Die Niederlande vor der Parlamentswahl

Fragezeichen in Den Haag

Kurz vor den Parlamentswahlen hat sich die politische Landschaft der Niederlande verändert. Der ehemalige Bürgermeister Job Cohen macht die Sozialdemokraten für die Wähler wieder attraktiv, die Rechts­liberalen liegen in Umfragen vorne. Und wo ist eigentlich Geert Wilders?

Für die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid (PVV) waren die Kommunalwahlen Anfang März ein großes Erfolg. »Heute Den Haag und Almere, morgen die ganzen Niederlande«, kommentierte damals der Frontmann der Partei, Geert Wilders, die Wahlergebnisse. Das schien verwegen, war doch die PVV nur in diesen beiden Städten angetreten. Und doch nicht ganz unbegründet, denn zu diesem Zeitpunkt galt sie als die stärkste Partei des Landes.

Zweieinhalb Monate später, kurz vor den Parlamenstwahlen, die am 9. Juni stattfinden, hat sich die Situation verändert. Die PVV ist eingebrochen. Nur noch 18 Sitze werden ihr in Umfragen prognostiziert – doppelt so viele wie bei den letzten Wahlen, doch im Vergleich zum Frühjahr wäre das ein Verlust von 15 Sitzen. Noch schneller als der Aufstieg scheint nun der freie Fall der Rechtspopulisten zu sein. Davon profitiert Wilders’ alte Partei, die Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD). Die Rechtsliberalen haben sich mit gut 20 Prozentpunkten an die Spitze der Umfragen geschoben. Ihr hartes Sparprogramm liegt angesichts von Krise und anstehenden Einschnitten in Höhe von knapp 30 Milliarden Euro eher im Trend als Wilders’ Anti-Islam- und Sicherheits- Rhetorik.
Hinter dem Absturz der PVV aber steckt mehr. Trotz ihres guten Abschneidens bei den Kommunalwahlen gelang der PVV weder in der Retortenstadt Almere noch in Den Haag der Sprung ins Stadtparlament. Das lag nicht zuletzt an ihrer Weigerung, von der Forderung eines Kopftuchverbots in öffentlichen Institutionen abzurücken. Vielen Wählern gilt inzwischen eine Stimme für die PVV als verlorene Stimme. Mehrere Kandidaten der PVV gerieten in negative Schlagzeilen und mussten dann entweder ihren Platz räumen oder »freiwillig« gehen. Zuletzt wurde Wilders auch noch öffentlich düpiert, als der bekannte Abgeordnete seiner Partei, Hero Brinkman, ihn in einer Talkshow aufforderte, die PVV in eine »ordentliche Partei« umzuwandeln.
Die Veränderungen der politischen Landschaft beschränken sich jedoch keineswegs auf die rechte Seite des Parteienspektrums. Noch unerwarteter als der Aufstieg der VVD ist nämlich das Comeback der Sozialdemokraten. Die Partij van de Arbeid (PvdA) hatte wochenlang die besten Umfragewerte und liegt derzeit nur knapp hinter den Rechtsliberalen. Ein wichtiger Grund dafür war der Rückzug aus der Großen Koalition wegen des Streits um den Afghanistan- Einsatz (Jungle World 09/10), der von den Wählern offensichtlich honoriert wurde. Doch erst eine Personalie war entscheidend für den derzeitigen Erfolg der Partei: Mitte März übernahm Job Cohen, bis dahin Bürgermeister von Amsterdam, von seinem Vorgänger Wouter Bos die Parteispitze und die Kandidatur zum Premierminister. Dieser plötzliche Wechsel verlieh der PvdA einen lange nicht gekannten Schwung: Die Umfragewerte stiegen und die Basis wurde euphorisch. Trotz seines fortgeschrittenen Alters und seiner nicht gerade glamourösen Ausstrahlung wurde der 62jährige Cohen zum Shootingstar. Wenige Tage nach Bekanntgabe seiner Kandidatur hatte die Facebook-Gruppe »Yes We Cohen » bereits über 10 000 Mitglieder. Den fehlenden Glamour-Faktor gleicht Cohen durch eine Botschaft aus, die vielen Sozialdemokraten aus der Seele spricht: »Jeder zählt mit.« Sein Ideal des sozialen Friedens formulierte er als Bürgermeister von Amsterdam einst lakonisch mit den Worten, er wolle »den Laden zusammenhalten«. Gerade in Amsterdam war dieser Zusammenhalt in Cohens Amtsperiode nicht selbstverständlich, vor allem nach dem Mord an Theo van Gogh im Jahr 2004, als Riots befürchtet wurden.

Die Basis der PvdA begrüßt diesen verbindenden Ansatz und hofft, mit Cohen ihre ein Jahrzehnt währende politische Krise zu beenden. In der niederländischen Integrationsdebatte gelten die Sozialdemokraten als Vertreter eines überholten Multikulturalismus. Doch Cohen ist gleichzeitig weit mehr als ein »Multikulti-Schmusebär«, wie ihn Wilders bezeichnet. Während seiner Amtszeit als Bürgermeister wurde in Amsterdam die Polizei deutlich repressiver, die Zahl der Überwachungskameras wurde erhöht, und präventive Leibesvisitationen im Stadtgebiet wurden eingeführt. Zudem war Cohen als Staatssekretär im Justizministerium vor zehn Jahren der Initiator eines drastisch verschärften Asylgesetzes. Dessen Anwendung brachte der ehemaligen Integrationsministerin Rita Verdonk einst den Beinamen »Eiserne Rita« ein, während Cohen das Image eines gutmütigen Oberstufenlehrers beibehielt.
Abzuwarten bleibt, inwieweit die Umfragewerte von Wilders und Cohen Auskunft über einen Wandel der politischen Kultur in den Niederlanden geben. Cohen bedient den weit verbreiteten Wunsch, die Debatten der vergangenen Jahre zu beenden. Bisher jedoch geht sein Zuwachs auf Kosten der anderen linksliberalen Parteien. Cohens Vorsatz, am liebsten mit einem »möglichst progressiven Kabinett zu regieren«, gilt daher als wenig realistisch. Als sicher gilt aber, dass es nach den Parlamentswahlen weder ein plötzliches Revival des multikulturellen Selbstverständnisses der Niederlande noch einen grenzenlosen Rechtsruck geben wird.