Antisemitische Übergriffe in den Niederlanden nehmen zu

Köder für Antisemiten

Seit Jahren nimmt der Antisemitismus in den Niederlanden zu. Die Reportage eines jüdischen Senders mit versteckter Kamera hat das Thema nun in die Diskussion gebracht.

»Jude!« schallt es drohend über die Straße. Einer aus der Gruppe der Jugendlichen, die am Rand eines Parks in Amsterdam-West um einen Scooter herumstehen, zündet sich eine Zigarette an. Ein anderer reckt den Arm zum Hitlergruß. Noch einmal tönt es: »Jude!« Dann sind der Rabbiner und seine beiden Schüler verschwunden. Als bloße Zwischenfälle, erzählt Rabbiner Lody van de Kamp später, hätten die rund 40 000 Juden in den Niederlanden solche Szenen lange genug abgetan. »Drei von sechs Malen, die ich in die Stadt gehe, passiert etwas.«
In den vergangenen Jahren häufen sich in den Niederlanden Berichte über Provokationen, Beschimpfungen und Drohungen, die Juden erfahren, wenn sie sich in der Öffentlichkeit als solche zu erkennen geben. Auch bespuckt werden Träger einer Kippa des öfteren. Und selbst körperliche Übergriffe kommen vor, wie im Herbst 2008 in Amsterdam, als marokkanischstämmige Jugendliche einen jungen Juden verprügelten. Viele Juden trauen sich nicht mehr mit Kippa auf die Straße oder verbergen sie unter einer anderen Kopfbedeckung.
Seit Jahren schlagen jüdische Organisationen Alarm. Landesweit Gehör finden sie jedoch erst seit einer Reportage des jüdischen Rundfunksenders Joodse Omroep im Juni. Darin folgte ein verdecktes Kamerateam dem Rabbiner van de Kamp, der auch Direktor der orthodoxen Schule Cheider in Amsterdam ist, und zweien seiner 15jährigen Schüler durch die Straßen der Hauptstadt. Zum Repertoire an Belästigungen gehörten auch die eingangs erwähnten Szenen. Dazu gab es einen weiteren Hitlergruß und diverse Beleidigungen wie »Scheißjude.« Van de Kamps Fazit: »Es ist zum Verrücktwerden, dass wir nicht überall in unserer Stadt frei herumlaufen können.«
Wenige Tage darauf widmete sich das Parlament in Den Haag in einer Dringlichkeitsdebatte dem Thema. Der noch im Amt befindliche Justizminister der aufgelösten Regierung, Ernst Hirsch Ballin, sagte zu, Mittel für die Aufklärung antisemitischer Übergriffe und für Aufklärung an Schulen bereit zu stellen. Von einem eindeutigen Anstieg der Übergriffe auf Juden wollte er indes nichts wissen. Judenfeindliche Vorfälle in den Niederlanden sieht er in direktem Zusammenhang mit den Ereignissen im Nahen Osten.
Eine solche Verbindung ist offensichtlich. 2006, im Jahr des Libanon-Kriegs, kam es mit 261 Vorfällen zur schlimmsten Eskalation. Die 167 registrierten Fälle von 2009, die eine dramatische Steigerung von 55 Prozent gegenüber dem Vorjahr darstellen, sind auch vor dem Hintergrund des Kriegs in Gaza zu sehen. Elise Friedmann vom Israel-Informations- und Dokumentationszentrum (CIDI), das diese Statistiken seit 1983 publiziert, weist im Gespräch mit der Jungle World aber auf die Gefahr hin, vorschnell Verbindungen herzustellen: »Natülich darf man sich damit nicht abfinden, weil es völlig inakzeptabel ist, Ärger über irgendetwas, das in Israel passiert, hier an Juden aus zu lassen.«

