Die Debatte über Sterbehilfe nach dem Urteil des BGH

Jenseits des Abschaltens

Das BGH-Urteil zur Sterbehilfe hat nicht, wie allgemein behauptet, die Patientenverfügung gestärkt, sondern könnte sie im Gegenteil sogar überflüssig machen.

Als Lieschen S. vor einigen Jahren in einem deutschen Provinzkrankenhaus starb, hatte sie, wenn man so etwas über ein Lebensende überhaupt sagen kann, ein Quentchen Glück. Ihre fortgeschrittene Demenz und eine Krebserkrankung hatten bei den behandelnden Ärzten zu der Erkenntnis geführt, dass die 86jährige nicht mehr zu heilen war. Doch statt weitere medizinische Therapieversuche zu unternehmen, verlegte man die alte Dame mit Einverständnis der Familie auf eine Palliativstation. Und an eben dieser Stelle hatte sie Glück. Denn auf der Palliativstation wurden ihre wohl unermesslichen Schmerzen gezielt durch hochdosierte Schmerzmittelvergabe gelindert, sie wurde umfassend durch Seelsorger und medizinisch-psychologische Fachkräfte betreut und schlief, wie man es umgangssprachlich ausdrückt, friedlich in einem freundlich eingerichteten Zimmer ein. Ihr Glück bestand vor allem darin, dass es in diesem Fall eine Palliativstation, eine nicht auf Heilung, sondern auf Sterbebegleitung ausgerichtete Abteilung, in dem zuständigen Krankenhaus gab. Das ist in Deutschland längst noch immer nicht Standard.

In den meisten Kliniken steht das Therapieren und Heilen bis zum Schluss im Vordergrund. Und das erzeugt gerade am Lebensende oder bei schwerkranken Patienten immer wieder die gleichen Bilder: Schläuche, Magensonden und fiepsende Apparate sind Symbole für die Angst vor dem Tod in der Neuzeit. Genau diese Bilder geistern durch die Medien, genau sie kommen vielen beim Gedanken an eine Patientenverfügung in den Sinn. Sie folgen dem Tenor: »Ich will nicht an Schläuche angeschlossen sein!« Auch im aktuellen Urteil des BGH zur Sterbehilfe ging es um eine Magensonde. Der Gerichtshof hat den Patientenanwalt Wolfgang Putz vom Vorwurf der »Tötung auf Verlangen« freigesprochen. Dieser hatte seiner Klientin geraten, bei ihrer 77jährigen im Wachkoma liegenden Mutter den Ernährungsschlauch zu durchtrennen. Das Urteil wurde fast einstimmig begrüßt. Von Seiten der Politik, der Medien und der Kirchen gab es lobende Worte. Hingegen wies die Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz-Stiftung darauf hin, dass das Urteil auch seine problematischen Seiten hat.
Eine davon ist: Es scheint fast immer nur um das Abschalten zu gehen – andere Möglichkeiten der Sterbebegleitung tauchen in den Debatten kaum auf. Eine weitere: Der »Wille« der Verstorbenen ist im verhandelten Fall nicht zweifelsfrei feststellbar. Gerade die Frage des »Willens« lohnt im konkreten Fall eine genaue Betrachtung. Begrüßenswert an dem Urteil ist auf den ersten Blick, dass die Bundesrichter die Patientenverfügung gestärkt haben. Doch gerade diese lag bei der 77jährigen Mutter nicht in schriftlicher Form vor.

