Über den belgischen Film »Die Beschissenheit der Dinge«

Unter Trinkern

Süchtig, gewalttätig, prekär: In so einer Familie möchte niemand Kind sein müssen. Gunther hat sich diesen ­Vater nicht ausgesucht und liebt ihn dennoch. Der Film »Die Beschissenheit der Dinge« basiert auf dem gleichnamigen Roman von Dimitri Verhulst und schildert eine trostlose Jugend in einer Alkoholikerfamilie im Belgien der achtziger Jahre.

Beschissenheit meint im Film des belgischen Regisseurs Felix van Groeningen zuallererst einen Zustand: Kind zu sein. Als solches in einem gewöhnlichen und damit ziemlich grässlichen Dorf wohnen zu müssen. Bei dieser Familie, in die man, ohne ein Mitspracherecht gehabt zu haben, hineingeboren wurde.
So erging es Gunther Strobbe, dem Protagonisten des Films. Ihm begegnet man auf zwei Zeitebenen. Einmal als, natürlich erfolglosem, Schriftsteller Mitte dreißig, ein schrecklich wütender, zynischer und liebloser Mann, und einmal als 13jährigem Jungen. Um den jugendlichen Gunther geht es in der Hauptsache.
Gunthers Familie kommt einem schnell bekannt vor. Zumindest wenn man einen richtigen Trinker im Bekanntenkreis hat, so einen, den man trotzdem mag, mit dem man aber nicht allzu viel zu tun haben will, weil er wahnsinnig ist, sich längst das Hirn weggesoffen hat und furchtbar nervig und ungepflegt ist, ja manchmal sogar stinkt, aber trotzdem, man gibt ihm gerne ein Bier aus und unterhält sich, solange es möglich ist, mit ihm. Bis er den nächsten Ausbruch hat, dich oder jemand anderes laut und wüst beschimpft oder in der Kneipe etwas kaputtmacht. Dann wendet man sich ab. Wem das also bekannt vorkommt, der weiß, wie Familie Strobbe so tickt. Nur dass das Ganze mal vier genommen werden muss. Denn die Strobbes sind vier erwachsene Brüder, Marcel, »Petrol«, »Beefcake« und Koen. Ernsthafte Trinker sind sie. Gescheiterte Existenzen, die das auch wissen. Alle wohnen wieder zu Hause, bei ihrer Mutter. Leben hat irgendwie nicht geklappt. Und Mama, die hat ein großes Herz und ein kleines Haus. Kaum sieht man die verwahrlosten Räume, weiß man auch, wie es dort riecht. Muffig und säuerlich, nach Stockflecken. Das Haus steht in einem dieser absolut trostlosen und heruntergekommenen Dörfer.
So weit, so bekannt und normal, doch neben den vier Brüdern und der alten Mutter lebt hier eben auch noch Gunther. Einer der Brüder, Marcel alias »Celle«, ist sein Vater, die dazugehörige Frau hat sich längst verabschiedet, in ein neues Leben, mit einem anderen Mann und einem anderen Kind. Dort ist kein Platz für Gunther, oder, um es mit seinem Vater zu sagen: »Wir haben alles verloren. Wir besitzen nichts mehr, weder Frauen noch sonstige Möbelstücke.« So lebt er eben mit seinem Vater und dessen Brüdern zusammen. Aber ein Kind passt so gar nicht in diese Gemeinschaft von Säufern. Vor allem nicht so ein sensibles und stilles Kind wie Gunther, der das Leben und Treiben der Erwachsenen um ihn herum erstaunt beobachtet. So richtig schlecht ist das Leben in diesem Männerbund zwar nicht, die Strobbes haben Familiensinn, und Gunther wird fraglos ganz schrecklich von Vater, Onkeln und Oma geliebt. Gunther ist stolz auf seine Familie, und natürlich bewundert er die Männer und deren ruppige Herzlichkeit. Alle zusammen versuchen sie, eine richtige Familie zu sein. Das ist rührend anzusehen, durchaus komödiantisch, und der Zuschauer entwickelt Sympathien für diese Familie, die agiert wie eine Gruppe unbändiger Tanzbären.