Dass solches Verhalten dennoch die Regel ist, brachte der jugendliche Teilnehmer einer Diskussion beim Joodse Omroep Ende Juni auf den Punkt: »Wenn jetzt in Israel etwas passiert, kriege ich morgen, wenn ich in die Stadt komme, wieder die volle Ladung ab. Wenn in einer Woche alles wieder ruhig ist, wird es wieder etwas weniger sein.« Wie selbstverständlich diese Gleichsetzung funktioniert, zeigt die Aussage eines Altersgenossen in derselben Sendung: »Du kannst dich natürlich ewig damit aufhalten, dass du wieder mit diesem oder jenem beschimpft wurdest, aber du musst doch weiter mit deinem Leben. Mit manchen Dingen muss du einfach leben lernen.«
Der sozialdemokratische Abgeordnete Ahmed Marcouch sieht das anders. Der ehemalige Polizist, bis vor kurzem Vorsitzender des islamisch geprägten Amsterdamer Stadtteils Slotervaart, ist selber in Marokko geboren und fordert, endlich mit allen Mitteln gegen antisemitische Vorfälle einzuschreiten, hinter denen oft junge Marokkaner stehen. Marcouch regt daher an, als Juden verkleidete Polizisten einzusetzen. Seither wird dieser Vorschlag unter dem Stichwort »Lockjuden« rege diskutiert. Die Amsterdamer Polizei äußerte sich verhalten positiv, wies aber darauf hin, die Staatsanwaltschaft müsse zunächst den gesetzlichen Rahmen solcher Ermittlungsmethoden überpfüfen. Bisher wurden in den Niederlanden »Lockhomos« gegen schwulenfeindliche Übergriffe und »Lockomas« gegen Handtaschendiebe eingesetzt.
Amsterdams Interims-Bürgermeister Lodewijk Asscher begrüßte den Vorschlag ebenso wie der bekannte Sozialdemokrat Frans Timmermans. Letztgenannter argumentierte in einer Debatte im Joodse Omroep: »Wir machen das auch mit marokkanischen Jugendlichen, die wir in die Disco schicken und gucken, ob ihnen der Eintritt verweigert wird.«
Zustimmung gab es auch vom CIDI. Direktor Ronny Naftaniel begrüsste die Maßnahme mit dem Hinweis, dass es als normal angesehen werde, dass Juden ihre Kippa mit einer Mütze verbergen. Das Vorgehen gegen Antisemitismus sollte sich darin aber nicht erschöpfen. Zudem sieht man den Schulunterricht als Schlüssel – gerade weil es hier besonderen Anlass zur Sorge gebe: »Es kommt regelmäßig vor, dass Lehrer ausgeschimpft werden, wenn sie über den Holocaust unterrichten«, so Naftaniel.
Auch der Dachverband jüdischer Organisationen (CJO) will bei den Schulen ansetzen. In einem Brief an die Fraktionsvorsitzenden der Parlamentsparteien heißt es, viele jüdische Schüler würden beschimpft und beleidigt und ihre Schließfächer mit Hakenkreuzen beschmiert.

Auch gegen die antisemitischen Parolen in Fußballstadien soll endlich eingeschritten werden. Anspielend auf das jüdische Image des Hauptstadtclubs Ajax Amsterdam gehören Sprechchöre wie »Hamas, Hamas, Juden ins Gas« bei Fans der meisten anderen Clubs zum Alltagsrepertoire (siehe Jungle World 25/2009). Seit den Demon­strationen gegen den Gaza-Krieg Anfang 2009 haben sie ihren Weg aus den Kurven in die Städte gefunden. Der CJO weist zudem darauf hin, dass die jüdischen Gemeinden der Niederlande inzwischen fast eine Million Euro pro Jahr für ihre Sicherheit aufbrächten. Die sei »nicht mehr finanzierbar«.
Eine antisemitische Entgleisung ganz anderer Art leistete sich unlängst der bekannte RTL-Moderator Harry Mens. In seiner Sendung »Business Class« sondierte dieser die stockenden Verhandlungen über eine neue Regierungskoalition in Den Haag. Diese laufen in den Niederlanden traditionell nach einem formellen Protokoll unter der Leitung eines »Informateurs« ab. Über ihre Inhalte dringt kaum etwas nach draußen. Als Informateur hat die Königin den Senator Uri Rosenthal benannt, der zurzeit mit Parteivertretern eine Koalition aus Rechtsliberalen, Sozialdemokraten, Grünen und dem linksliberalen D66 eruiert. Dass Rosenthal ebenso aus einer jüdischen Familie stammt wie der Chef der Sozialdemokraten, Job Cohen, war Mens Anlass genug, von einem heimlichen Abkommen der beiden zu phantasieren.