Großbritannien spart bei Bildung und Gesundheit

Die neue Austerity nach Labour

Die von der britischen Regierung angekündigten Sparmaßnahmen sind sogar in der konservativ-liberalen Koalition umstritten. Sie betreffen vor allem Bildungs- und Gesundheitswesen.

Abgeordnete der konservativ-liberalen Regierungskoalition haben wenig Freude an den Schlagzeilen, die in der vergangenen Woche durch die britische Presse gingen. Der konservative Erziehungsminister Michael Gove hatte zuvor angekündigt, das von der ehemaligen Labour-Regierung aufgelegte Programm zum Um- und Neubau von 400 britischen Schulen zu streichen, um so eine Milliarde Pfund einzusparen. Zunächst stiftete Gove Verwirrung, weil unterschiedliche Listen der betroffenen Schulen kursierten. Als dann endlich klar war, welche Schulen nicht mehr renoviert werden sollen, brach bei vielen Abgeordneten Zorn aus, da sie durch das Mehrheitswahlrecht stark an ihre Wahlkreise gebunden sind. Der konservative Abgeordnete Iain Liddell-Grainger, in dessen Wahlkreis Bridgewater drei Schulen betroffen sind, drohte mit für Tories recht ungewöhnlichen Maßnahmen. Er wolle mit Eltern, Schülern und Lehrern Protestmärsche nach Westminister organisieren, ließ er verlauten. Kritik kam auch von verschiedenen Kommunalpolitikern der Koalition. Der ehemalige liberale Bürgermeister von Liverpool, Warren Bradley, erklärte, ihm sei bei der Ankündigung speiübel geworden. Die Hälfte seiner liberalen Kollegen im Stadtrat prüft die Aufkündigung der Parteimitgliedschaft.

Gove hat sich inzwischen entschuldigt für die Verwirrung, die er gestiftet hat, an seiner Entscheidung habe sich jedoch nichts geändert. Die Labour-Partei hat in dem »Schulskandal« den ersten Angriffspunkt gegen die neue Regierung gefunden. Der ehemalige Erziehungsminister und Kandidat für den Vorsitz von Labour, Ed Balls, der das Bauprogramm aufgesetzt hatte, nutzte den Aufruhr in der Koalition für heftige Attacken.
Derzeit wird deutlich, dass die von der neuen britischen Regierung unter Premierminster David Cameron angekündigten Sparmaßnahmen für viele Teile der britischen Bevölkerung schmerzhaft sein werden. In den ersten Wochen nach der Regierungsübernahme hatten sich die Sparparolen fast täglich verschärft, doch im Zuge der Euro-Krise schien dies den meisten Briten zunächst wenig auszumachen. Die Liberaldemokraten, die noch im Wahlkampf unmittelbare Sparmaßnahmen abgelehnt hatten, weil diese das spär­liche Wirtschaftswachstum bedrohen könnten, schwenkten jedoch bald auf die konservative ­Linie ein.
Im laufenden Haushalt allein wird Finanzminister George Osborne (tory) 6,2 Milliarden Pfund einsparen. In den kommenden vier Jahren will die Regierung in einigen Ressorts bis zu 40 Prozent der Ausgaben kürzen. Hart betroffen sind vor allem der Verkehrsbereich sowie das Arbeits- und das Innenministerium. Die meisten anderen Ressorts müssen mindestens 25 Prozent einsparen. Im Wahlkampf hatten die Konservativen versprochen, in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Erziehung und Sicherheit nicht kürzen zu wollen, doch damit meinten sie die sogenannten frontline services, also alle Dienstleistungen, die den Bürgern direkt zu Gute kommen. Man wolle jedoch bei der Bürokratie sparen und Verschwendung von Ressourcen vermeiden, hieß es. Was einleuchtend klingen mag, erweist sich in der Umsetzung jedoch als kompliziert. Ed Balls’ Schulbauprogramm war zunächst von vielen Seiten kritisiert worden. Millionen Pfund flossen an Beraterfirmen, bevor ein einziges Klassenzimmer renoviert wurde. Derzeit beschäftigt sich auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit einigen Fällen wegen der Verschwendung öffentlicher Gelder.
Doch nun scheint es auch konservativen Abgeordneten zu dämmern, dass Geld einzusparen nicht einfach ist. »Es scheint so, als würden wir bei den Schulen sparen«, beklagten sie sich nach Michael Goves Ankündigung. Man hätte gleich sagen sollen, man wolle große Investitionsausgaben prüfen, meinen viele Tories.
Der Spareifer der neuen Regierung wird sich allerdings kaum rhetorisch verklären lassen. Die Einsparungen von einer Milliarde Pfund bei dem Schulbauprogramm, die so viel Kritik auslösten, machen lediglich ein Bruchteil des britischen Haushaltsdefizits aus, welches 155 Milliarden Pfund beträgt. Dieses will die Regierung in den kommenden vier Jahren komplett abbauen, hauptsächlich durch eine Reduzierung der Ausgaben. Ohne Effekte bei den frontline services wird das nicht zu machen sein.
25 Prozent Einsparungen im Innenministerium könnten Schätzungen der Gewerkschaften zufolge zur Entlassung von rund 20 000 Polizisten führen. Im Gesundheitsbereich haben die geforderten Einsparungen von 20 Milliarden Pfund in den kommenden vier Jahren bereits jetzt zu dem Verlust von rund 10 000 Krankenpflegerstellen geführt, wie das Royal College of Nursing bekannt gab. Viele Krankenhäuser haben einen Einstellungsstopp verhängt und planen weitere Entlassungen. Einer internen Berechung des Finanzministeriums zufolge, die dem Guardian zugespielt wurde, könnten die Kürzungen den Verlust von 1,3 Millionen Stellen im öffentlichen Dienst nach sich ziehen. Finanzminister Osborne versuchte abzuwiegeln, es seien vermutlich eher 600 000, und die wären bei den Sparplänen der alten Labour-Regierung auch verschwunden.

