Zum Werk Bruce Naumans

Dem Raum bist du nicht egal

Bruce Naumans »Dream Passage« bereitet uns darauf vor, dass überall, wo wir hinkommen, schon etwas auf uns wartet.

Vor einiger Zeit hieß es in Werbungen für schwer vermittelbare Kunstwerke, sie seien nicht bloß gut, sondern auch noch komisch. Dann reichte selbst das nicht mehr, seitdem heißt es, sie seien nicht nur gut und komisch, sondern auch politisch. Oder, wie der Prospekt des Berliner Museums »Hamburger Bahnhof« formuliert: »Seit Beginn der 1980er Jahre traten in Naumans Werk explizite politische Konnotationen in den Vordergrund.« Oder, wie die Frankfurter Rundschau paraphrasiert, vielleicht weil »Konnotationen« nach einer Geschlechtskrankheit klingt: »Seit Beginn der 80er Jahre geraten in Naumans Werk immer mehr politische Verweise in den Vordergrund.« Darüber sollte sich unsereiner wohl freuen, aber ich habe immer gefunden, solche Empfehlungen klängen wie die der Deutschen Bahn: »In Göttingen sind nun wieder unsere ofenfrischen Brezelverkäuferinnen zugestiegen.«
Denn was heißt hier »politisch«? Mit dem auf Stahlträgern in der Luft schwebenden »Musical Chair« habe Bruce Nauman »eine Kritik an Folter und Gewalt in totalitären Regimen« verbunden, schreiben Prospekt und, leicht abgewandelt, die Rundschau. Mag sein, aber Folter und Gewalt sind in seinem künstlerischen Œuvre von Anfang an überall gegenwärtig, und die Kritik daran konnte, wer will, sich stets dazudenken. Allerdings gibt es seit ein paar Jahren seine aus Leuchtstoffröhren geformten Sätze und Cartoons. Etwa blinken in einer Ecke abwechselnd die Buchstaben W, A und R auf. Das heißt »Krieg«. Wir sind dagegen.
Wenn von »politischen Konnotationen« oder politischer Kunst die Rede ist, ist meist Plattheit verlangt. Am besten stellt sich der Künstler neben seine Installation und erklärt jedem, dass sie explizit gegen Krieg und Folter gerichtet sei. Politische Kunst ist Agitation, Ideologie, Binsenweisheit. Zu den stärkeren Sachen von Nauman gehören aber Werke, die ich nicht politisch, sondern vorpolitisch nennen würde.
Vorpolitisch sind beispielsweise Räume, in denen man selbst dann mit vielen steht, wenn man sie als einziger betreten hat. Es ist nicht von vornherein ausgemacht, ob das ein angenehmer oder ein unangenehmer Ort ist, ob er einem Traum oder einem Albtraum entstammt, denn viele der ausgestellten Räume sind beides zugleich, sowohl Agora, also Ort der Versammlung, des Streits und der Einigung, als auch Gefängnis oder Irrenanstalt. Die »Indoor Outdoor Seating« (1999), zwei direkt einander gegenüberstehende Sitztribünen, schaffen die paradoxe Situation, dass eine Hälfte des imaginären Publikums statt eines Spektakels bloß die andere sähe, das Publikum also selbst das Ereignis wäre. Auch wenn niemand sich auf den Sitzbänken niederlässt, wird dieser Raum zu einem vorpolitischen, markierten, zugleich zur Idee und zur Ironisierung der Demokratie.
Eine seiner Korridor-Installationen (1970) führt in einige schmale Sackgassen. Wer sie betritt, erkennt auf Monitoren sich selbst aus so ungewohnten Perspektiven wieder, dass aus einem vertrauten Ich viele unvertraute werden, die überall zugleich umherspazieren. Darüber könnte einer auf fröhliche Weise verrückt werden, wie in dem alten Witz: »Herr Doktor, könnten Sie bitte mein Bewusstsein spalten, ich fühle mich so einsam«, aber auch diese Anlage ist vorpolitisch in dem Sinn, dass einer sich erst von außen sehen muss, um ein zoon politikon werden zu können.
