiv gegen sich zu haben, nach vier Jahren Großer Koalition im Bund, welcher Sozialdemokrat würdesich das antun? Zumal die Verteufelung der »Linken« spürbar zurückgehen dürfte.
Womöglich wird es eine Linksregierung geben, vielleicht sogar mit Alttrotzkisten als Ministern, Staatssekretären und Referatsleitern. Bei näherer Betrachtung wäre die linke Koalition eine bloß statistische, zusammengewürfelte Größe. Es gibt kein rot-grünes Projekt mehr. Der SPD wird selbst von der Mehrheit ihrer eigenen Wähler vorgeworfen, mit Hartz IV und der Heraufsetzung des Rentenalters ihre Prinzipien verraten zu haben. SPD, Grüne und Linkspartei vertreten Milieus, die ihre in der Regel schwindenden Besitzstände unbedingt bewahren wollen. Das ist in vielen Fällen bereits eine Frage des sozialen Überlebens. Dafür sind diese Milieus – die Beratungsintelligenz, die Facharbeiter aus der großen Industrie, die Arbeitslosen und Prekarisierten – auch bereit, sich gegeneinander zu behaupten. Linksregierungen kommen nicht selten dann an die Macht, wenn die Lage objektiv am schlechtesten für sie ist: wenn die Kassen leer sind. Sie erweisen sich aber ebenso oft als eiserne Sparmeister, schließlich sind es gerade die Linken, die den Anspruch erheben, »unsere« Demokratie am sichersten durch die Krise manövrieren zu können. Dabei nehmen sie auf die Bedürfnisse ihrer eigenen Klientel wenig Rücksicht. So könnte es auch in Nordrhein-Westfalen geschehen.