Reaktionen nach dem Mord an einem Journalisten im Nordirak

Die Grenzen der Kritik

Im kurdischen Nordirak wurde ein junger kritischer Journalist unter mysteriösen Umständen ermordet. Viele vermuten, die Geheimpolizei könne hinter dem Mord stehen. Eine Kampagne versucht nun, Druck auszuüben, damit der Fall aufgeklärt wird. Das ist ein Novum in der Region.

Der erste Teil der Geschichte wirkt bekannt für jeden, der mit den Verhältnissen im Nahen Osten vertraut ist: Ein junger Journalist kritisiert den Präsidenten und das Establishment seines Landes. Er erhält Drohungen und hört trotzdem nicht auf, kritische Artikel zu schreiben. Eines Tages wird er auf offener Straße gekidnappt und in ein Auto mit getönten Scheiben gezerrt. 48 Stunden später wird seine misshandelte Leiche aufgefunden. Der zweite Teil dieser Geschichte allerdings entspricht nicht mehr dem üblichen Drehbuch, das nämlich Folgendes vorsieht: Eingeschüchtert und verängstigt ducken sich die Leute im Land weg, der Mord wird als Drohung verstanden, auf Kritik besser zu verzichten oder sie allenfalls weiterhin im Familienkreis zu äußern.
Statt aber ängstlich zu schweigen, reagierten die Menschen im kurdischen Nordirak diesmal außergewöhnlich offensiv, nachdem der Journalist Sardasht Osman, der vor der Universität in Arbil gekidnappt worden war, am 6. Mai in Mosul ermordet aufgefunden wurde. Eine Welle heftiger öffentlicher Proteste entlud sich, was für die Region sehr ungewöhnlich ist. In der Stadt Suleymaniah etwa gingen am 12. Mai über 10 000 Menschen auf die Straße, sie forderten eine lückenlose Aufklärung der Ereignisse und demonstrierten mit dem Slogan »Heute sind wir alle Sardasht« für Pressefreiheit und gegen Repression. In Arbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion, blockierten protestierende Studenten das kurdische Parlament, selbst in abgelegenen Provinzstädten fanden kleinere Demonstrationen statt. An den Protesten beteiligten sich, auch das war etwas Neues, sogar mehrere Parlamentarier. Inzwischen haben sich verschiedene Organisationen und Einzelpersonen in der Kampagne »Wir werden nicht schweigen« zusammengeschlossen. Erst kürzlich gab es Solidaritätsproteste in Bagdad vor dem Denkmal des Dichters Abu Nuwas, der im 8. Jahrhundert lebte und als Freigeist galt.

»Wir alle glauben, sie haben Sardasht getötet, weil er in einem Artikel Präsident Massoud Barzani öffentlich kritisiert hat«, erklärt Shnur, eine Menschenrechtlerin aus Sulaymaniyah. »So sehen die Grenzen der Pressefreiheit bei uns aus.« Nicht wenige im Nordirak verdächtigen deshalb die Geheimpolizei, hinter dem Mord zu stecken, auch wenn die kurdische Regionalregierung entsprechende Anschuldigungen umgehend von sich wies.
»Wie ist es möglich, dass eine solche Tat am helllichten Tag und unter den Augen der Polizei stattfinden konnte?« fragt etwa Mufid Abdullah auf der Webseite KurdishMedia. Weil sie den Verlautbarungen ihrer eigenen Regierung keinen Glauben schenken, richteten 78 prominente kurdische Schriftsteller und Journalisten sogar einen offenen Brief an die US-amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton und warnten vor Pressezensur und Repressionen im kurdischen Nord­irak. Auch internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Reporter ohne Grenzen griffen den Fall auf. Schließlich ist Sardasht Osman nicht der erste Journalist, der unter mysteriösen Umständen zu Tode kam.
Im Sommer 2008 wurde Soran Mama Hama in der Nähe von Kirkuk erschossen. Zuvor hatte er einige äußerst kritische Artikel über die Machenschaften der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) in der Zeitung Livin veröffentlicht. Schon damals kam der Verdacht auf, offizielle Stellen könnten an der Tat beteiligt sein. Anders aber als in diesem Jahr demonstrierten nur einige hundert Menschen gegen den Mord. »Jetzt reicht es uns«, meint Shnur, »dieser Mord hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Wir wollen nicht ein bisschen Pressefreiheit, sondern Medien, die sagen und kritisieren können, was immer sie wollen, ohne deshalb Angst haben zu müssen.«

Und in der Tat, im Irak, vor allem aber in den kurdischen Gebieten, existiert inzwischen eine vielfältige Medienlandschaft. Dutzende unabhängige Zeitungen und Radios sind in den vergangenen Jahren entstanden und machen den parteieigenen Organen Konkurrenz. Und Jahr für Jahr trauen sich diese Medien mehr. Zeitungen wie Hawlati, Awene, Livin oder Roshnama versuchen längst, so etwas wie eine vierte Gewalt zu sein und sich vom im Nahen Osten vorherrschenden Verlautbarungsjournalismus zu lösen.
Und doch existieren bislang deutliche rote ­Linien, die zu überschreiten sich die wenigsten Journalisten trauen. Direkte Kritik an hochrangigen Politikern, vor allem Massoud Barzani oder Jalal Talabani, gilt weiterhin als Tabu. Ebenso ist allzu offene Kritik an religiösen Autoritäten unerwünscht. Wer sich zu weit vorwagt, riskiert ein Gerichtsverfahren und Geldstrafen. Und gerade jene ältere Generation von Politikern, die die Macht innehat, weigert sich, den sozialen Wandel anzuerkennen. Während man auf internationalen Konferenzen gerne die kurdischen Autonomiegebiete als demokratische Musterregion des Irak preist, hält man an Ort und Stelle an einem autokratischen Führungsstil fest, der Kritik bestenfalls in Maßen zulässt.
Für den 14. Juni sind verschiedene Aktivitäten zur Erinnerung an Sardasht Osman geplant. »Wir werden weitermachen, bis die Täter zur Rechenschaft gezogen sind«, meint Shnur. »Für die Freiheit muss man kämpfen, sonst nehmen sie sie wieder weg. Und das werden wir nicht mehr dulden. Wir haben lange genug geschwiegen.«