Es gibt auch richtige Folterkammern, den »Kassel-Korridor« (1972) etwa, einen sich verjüngenden doppelten Kreisbogen, der innen wie zum Hohn in beruhigendem Grün angestrichen ist. Oder den »Doppelkäfig« (1974), der als feste Außenskulptur, anders als letztes Jahr in Venedig, nicht begehbar ist, aber in den sich auch niemand erst hineinbegeben muss, um eine heftige Beklemmung zu spüren. Richtet sich solch ein Werk gegen die Gefängnisse in den USA oder in Nordkorea oder ist es eine Anspielung auf den Käfig, in dem Ezra Pound schmachtete? Das ist ganz gleichgültig, solange eingesehen wird, dass zwar der Raum die Bewegung diktiert, aber es ihn ohne unsere Bewegung gar nicht gäbe. Schlichter gesagt, der Raum ist dialektisch.
Er ist dialektisch selbst dann, wenn er ein lenkender Raum ist. Das trifft auf Korridore noch mehr zu als auf Wege, Treppen oder Brücken. Aber selbst ein Korridor befiehlt uns nicht, in welche Richtung wir laufen, wie lange wir uns in ihm aufhalten oder gar, was wir in ihm denken sollen. Er wartet auf uns, um auf uns zu reagieren.
Solche lenkenden Räume taufen die Kunsthistoriker »Erfahrungsarchitektur«, der Künstler spricht von einer schamanistischen »Traumpassage«. Weniger blumig lässt sich festhalten, dass diesen Räumen stets etwas fehlt. Es sind Vakuen, die sich mit Vorstellungen, Ängsten, Wünschen, Existenzen vollsaugen. – Aber nicht, weil wir so phantasievolle Leute wären, sondern weil diese Räume Ergänzungen erheischen. So erkennen wir, dass, was leer schien, gefüllt, und was fest schien, hohl ist. Am deutlichsten zeigt das ein unscheinbares Frühwerk aus dem Jahre 1966, dessen sperriger Titel auf Deutsch lauten müsste: »In die Wand versinkendes Regal mit kupferbemalten Gipsabgüssen des dahinter liegenden Hohlraums«. Zu sehen ist ein schäbiges Regalbrett, das mit den Stützen nach oben gehängt ist und so wirklich in die Wand wie in Schlagsahne einzusinken scheint. Auf dem Boden liegen unfertig aussehende Abgüsse, die aus dem Volumen hinter dem Regalbrett angelegt worden sind.
Im Grunde muss einer nur diese eine Installation gesehen haben, um zu begreifen, was Nauman von vielen anderen Künstlern unterscheidet. Dadurch, dass das Regalbrett umgekehrt gehängt worden ist, so dass nichts mehr darauf abgestellt werden kann, erzeugt es einen illusionistischen Effekt – jedoch erst, wenn der Betrachter den Titel gelesen hat. Die Illusion ist ein sprachlicher Trick, kein sinnlicher. Die Abgüsse der Hohlräume verweisen auf einen Raum, der nicht mehr zur Verfügung steht, einen Negativraum. Das ist aber keine minimalistisch-pedantische Konstruktion, sondern der doppelte Boden eines Philosophen.
Nauman vertraut also einerseits auf den Intellekt und nicht auf ein Spektakel. Andererseits fühlt er sich in den reinen Abstraktionen des Minimalismus nicht wohl, sondern hält sich gern in einem Zwischenreich von Abstraktem und Konkretem auf. Er führt einen nicht in irgendeine andere Welt, sondern in unsere. Er ist witzig, aber meidet die Pointe. Er spricht, aber meidet die Platitüde.
In den Rieckhallen in Berlin werden Naumans Arbeiten mit denen anderer Größen der Kunst zusammengestellt, fast alle aus dem Bestand von Friedrich Christian Flick, der nach dem Motto: »Gut ist, was teuer ist« zu sammeln scheint. Um in diese Hallen zu gelangen, muss der Besucher vom Haupthaus durch die Tunnel des alten Hamburger Bahnhofs laufen; eine filmreife Sache für alle, die wenige Minuten zuvor in einem Naumanschen Korridor festgesteckt haben.