Basis für das Gerichtsurteil war ein Vieraugengespräch zwischen Mutter und Tochter im Jahr 2002. Dort soll die Mutter geäußert haben, dass sie nicht an »irgendwelche Schläuche« angeschlossen werden wolle. Kurz darauf fiel sie ins Wachkoma. Da es sich der Bundesärztekammer zufolge in diesem Stadium nicht um eine sterbende Patientin handelt, wurde sie seitdem künstlich über eine Magensonde ernährt. Zugestimmt hatten damals der Ehemann und eine ihm zur Seite gestellte Berufsbetreuerin. Erst nach dem Tod des Ehemannes wandte sich die Tochter 2006 an die Berufsbetreuerin und verlangte die Einstellung der künstlichen Ernährung. Und erst 2006, also vier Jahre nach Beginn der künstlichen Ernährung, brachte sie das Vieraugengespräch ins Spiel. Warum, so fragte eigentlich nur die Deutsche Hospiz-Stiftung, unterbrach das Gericht an dieser Stelle nicht die rechtstheoretische Betrachtung des Falles und klärte die offenen Fragen? Warum wurde das Vieraugengespräch erst vier Jahre nach dem Beginn der künstlichen Ernährung erwähnt? Und warum wurde es nicht schon vier Jahre zuvor als Patientenwille interpretiert? War gar die künstliche Ernährung rechtswidrig – da gegen den Willen der Patientin?
Auch wenn in diesem Präzedenzfall alles seine Richtigkeit gehabt haben sollte, so offenbart das Urteil doch beispielhaft die möglichen Grauzonen im Umgang mit der Sterbehilfe. Zwar droht im Bereich der aktiven Sterbehilfe kein »Dammbruch« in Deutschland, doch auch die passive Sterbehilfe birgt Risiken. Zumal, wenn sie, wie in diesem Fall, mit dem Patientenwillen nur bedingt korrespondiert. Der Geschäftsführende Vorstand der Deutschen Hospiz-Stiftung, Eugen Brysch, warnt gar davor, dass das Urteil »das Patientenverfügungsgesetz verwässert«. Denn wenn es Schule macht, könnte die an hohe Bedingungen geknüpfte schriftliche Patientenverfügung bald obsolet sein. Das vor einem Jahr verabschiedete Gesetz wäre dann das Papier nicht mehr wert, auf dem es steht. Und spätestens dann wäre auch dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Ein angebliches Gespräch ohne Zeugen könnte reichen, um ans Erbe zu kommen.

Im Bereich der passiven Sterbehilfe von schwerkranken sterbenden Menschen könnten sich dann ähnliche Fälle häufen, zumal wenn die Patienten in Pflegeheimen untergebracht sind und die Angehörigen die katastrophalen Zustände nicht mehr ertragen. Dann könnte ein »Gespräch« der rettende Ausweg sein. Gerade in Pflegeheimen ist die Versorgungslage mitunter erschreckend. Und gemäß den Abrechnungsregelungen und gesetzlichen Vorgaben ist ein Übergang in eine palliativmedizinische Versorgung nahezu ausgeschlossen. Zwar gibt es seit etwa drei Jahren einen Anspruch auf ambulante palliativmedizinische Betreuung, diese wird aber nur in den seltensten Fällen in Anspruch genommen. Entweder ist sie aufgrund der schlechten personellen und finanziellen Ausstattung nicht verfügbar, oder aber sie kann von Pflegeheimpatienten nicht in Anspruch genommen werden, da es gesetz­liche Ausschlusskriterien gibt. So wurden von den errechneten 80 000 Patienten, die einer palliativmedizinischen Betreuung bedürfen, im vergangenen Jahr nur rund 4 000 bis zu ihrem Tode begleitet.
Auch im Falle der 77jährigen Mutter, über den der BGH urteilte, waren die Bedingungen im Pflegeheim anscheinend katastrophal. Den Gerichtsunterlagen zufolge ist sie trotz ihres Wach­komas erstaunlicherweise aus dem Bett gefallen und hat sich einen Arm gebrochen. Wie es dazu kommen konnte, spielte vor Gericht keine Rolle.
Nach und nach bröckelt die anfangs scheinbar allumfassende Zustimmung zu dem Urteil. So mahnte neben der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles auch der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages, der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, vor den möglichen Konsequenzen des Urteils. »Auch nach der jüngsten Entscheidung des Bundesgerichtshofes darf es weiterhin keinen Automatismus zum Behandlungsabbruch geben«, forderte er in der FAS. Einen solchen Automatismus zu verhindern, gelingt aller Wahrscheinlichkeit aber nur, wenn die Missstände und die chronische Unterfinanzierung der Pflegeeinrichtungen in Deutschland endlich behoben werden. Denn an dieser Stelle sehen Patientenschutzorganisationen das größte Problem. Aber auch die gesetzlich festgelegten Kriterien für die Feststellung des Patientenwillens mithilfe einer schrift­lichen Patientenverfügung müssen wieder konsequent angewandt werden. Denn eines ist offensichtlich: Sterben wird zunehmend komplizier ter.