Über Luhmanns nachgelassene »Politische Soziologie«

Mit Luhmann das Leck stopfen

Von »Arbeitsmarkt« über »Komplexitätsgefälle« und »Selbstprogrammierung« zum »Zweiparteiensystem«: Niklas Luhmanns nachgelassene »Politische Soziologie« ist eine hilfreiche Einführung in sein Werk.

Dass es eine Korrespondenz zwischen den Wahrheitsfindungsprozeduren in der Literatur von Rainald Goetz und der Theorie der Gesellschaft von Niklas Luhmann gibt, wird von beiden Autoren bezeugt. Goetz verweist wiederholt auf Luhmann und bezeichnete sich als Gläubigen, der auf Luhmanns Wiederkunft als Theoriestar hoffe. Luhmann selbst zitiert Goetz in einer Fußnote seiner »Kunst der Gesellschaft« zustimmend.
Luhmanns nachgelassene Schrift aus den späten siebziger Jahren mit dem Titel »Politische Soziologie« ermöglicht es nun, die Verwandschaft der beiden noch näher zu untersuchen.
Man kann dies anhand einer konkreten Frage unternehmen, sie lautet: Wie verhält sich der Chefredakteur der Bild, Kai Diekmann, wenn er in Berlin die Vernissage einer angesagten Galerie besucht, und warum verhält er sich genau so und zur Abwechselung nicht mal anders?
Geschildert wird Diekmanns Galerie-Auftritt in Rainald Goetz’ Buch »Klage«, das auf seinem Blog in der inzwischen eingestellten deutschen Ausgabe der Vanity Fair beruht. Diekmann betrittt die Ausstellung und betrachtet nicht die Kunst, sondern begibt sich gleich ins Gespräch mit dem Chef der Galerie.
»Ist klar«, schreibt Goetz, »die Chefs wollen mit den anderen Chefs reden, ganz automatisch, von gleich zu gleich.« Warum das so ist, erklärt Luhmann in seiner »Politischen Soziologie«. Vor allem im Kontakt zwischen den Spitzen der Statuspyramiden werde Ranggleichheit eingehalten, und zu diesem Zweck spielten sich Regeln ein, heißt es bei Luhmann. Was Chefs wie Diekmann vermeiden, indem sie sich nur auf das eingespielte System der gegenseitigen Akzeptanz der Chefs einlassen, bringt Goetz drastisch auf den Punkt. Alles andere als der Chefkontakt in der Galerie wäre Stress. Es könnte ja versehentlich ein Gedanke, ein Problem, ein Selbstzweifel dabei entstehen, eine radikale Negation eventuell sogar. Das alles muss unbedingt vermieden werden, weil es auf jeden Fall bei der Chefarbeit hinderlich ist.
Dass ein so in Routine mehr oder weniger sanft eingebettetes Verhaltensrepertoire für die Gesellschaft zu einem Problem werden kann, ist nur logisch: Die Chefs feiern sich untereinander selbst und werden so resistent gegen Kritik.
In der beschriebenen Konstellation liegt ein Paradox. Es ist das Paradox der Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Hierachie. Diekmann, Chef eines Betriebes, der nicht durch Gleichheit und Vertrauen unter den dort Beschäftigten charakterisiert werden kann, sucht die Nähe eines Gleichen, dessen Verhaltensmuster für ihn berechenbar bleiben. Ein verständliches Anliegen, dem aber in der Alltagspraxis seiner Zeitung und seines Betriebs keine Aufmerksamkeit geschenkt würde.
Wenn man Luhmanns Thema in der »Politischen Soziologie« auf eine Frage reduzieren will, dann lautet sie: Wie und warum kam es zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Gleichheit und Hierachie auf eine solche Weise parallel geschaltet sind, dass sie die Orientierungen im sozialen Raum erheblich komplizieren und Kontakte mit Unbekannten unberechenbar werden?
Ausgehend von der Beobachtung der differenzierten Gesellschaften der entwickelten Indus­trie­länder konstatiert Luhmannn zunächst eine grundsätzliche Veränderung der Statusordnung. Von dem Moment an, in dem eine horizontale Gliederung der Gesellschaft in funktional-spezifische Teilsysteme etabliert ist, zerbricht die einheitliche Sozialhierachie. Wenn Politik, Wirtschaft, Kirche, Wisssenschaft, Kunst und Medien, für Luhmann die relevanten Teilsysteme der Gesellschaft, zu funktional verschiedenen Systemen werden, bieten sie getrennte Aufstiegswege. Der Rang in einem System wird in den anderen nicht ohne Weiteres anerkannt.