Neben den Personalkosten will Osborne vor allem bei den Sozialausgaben sparen. 11 Milliarden Pfund, ein Drittel der gegenwärtigen Ausgaben, will er bei Kindergeld, Sozialhilfe und Wohnungsgeld kürzen.
Im Verkehrsbereich sind ebenfalls massive Kürzungen geplant. Der Verkehrsminister Norman Baker von den Liberaldemokraten gab bekannt, dass das Investitionsprogramm seines Ministe­riums in den kommenden zehn Jahren mit rund 30 Milliarden Pfund weniger auskommen muss als noch unter Labour geplant. Investitionsprogramme wie die 15 Milliarden Pfund teure Ost-West-Eisenbahntrasse Crossrail in London werden sich damit verzögern. Die neue Regierung hatte im Koalitionsvertrag den Ausbau eines Hochgeschwindigkeitsnetzes angekündigt, doch derzeit ist unklar, ob und wann dies realisiert werden kann. Die Subventionen für Eisenbahn- und Bus­tickets werden möglicherweise ebenfalls sinken, was zu höheren Fahrkartenpreisen führen wird. Die insbesondere von den Liberaldemokraten versprochene Förderung des öffentlichen Personenverkehrs im Kampf gegen den Klimawandel steht damit zur Disposition.
Insgesamt sind die Liberaldemokraten in der Koalition derzeit wenig sichtbar. Ihr Handelsminister Vince Cable erklärte, man könne sich nicht der Logik der Finanzmärkte widersetzen, die Einsparungen seien unvermeidlich. Im Wahlkampf hatte Cable immer wieder auf die Notwenigkeit verwiesen, die Finanzmärkte durch stärkere Regulierung und Besteuerung einzuhegen.
Der stellvertretende Premierminister Nick Clegg behauptet standhaft, die Liberaldemokraten hätten ein faires Sparprogramm durchgesetzt. Die Partei hatte im Wahlkampf eine »sozial verträg­liche« Steuerreform versprochen, von der insbesondere Geringverdiener profitieren sollten. Tatsächlich wird nun der Steuerfreibetrag auf 8 000 Pfund erhöht, was Geringverdienern eine jährliche Entlastung von bis zu 300 Pfund bringt. Zusätzlich werden die Kinderfreibeträge erhöht, was auch den Ärmsten zu Gute kommt. Doch gleichzeitig kündigte Osborne auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 20 Prozent an. Zusammen mit einer bereits von Labour geplanten Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, so errechnete das unabhängige Institute for Fiscal Studies (IFS), würde dies die Steuerleichterungen für Geringverdiener aufheben. Die Statistiken des IFS widersprechen Nick Cleggs Rhetorik. Von den radikalen Sparmaßnahmen der britischen Regierung sind hauptsächlich die Ärmsten betroffen.