Über Mendozas neuesten Film »Lola«

Am Anfang ist der Raum

Das Kino des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza beeindruckt durch seine physische Wucht. In seinem neuesten Film »Lola« kreuzen sich die Wege von zwei Großmüttern in Manila, ohne dass sie die Begegnung gesucht hätten. Die eine hat ihren Enkel durch eine Gewalttat verloren, die andere kämpft für die Freilassung ihres Enkels, der der Tat verdächtigt wird.

Geld wird gezählt, in Plastiktüten gestopft oder im Taschentuch zum Päckchen verschnürt und in der Hosentasche angenäht. Geld wird eingesteckt und abgegeben, es wandert von einer Figur zur anderen, von einem Ort zum nächsten. In den Filmen des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza wechselt das Geld unaufhörlich seinen Besitzer. Auch die Figuren zirkulieren. Sie sind immer in Bewegung. Besonders augenfällig ist dies in »Lola«, dem neuen Film Mendozas. Hier gibt es kein Innehalten, kein Verharren und kein zielloses Herumstreunen, nur die Überwindung von Strecken, das Durchqueren von Räumen. Unterwegssein als eine rein zweckgebundene Bewegung – Arbeitsabläufe, Behördengänge, Geld auftreiben.
Brillante Mendoza gehört neben Lav Diaz und Raya Martin zu den wichtigsten Protagonisten des unabhängigen philippinischen Gegenwartskinos, das in den vergangenen Jahren vor allem auf den Filmfestivals große Beachtung gefunden hat. Seit seinem Erstlingsfilm 2005 sind neun Spielfilme entstanden, zuvor hat er lange Jahre als Filmausstatter gearbeitet und Werbefilme gedreht.
Mendoza macht im weitesten Sinne neorealistisches Kino. Seine Filme handeln von der zeitgenössischen philippinischen Gesellschaft, vor allem von Manilas Unterschicht, doch er inszeniert keine Sozialdramen, zumindest nicht im klassischen Sinn. Seine Filme haben ihren Ausgangspunkt nicht bei den Figuren und schon gar nicht in ihrer Psychologie. Mendoza schafft vielmehr feinmaschige Erzählungen von Räumen, die die Narration, das gesellschaftliche Milieu und die Figuren erst hervorbringen. In »Masahista« (»The Masseur«, 2005), seinem ersten, in nur einer Woche gedrehten Langfilm, ist der Schauplatz ein Massagesalon, der Dienste für die männliche Kundschaft anbietet, »Tirador« (»Slingshot«, 2007) wirft den Zuschauer durch eine hektische Kamera mitten in die Slums von Manila. »Serbis« (»Service«, 2008), Mendozas internationaler Durchbruch, spielt in einem Pornokino, das vor allem schwulen Männern als Treffpunkt für freien Sex dient, während auf der Leinwand abgeschrammelte Hetero-Pornos laufen. Das Kino ist ein schluffig organisierter Familienbetrieb, jeder hat seine Aufgabe, vom Kartenverkauf über das Vorführen bis hin zum Einlass. Private Alltagsdramen mischen sich in den Arbeitstag. Erst am Ende sieht man das Kino namens »Family« von außen, ansonsten spielt alles in den schmuddeligen Räumen, auf den Treppen und in den Gängen, die diese verbinden. Ständig geht jemand von A nach B, die Treppe rauf oder runter, zu den Toiletten, wo eine Überschwemmung behoben werden muss, oder in den Kinosaal, in den sich eine entlaufene Ziege verirrt hat.
»Kinatay« (Gemetzel, 2009) Coco Martin spielt in seiner fünften Zusammenarbeit mit Mendoza Peping, einen Polizeischüler, der nebenher als Geldeintreiber arbeitet. Bei einem nächtlichen »Spezialjob« muss er dabei zusehen, wie eine Prostituierte entführt, vergewaltigt, ermordet und anschließend in Stücke zerteilt – geschlachtet – wird. »Kinatay« macht Angst, er zeigt Gewalt sehr explizit, unterscheidet sich aber deutlich von den Beiträgen des Exploitation-Genres.