Man kann ohne abgeschlossenes Studium Günther Jauch und Außenminister werden und als Minister Bomben auf Sarejewo werfen lassen, ohne jemals gedient zu haben.
Dem Minister, der in der politischen Hierachie ganz oben angekommen ist, gibt sein Status aber keine Sicherheit mehr, wenn er sich in einem Laden seine Brötchen kaufen will. Die Verkäuferin kann ihn warten lassen wie jeden anderen Kunden. Der statusmäßige Rang verliert in den differenzierten Gesellschaften seine Funktion, sichere Überlegenheit in unvorhersehbaren Situationen auszustrahlen. Luhmann bezieht sich dabei auf eine kanadische Studie aus den frühen sechziger Jahren, die die Verwaltungssysteme zweier verschieden »entwickelter« Länder, Kanada und Ceylon, untersucht hat. Das Ergebnis ist, dass in der weniger stark differenzierten Gesellschaft eine sehr viel eindeutigere Statusüberlegenheit der Bürokratie existiert. Konnte sich in Ceylon ein hoher Verwaltungsbeamter auch im Urlaub in einem Fischerdorf darauf verlassen, so behandelt zu werden, wie er es aus seiner Behörde kannte, sollte sein kanadischer Kollege damit besser nicht rechnen.
Dabei geht es Luhmann nicht darum, Gesellschaften nach ihrem Differenzierungsgrad zu hierachisieren. Er studiert sie, wie ein Evolutionsbiologe verschiedene Ameisengesellschaften untersucht und deren Funktionieren in Abhängigkeit von den Reaktionen der Ameisen auf veränderte Umweltbedingungen beschreibt.
Gesellschaften, so Luhmanns Kernthese, differenzieren sich in Teilsysteme aus, um die Komplexität ihrer Umwelterfassung und damit ihres Umweltverständnisses zu erhöhen. Mehrere Systeme können das besser als nur eines. Es ist nur so, dass jedes System in seinen innerbetrieblichen Verfahren Komplexität reduzieren muss, um arbeitsfähig zu bleiben. Die Politik kann nicht, um ein aktuelles Beispiel zu nehmen, mit dem Verfahren von Tiefseebohrtechniken in der Weise vertraut sein, in der es die Ingenieure sind. Dass Obama tatsächlich glaubte, BP die Handlungshoheit über das auslaufende Bohrloch abnehmen zu können, um dann mit seinen Technikern das Loch zu stopfen, war eine Folge der notwendigen Komplexitätsreduktion des politischen Systems. Auch hier hat man es mit dem Chefsystem zu tun. Hätte Obama anstelle des obersten Mannes aus der für die Bohrungen zuständigen Behörde einen Ingenieur angerufen, hätte der ihm gleich sagen können, dass die besten Techniker auf dem Gebiet bereits bei BP arbeiten.
Das Manuskript zur »Politischen Soziologie« konnten sich interessierte Studenten in der Zeit, als Luhmann noch in Bielefeld lehrte, bei seiner Sekretärin ausleihen. Es war für den studentischen Gebrauch geschrieben, was seiner Lesbarkeit sehr entgegen kommt. Und es wird hier auch sehr deutlich, wer der Gegner dieser Theorie ist: nämlich die Vertreter jener Theorien, die die Teilsysteme der Gesellschaft vorrangig unter dem Aspekt ihres kommunikativen Austauschs mit der Gesellschaft und anderen Teilsystemen betrachten.
Luhmann betont hingegen den Trennungsprozess der Systeme untereinander. Selbständig wird etwa das politische System nur in der Trennung von anderen Systemen. Jede stark differenzierte Sozialordnung brauche, schreibt er, wenn sie die Autonomie ihrer Teilsysteme erhalten wolle, Trennfunktionen und filternde Mechanismen, die verhindern, dass jede Änderung innerhalb und außerhalb gegebener Systeme lawinenartig wirkt. Ein System, in dem alles von allem abhinge, also alles geändert werden müsste, wenn sich irgendwo etwas ändert, würde im Chaos enden. Die Stabilität eines politischen Systems hängt demnach davon ab, dass im Verhältnis zur Gesellschaft zugleich verbindende und trennende Mechanismen existieren. Die notwendige Filterung kommt dabei durch eine eigentümliche Kombination von Rollenerfordernissen und individueller Selbstbestimmung zustande.
