Über Netzaktivismus in Griechenland

Demo heißt jetzt Griot

Griechenland galt zwar lange Zeit als digitaler Nachzügler in Europa, aber mit den jüngsten Protesten hat sich dies geändert. Vor allem Aktivisten nutzen das Netz, um sich zu organisieren und auszutauschen.

Die Ende März gegründete griechische Facebook-Gruppe »Für die Aufhebung der politischen Immunität der Parlamentarier« hat nach der großen Demonstration am Tag des 24-stündigen Generalstreiks ihre »Freunde« auf über 200 000 verdoppeln können. Mit »Räuber, Räuber«-Rufen hatten die Demonstranten versucht, das Parlament zu stürmen. Natürlich waren nicht alle 200 000 Facebook-Freunde bei dem Stürmungsversuch dabei, sonst hätte man es wohl ins Parlament geschafft. Auch von den rund 46 000 Freunden der Facebook-Gruppe »Gemeinsamer Zahlungsstopp von Banken-, Strom-, Wasser- und Handyrechnungen« dürften nicht alle anwesend gewesen sein, aber die massenhafte Beteiligung an den Protest-Netzwerken artikuliert den spontanen Wunsch, auf die Politik zu reagieren, die die Krise des globalen Finanzsystems zu einer sozialen Krise werden lässt.
Alle sozialen Räume werden genutzt, um der eigenen Entrüstung und Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen. Und dass selbst ein Mainstream-Medium wie Facebook als Plattform dient, zeigt, wie selbstverständlich es für viele Griechen geworden ist, nicht nur auf der Straße, sondern auch online zu protestieren.

#griots
Die Organisierung der Aktivisten über die Kanäle der »social media« ist seit den Protesten im Dezember 2008 üblich geworden. Damals fand eine Explosion des Informationsaustauschs im Netz statt, die mit den Entwicklungen während der grünen Revolution im Iran vergleichbar ist. Die sogenannten Griots wurden zu einem Beispiel für die Herstellung von Gegenöffentlichkeit in den Widerstandsbewegungen des Online-Zeitalters.
Studierende, Schüler und Jobbende produzierten eine Flut von nicht-hierarchisierten Informationen (Fotos, Videos und Augenzeugenberichte), die innerhalb von neu geschaffenen Strukturen auf Blogs, Facebook,Youtube oder Twitter zirkulierten. Da sich die Ereignisse auf der Straße abspielten, waren die Citizen Journalists gegenüber den etablierten Massenmedien im Vorteil. Immerhin berichteten sie über die eigenen Erfahrungen und verfügten über Quellen, die die griechischen Nachrichtenagenturen nicht besaßen. Der Begriff »griots«, der sich unter Aktivisten als Bezeichnung für die Ereignisse im Dezember 2008 etabliert hat, geht auf den Twitter-Account #griots zurück, auf dem sehr schnell Informationen über den Fall des von einem Polizisten erschossenen Schülers Alexis Grigoropoulos veröffentlicht worden waren. Die Fernsehsender waren erst Stunden später auf diesem Informationsstand. Das Nachrichtenmonopol der staatlichen und privaten Massenmedien schien zu wanken, denn zunehmend beriefen sich vor allem internationale Medien wie der Guardian, CNN oder Sky-News auf die Berichterstattung der griechischen Blogger.

Spontane Netzpartizipation
Vor dem Hintergrund, dass Griechenland, wie es die griechische Journalistin Dina Kyriakidou ausdrückt, als der »Internet-Nachzügler Europas« galt, ist es erstaunlich, wie schnell sich die Nutzung der neuen Technologien verbreitet hat. Allgemein war erwartet worden, dass diese Entwicklung noch zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen würde. Darauf weist der Betreiber des Blogs teacherdudebbq.blogspot.com hin. Die Netzpartizipation entwickelte sich parallel zu den Riots und den Massendemonstrationen; jede lokale Schülerinitiative, jede Nachbarschaftsorganisation und Besetzergruppe gründete einen eigenen Blog.
Der digitale Aktivismus überraschte die etablierte Linke, die eher Berührungsängste gegenüber den Massenmedien hat. Auf den Blogs und in Foren wurden undogmatische Denkansätze diskutiert, wodurch der immer gleiche Jargon der linken Organisationen aufgefrischt wurde.

Ökonomie verstehen
Mit dem Einsetzen der Währungskrise erlebt der digitale Aktivismus sein Comeback. Es sind weniger die kämpferischen Erklärungen, wie sie im Dezember 2008 kursierten, die die Blogs seit Wochen dominieren, als Beiträge, in denen versucht wird, die ökonomischen Prozesse zu verstehen. Asteris Masouros, der Guru der Social-Media-Kultur in Griechenland, schrieb bereits Ende Februar einen Artikel über die rege ökonomische Diskussion im Netz. Während die politische Klasse Griechenlands samt der Massenmedien den flächendeckenden Sozialkahlschlag als alternativlos darstellen, suchen die Citizen Journalists nach alternativen Ansätzen. Auf dem Blog omadeon.wordpress.com etwa wird viel über die Thesen des in Griechenland mittlerweile populären amerikanischen Finanzmarktanalysten und Journalisten Max Kaiser debattierr, der scharfe Kritik am IWF und an Goldman Sachs übt. Seit März sind viele Blogs wie youpayyourcrisis.blogspot.com oder grcrisis.blogspot.com entstanden. Youpayyourcrisis versteht sich als Medium zur Bündelung von Berichten, die über »die wahre Ursachen der globalen und der griechischen Krise und die hoffentlich kommenden Bewegungen« informieren.