Mendoza erzählt die Geschichte aus der Position des Augenzeugen Peping. Man sieht genug, um zu verstehen, was vor sich geht, aber zu wenig, um der Täterperspektive wirklich nahe zu kommen. Fast immer befindet man sich in beunruhigender Distanz zum Geschehen, das durch das Halbdunkel ohnehin nicht vollständig erfassbar wird. Auf diese Weise durcherlebt man das Grauen mit der Hauptfigur, hin- und hergerissen zwischen Wissen-Wollen und Wegsehen. Peping jedenfalls hat zu viel gesehen, um diese Nacht unbeschadet zu überstehen.
Nach »Kinatay« ist »Lola« nun fast eine Erholung, auch wenn die Realität in diesem Film hart und beschwerlich ist. »Lola« beschreibt eine Abfolge von Anstrengungen und still geführten Kämpfen – gegen die Trauer eines schweren Verlusts, die Hürden der Bürokratie, aber auch gegen die ganz normalen Mühen des Alltags, den allgegenwärtigen Regen, die strapaziösen Wege, die zurückgelegt werden müssen, die Beschwerden des Alters. »Lola« bedeutet in Tagalog Großmutter. Zwei »Lolas« gibt es in diesem Film. Die eine hat gerade ihren Enkel verloren, er wurde auf offener Straße ermordet, die andere ist die Großmutter des Mörders. Mendoza zeigt, wie beide Frauen unter schwierigsten Umständen versuchen, Geld aufzutreiben. Lola Sepa für die Bestattung und die Gerichtsverhandlung, Lola Puring für die Kaution ihres Enkels und für die Abfindung, mit der eine außergerichtliche Einigung erzielt werden könnte. Nüchtern und ohne jede Sentimentalität begleitet der Film die beiden Figuren bei ihren Unternehmungen. Im Bestattungsinstitut wird die Beerdigung vorbereitet, beim Arbeitgeber des Enkels eine mickrige Spende abgeholt, dann geht es weiter zur Polizeistation und zu einem Rundgang in der Nachbarschaft, Spenden werden eingesammelt.
Auf der anderen Seite: die Besuche im Gefängnis, ein Gang zum Bezirksamt, eine Fahrt zu Verwandten, die mit Geld aushelfen könnten, die Arbeit beim Gemüsestand – ein paar Geldscheine wandern heimlich in die eigene Tasche. Die Abläufe werden dabei immer wieder von zufälligen Ereignissen durchkreuzt. Lola Puring bekommt eine gerichtliche Vorladung, die in Englisch verfasst ist, also muss schnell jemand gefunden werden, der ihr das Schreiben übersetzt. Für ihre Rentenkarte, die sie verpfänden möchte, braucht sie ein neues Passbild. Sie lässt die Bilder im Automaten machen, doch die Fotos zeigen sie mit geschlossenen Augen, das Geld ist ausgegeben. Später kann sie die Zugfahrt in die Stadt zurück nicht zahlen und muss auf dem Bahnsteig das Gemüse verkaufen, das sie gerade von den Verwandten geschenkt bekommen hat. Jede Bemühung wird von Mendoza mit derselben Aufmerksamkeit bedacht, egal ob es sich um eine Anhörung vor Gericht handelt oder auch nur um das Anzünden einer Kerze bei starkem Wind. Dazwischen und wie nebenbei wird das alltägliche Chaos gezeigt. Eine Handtasche wird bei einer Busfahrt geklaut, der Dieb gejagt und im unübersichtlichen Handgemenge zusammengeschlagen.
Als Zuschauer geht man jeden Weg mit, die Bewegung wird physisch erfahrbar. Zumindest glaubt man die Anstrengung zu spüren, die es kostet, die Treppe zu einer Brücke hinaufzusteigen und oben angekommen, dem Verkehrlärm ausgesetzt zu sein. Oder vom prasselnden Regen niedergedrückt zu werden, der innerhalb von Sekunden die Straßen überschwemmt. Für Gefühle bleibt in diesem Film keine Zeit. Nur zwei Mal bricht Mendoza den Realismus durch den Einsatz von Musik, etwa als Lola Sepa erstmals die Leiche ihres Enkels im Hinterraum des Bestattungsinstituts aufgebahrt sieht. Sie bricht innerlich zusammen, der Originalton verschwindet. Es ist der einzige Moment, in dem ihr Trauer zugestanden wird. Später begegnen sich die beiden Lolas bei Gericht, doch am Ende entscheidet das Geld. In einem Schnellrestaurant wandert ein kleines Päckchen von der einen zur anderen.

»Lola« (Philippinen 2009). Regie: Brillante Mendoza. Darsteller: Camille Solari, Jhong Hilario, Rustica Carpio, Ketchup Eusebio, Benjie Filomeno Start: 8. Juli