Den Schuldigern wird nicht vergeben

Wenn im diplomatischen Jargon von einem »intensiven Gespräch« die Rede ist, gab es ziemlich viel Streit. Schlimmer ist nur noch der »offene Meinungsaustausch«. Als der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble Ende Mai mit seinem amerikanischen Kollegen Timothy Geithner zusammentraf, blieb es bei einem »intensiven Gespräch«. Geithner hätte wohl gerne gesagt: »Gebt endlich mehr Geld aus, ihr verdammten Geizhälse.« Stattdessen pries er die Stärkung der Binnennachfrage in China als gutes Beispiel für verantwortungsbewusste Wirtschaftspolitik. Man musste Geithner, einen smarten Windbeutel, der in der Finanzbranche Karriere machte, nicht sympathisch finden, um bei diesem Treffen auf seiner Seite zu stehen. Denn die Binnennachfrage, das sind schließlich wir. Wer die Binnennachfrage stärken will, muss uns die Taschen füllen. Ob »neoliberale« Amerikaner aus dem Milieu der Wall Street oder poststalinistische KP-Bürokraten, alle wollen die Binnennachfrage stärken. Nur die Deutschen wissen es wieder mal besser. Und keiner will auf sie hören.
Halsstarrige »Haushaltssünder« in der EU würde die Bundesregierung gerne strafen, wären da nicht die lästigen europäischen Verträge. »Gespart wird allenfalls unter dem Druck der Märkte und nicht, weil Stabilität oder Solidität als Werte an sich gelten«, klagt Thomas Exner auf Welt online. Man erwartet ja, zumindest instrumentelle Vernunft im Handeln der Herrschenden entdecken zu können. Doch scheint es so, als ob die bornierte deutsche Sparpolitik tatsächlich etwas mit Werten zu tun hat. Dem Kredit wird nämlich in Deutschland wenig Kredit gegeben. Briten und Amerikaner, die sich Geld geliehen haben, sind schlicht indebted. Sie kämen nicht auf die Idee, deshalb ein schlechtes Gewissen zu haben. In Deutschland hingegen ist man verschuldet und muss sich schuldig fühlen, denn man hat sich am Wert der Solidität versündigt und »über seine Verhältnisse« gelebt. In der Doku-Serie »Raus aus den Schulden« wird der Weg von der Schuld über die Sühne (Einschränkung des Lebensstandards) zurück zur Solidität exemplarisch zelebriert. So stellt Schäuble sich auch die Weltpolitik vor.
Eigentlich will diese Haltung zu einer führenden Industriemacht nicht so recht passen, schließlich beruht der Kapitalismus auf dem Kredit, also darauf, dass Unternehmer »über ihre Verhältnisse« investieren. Doch haben sich in Deutschland vorbürgerliche Ressentiments stärker als anderswo erhalten. Ein wenig Lebensfreude ist allenfalls gestattet, wenn man zuvor geschuftet und gelitten hat, keinesfalls aber auf Pump, und als wahrer homo oeconomicus gilt noch immer der mittelalterliche Handwerksmeister, der nicht mehr Geld ausgibt, als er einnimmt, und immer fürchtet, dass ein Wucherer oder Bettler in seine Geldtruhe greifen will.