Tango-Fever
In einem Interview des Internet-TV-Senders tvxs.gr versucht der Politikwissenschaftler Petros Papakostantinou aufzuzeigen, welche Verhandlungsspielräume Griechenland gehabt hätte. Ähnlich wie in jedem anderen Fall von Zahlungsunfähigkeit hätte mit einer Neuverhandlung von Kreditumfang und -laufzeiten der Bank­rott abgewendet werden können, so Papakostantinou, doch die EU habe diese bei Staatsverschuldungen gängige Praxis abgelehnt, die griechische Sozialdemokratie habe dem Druck der EU nachgegeben.
Die Betreiber des Blogs aformi.blogspot interviewten linke Ökonomen. Giorgos Milios argumentiert, dass Griechenland nur ein Symptom für eine globale Krise sei, die im Jahr 2008 die Banken getroffen und sich heute auf den Staatssektor ausweitet habe. In der auf enosy.blogspot.com geposteten Videoaufnahme einer Uni-Versammlung wird der Zahlungsstopp an die internationalen Kreditgeber gefordert, die griechische Bevölkerung sei nicht für die Rettung des Bankensystems verantwortlich. Argentinien lässt grüßen: »Vergesst Sirtaki und Zebekiko, der neue Nationaltanz ist Tango«, lautete ein Twitter-Eintrag.

»Gewinne über alles«
Auch Deutschland ist im Archiv von youpay­yourcrisis.blogspot.com eine eigene Kategorie gewidmet. Schließlich gehören deutsche Firmen zu den wichtigsten Auftragnehmern des griechischen Staates und sind beteiligt am Straßen- und Flughafenbau, am Ausbau des Zug- und Telekom­munikationsnetzes sowie als Waffenlieferanten aktiv. Man fühle sich angesichts der Bestrafungsrhetorik von Angela Merkel in den Status eines deutsches Protektorats versetzt, so der Tenor von Netzeinträgen, die von Parolen wie »Gewinne über alles« begleitet werden.

Skepsis
Auch wenn viele Griechen ihre Wut auf die Straße tragen, sind Zynismus und eine tiefe Skepsis weit verbreitet. Viele haben nicht nur den Glauben an die Politik, das Wirtschaftssystem oder die Linke verloren, sondern schauen mit Verachtung auf die Gesellschaft der »Neugriechen«, die sich ohne Vision und Ethik in ihrem kleinbürgerlichen Lifestyle ausgeruht habe. Ein Gefühl von Frustration hat große Teile der Gesellschaft erfasst. Ein Blogeintrag wurde nach dem Bekanntwerden der Nachricht, dass drei Bankangestellte in einer brenndenden Bank ums Leben gekommen waren, auf dem Blogroll buzz.reality-tape.com zum beliebtesten Beitrag: »Dieses Land ist Dreck, Unglück und Elend. Die neue griechische Zivilisation ist eine Synthese von Züggellosigkeit, Unwissenheit und Klugscheißertum.« Zu den vielgelesenen Beiträge gehört auch ein Gedicht auf naftilos.blogspot.com. Es bezieht sich auf den weit über autonome Kreise hinaus beliebten Sprechchor »Das Bordell (das Parlamentsgebäude) soll brennen«. In dem Text wird gefragt: »Wissen wir denn, was wir auf den ­abgefackelten Ruinen des Parlaments aufbauen würden?«

Eine neue Metapolitefsi?
Nach dem Generalstreik war sich die Twitter-Gemeinde nicht mehr einig: Die eigene Praxis abzufeiern und die Polizei zu verteufeln, reichte nicht mehr aus. Eine Strategiedebatte steht noch aus. Der Publizist Matthaios Tsimitakis meint, dass der Diskurs über eine neue »Metapolitefsi« wieder aufgenommen werde, der in den Monaten nach den Riots in der Blogger-Sphäre begonnen wurde und auch Eingang in die öffentliche Meinung fand. Als Metapolitefsi wird die historische Phase Griechenlands nach 1974 bezeichnet, die man jetzt, nach dem Finanzdiktat von EU und IWF, für beendet erklärt. Damals wurde nach der Militärdiktatur und nach Jahren der Einmischung ausländischer Armeen im Lande zum ersten Mal eine freie parlamentarische Demokratie etabliert.
Wörtlich bedeutet der Begriff eine radikale Umstrukturierung des politischen Gefüges im Sinne einer Demokratisierung. Für die Lohn­arbeiter, jungen Jobber, Rentner und Migranten, die in der sozialen Sackgasse stecken, wäre das zumindest eine Hoffnung.