Alles ist lustig, bis einer durchdreht. Und das passiert mit erschreckender Regelmäßigkeit. Alkohol lässt die Erwachsenen gefühllos und grob werden, Gunther wird wegen Nichtigkeiten verprügelt, sein Fahrrad aus Versehen zu Schrott gefahren, ihm wird die erste, vorsichtige Romanze vom Onkel ausgespannt. Vor allem aber wird ihm jegliche Unterstützung verweigert. Niemand, außer der meist stillen Oma, erkennt die dringenden Bedürfnisse des Kindes am Anfang seiner Pubertät. Dann vergeht einem das Lachen schnell, und man ist in der Realität angekommen.
Auch der Versuch des Vaters, eine Therapie zu machen, wird torpediert. Da wird so lange gefrotzelt und gelockt, bis er doch wieder mit in die Kneipe zieht. Keiner darf dem Sumpf der Strobbes entkommen, man zieht sich gegenseitig runter, niemals hoch. Alles andere, gar Individualität, würde das fragile Zusammengehörigkeitsgefühl zerstören. Auch Gunthers Zukunft scheint programmiert zu sein, und man spürt mehr und mehr seine Angst, so zu werden wie alle Strobbe-Männer. Zu oft erscheint er zu spät zur Schule, zu häufig wischt er morgens dem Vater erst mal das Erbrochene aus dem Schnauzbart, die Lehrer sind hilflos, er muss einen Strafaufsatz nach dem anderen schreiben. Die Hilfe seines Vaters erschöpft sich dabei in einem Satz: »Schreib, deine Großmutter hat Haare an den Titten.« Eines Tages kommt das Jugendamt, um Gunther aus der Familie zu holen.
»Die Beschissenheit der Dinge« spielt zwar in Belgien, doch der Unterschied zu den bekannten Bildern aus vormals kommunistischen Ländern, in denen scheinbar sämtliche Erwachsene schwer alkoholkrank und verwahrlost sind, ist gering. Die Trostlosigkeit des Dorfes, der Familie sowie die völlige Zukunftslosigkeit gibt es hier wie dort und anderswo. Die Strobbes leben mitten unter uns, und das ist genau richtig so.
Felix van Groeningen gelingt mit dem Film ein Spagat, einerseits Sozialdrama, andererseits Tragikomödie. Vielleicht ist sein Rezept die Ehrlichkeit, mit der er den Stoff und die Figuren behandelt hat. Kein Charakter wird denunziert, niemand wird vorgeführt. Natürlich kann man lachen, denn auch ein Leben in Dreck und Gefühlskälte hat seine lustigen Seiten. Sensibel und konsequent wird aus der Sicht des 13jährigen erzählt, auf pädagogische Unterfütterung oder überflüssige Dramatik wird verzichtet. Es ist so schon alles schlimm genug.
Bei diesem Film passt tatsächlich alles zusammen, die Ausstattung ist hervorragend, die achtziger Jahre leben auf, ohne dass übertrieben wird, die Filmcharaktere sind glaubwürdig besetzt. Allen voran der 14jährige Kenneth Vanbaeden, der den jungen Gunther spielt, und Koen De Graeve, der Gunthers Vater verkörpert. Auch die anderen Figuren überzeugen, man glaubt beinahe, es seien tatsächlich Brüder.
Vorlage ist ein autobiografischer Roman, der gleichnamige belgische Bestseller von Dimitri Verhulst, auf Deutsch erschienen bei Luchterhand.
Völlig zu Recht hat der Film den Prix Art et Essai von Cannes erhalten und wurde als belgischer Beitrag für den amerikanischen Oscar 2010 in der Kategorie »Bester Fremdsprachiger Film« ins Rennen geschickt. Ein großer Film über die ganz normale Beschissenheit der Dinge.

»Die Beschissenheit der Dinge« (Belgien 2009). Buch: Christophe Dirickx und Felix van Groningen. Nach dem Roman von Dimitri Verhulst. Regie: Felix van Groeningen. Darsteller: Kenneth Vanbaeden, Valentijn Dhaenens, Koen De Graeve. Start: 20. Mai