Neben Donald Judd, Sol Le Witt oder Blinky Palermo wirkt Nauman wie einer von Hal Roachs »Kleinen Strolchen«, erfrischend ungewaschen. Das »versinkende Regal« ist nicht zu Unrecht für eine Parodie auf den Minimalismus gehalten worden, wenn es auch viel mehr ist als das. Manche vom Kurator herbeigeführten Konfrontationen erscheinen allerdings oberflächlich. In einem Saal ist Naumans »Tierpyramide« (1989) zu sehen, an der Wand Nikolaus Langs beeindruckender »Roadkill« (1999), blutige Abdrücke von auf Australiens Highways gefundenen Tierkadavern. Hier Tier, da Tier, na gut.
Eine ziemlich verblüffende Parallele ist dagegen in Kabinen mit Videoarbeiten zu beobachten, denn Richard Serras »Hand Catching Lead« (1968) hat das Dumpf-Obsessive, das viele Körperaktionen Naumans ebenfalls besitzen. Von oben nach unten fallen Bleibrocken, eine schmutzige Hand versucht, sie aufzufangen. Manchmal gelingt es, manchmal nicht.
Dieter Roths gigantische Gartenskulptur, die, 1970 begonnen, inzwischen von Sohn und Enkel gepflegt wird und sich daher erheblich verändert und erweitert hat, seit ich sie vor sechs Jahren zum letzten Mal gesehen habe, hat man mit Naumans Videoarbeit »Setting A Good Corner (Allegory and Metaphor)« (1999) ergänzt. Der Künstler pflanzt mitten in der Steppe vier Eckpfeiler in die Erde, aber so eng, dass sich einem schon beim Zusehen die Kehle zuschnürt. Auf der einen Seite der zentrifugale, erheblich in die Breite gehende Roth, auf der anderen der selbst in Steppe und Wüste immer nur Enge, Begrenzung, Markierung, Durchkreuzung, Drangsalierung, manchmal auch Schutz sehende und suchende, zentripetale Nauman.
Den »Room With My Soul Left Out, Room That Doesn’t Care« (1984) gibt es sowohl als Modell als auch in voller Größe. Das Modell zeigt jeweils in alle vier Himmelsrichtungen, nach oben und nach unten verlaufende Schächte, alle gleichlang. In der jetzt für den Hamburger Bahnhof gebauten und fest installierten Fassung (es gab zuvor eine temporäre Galerie-Version) sind die quer verlaufenden Schächte jeweils doppelt so lang wie die horizontalen und vertikalen, und dennoch hat, wer in den dunklen Quertunnel eintritt, den Eindruck, er sei gestaucht. So viel Platz und doch so eng. In der Mitte des Baus, auf dem Gitter über dem in die Tiefe führenden Schacht habe ich mich zwar nicht sonderlich unwohl gefühlt, aber ich konnte andererseits dem Titel nicht glauben, dass ich diesem Raum egal bin.
Was genau passiert in einem solchen Raum? Da unterschiedliche Ausstellungsbesucher ganz unterschiedlich reagieren, ist der dem Künstler bisweilen unterstellte Versuch zu manipulieren und zu bevormunden, recht unwahrscheinlich. Er wird auch nicht müde zu betonen, dass er keiner Interpretation dreinreden will. Dennoch sind diese Räume niemals leer und offen und frei besetzbar, sondern auf ganz besondere Weise vorstrukturiert. Man spürt ja immer die Wände, die näher kommen, den Boden, der in die Tiefe zu stürzen scheint, die unüberschaubare Verwinkeltheit und Durchkreuztheit. Und selbst seine von ihm selbst und von Schauspielern ausgeführten Stücke und Performances haben diese raumkonstituierende Kraft. Sätze, die sich widersprechen, Schreie und Gemurmel, auch das erzeugt den Raum als Feld.
Der Raum als Feld ist so etwas wie eine nach-kantische Kategorie, er hängt weder von unserem apriorischen Bewusstsein noch von unserer aposteriorischen Erfahrung allein ab. Er macht etwas aus uns, wenn wir etwas aus ihm machen. Er führt uns vor Augen, dass es (sorry für den Kalauer) die reine Leere nicht gibt. Aber da, wo es keine Leere gibt, muss andererseits nicht gleich eine »Seele« vermutet werden. Es lohnte sich, den vorpolitischen Aspekt zu erkennen.

Bruce Nauman: Dream Passage. Berlin,
Hamburger Bahnhof. Bis 10. Oktober.