Im neuzeitlichen Staat, sofern er sich als Rechtsstaat begreift, wird der Bürger zuerst einem Gleichgültigkeitsprinzip unterstellt. Gleichheit vor dem Gesetz heißt, dass alle nach universell angewandten Kriterien behandelt werden. Wenn in diesem Sinn alle Bürger gleich sind, kann das nur heißen, dass Rollen, die nicht von allen wahrgenommen werden, prinzipiell unberücksichtigt bleiben bzw. ihre Berücksichtigung im Einzelfall begründet werden muss. Das schließt Ungleichbehandlung genauso wenig aus wie den Eingriff in die Rechte, es führt aber dazu, dass beides zum Entscheidungsproblem wird, dessen Lösung einer Begründung bedarf. Bei der Rollen- und Statusvielfalt moderner Gesellschaften kann das nur heißen, dass der Bürger zwangsläufig in seiner aktuellen individuellen Rollenformation gegenüber den Verwaltungsapparaten in seiner Komplexität reduziert wird. Die aktuellen Rollenzusammenhänge, sei es als Musiker, Frontkämpfer, Politiker oder Lebensretter, müssen gegenüber der Verwaltung unberücksichtigt bleiben. Wenn sie jeden Fall als Unikum betrachten würde, bräche ihre rationale, großbetriebliche Organisation zusammen. Die viel beklagte Bürgerferne der Verwaltung gehört zu deren notwendigen Trennmechanismen gegenüber dem Bürger.
Bei Luhmann wird der Bürger als temporäre Rollenkonfiguration gefasst. Der Rollenbegriff trägt seine »Politische Soziologie« und erweist sich insbesondere, wenn es um das politische Publikum geht, als brauchbares Instrument zur Beschreibung von Konstanz und Invarianz der Bürger. Dabei sind die Publikumsrollen nicht ein System, sondern jede für sich ist als Einzelrolle ein Kleinsystem. Und als fast unscheinbares Kleinssystem, das in seiner Invarianz wie Konstanz nur statistisch zu entdecken ist, trägt der Bürger genauso zur Stabilisierung des politischen Systems bei wie die Verselbständigung von Politik und Verwaltung. Der Einzelne wählt zum Beispiel nach einer Scheidung immer noch dieselbe Partei, wie sich auch seine Einkommensentwicklung nicht unmittelbar in politische Aktivität übersetzen lässt.
Der Bürger hat die Trennung der Systeme sehr gut angenommen. Selbst schwere konjunkturelle Wirtschaftskrisen haben keinen automatischen Anstieg politischer Aktivität zur Folge. Luhmanns Fazit dazu lautet: »Also nicht einmal dort, wo es wohl am nächsten liegt, nämlich im Verhältnis von Wirtschaft und Politik, hat die Wahlforschung allgemeine Korrelationen zwischen Bedürfnis und Aktivität feststellen können.«
Als Beschreibung der Gesellschaft ist Luhmanns »Politische Soziologie«, die um die Zäsur des Jahres 1968 herum entstanden ist, immer noch unvergleichlich aktuell. Das zeigt sich auch in seiner Beschreibung der SPD. Als Partei habe sie ein unzulängliches Verständnis des Eigenrechts der politischen Prozesse, des Parteihaften, des »Noch-Nicht« als Funktion. Soziologisch gesehen, sei es deshalb das Normale, dass die SPD als Oppositionspartei versagt habe und das Versagen in der Opposition durch Mitregieren kompensieren wolle. Das hat Lenin auch nicht viel anders gesagt, aber der hatte ja auch, wie der gelernte Verwaltungsbeamte Luhmann, eine ziemlich hohe Meinung von der entwickelten deutschen Post seiner Zeit.

Niklas Luhmann: Politische Soziologie. Hrsg von André Kieserling. Suhrkamp, Berlin 2010, 500 Seiten, 29,80 Euro