Bei Al-Jazeera kündigen Frauen wegen Dresscode

Al-Jazeera macht den Frauen Beine

In der Redaktion des arabischen Vorzeigesenders aus Qatar erregt ein Streit um Dresscodes für weibliche Mitarbeiter Aufsehen. Das Erstarken islamistischer Gruppierungen bei al-Jazeera ist unübersehbar geworden.

Ein Mythos demontiert sich selbst: Das Image des arabischen Fernsehsenders al-Jazeera ist durch interne Streitigkeiten in der Redaktion ernsthaft beschädigt worden. Ende Mai kündigten fünf Nachrichtensprecherinnen des Senders ihren Job, weil sie von der Bevormundung und Gängelung durch männliche Chefs und deren Tugendvorstellungen genug hatten. Seitdem häufen sich Berichte über die »Rebellinnen von al-Jazeera«.
Am 25. Mai hatten die fünf Sprecherinnen ihren Rücktritt aus der Nachrichtenredaktion eingereicht, namentlich die drei Libanesinnen Jouamana Namour, Lina Zahredinne und Julnar Mussa, die Syrerin Luna al-Schibli und die Tunesierin Naoufer Afli. Anlass für ihren Schritt waren die neuen muslimischen Bekleidungsvorschriften, die männliche Chefs ihnen aufzuzwingen versucht hatten.
Der Konflikt hat bereits im November vergangenen Jahres begonnen. Anlässlich des 13. Jahrestags der Gründung des Senders hatte die Geschäftsführung einen Relaunch gestar­tet. Auch die Nachrichtenpräsentation wurde überarbeitet. Der Sprecher oder die Sprecherin verlas die Nachrichten jetzt nicht mehr sitzend, sondern stand im Studio am Nachrichtenpult oder ging umher und war dadurch für den Zuschauer in voller Größe sichtbar geworden. »Bei dieser Gelegenheit machte man eine Entdeckung«, formulierte es eine der Sprecherinnen ironisch, »nämlich die: Wenn man eine Frau aufrecht stellt, dann hat sie Beine.«
In den folgenden Wochen und Monaten ­versuchte Aymar Jaballah, der stellvertretende Direktor des Senders, seine Vorstellungen von züchtiger Kleidung durchzusetzen. Wiederholt lud er Fernsehjournalistinnen vor, um sich über ihre »unanständige« Erscheinung zu beschweren, etwa über nackte Zehen, die in ­offenen Schuhen sichtbar waren. Schließlich wurde ein Dresscode verkündet, der zwar noch meilenweit von Bekleidungsvorschriften wie in Saudi-Arabien oder im Iran entfernt ist, aber dennoch deutliche Einschränkungen ­vorsah. Röcke sollten bis mindestens fünf Zen­timeter unter das Knie reichen, Blusen oder Hemden sollten nur bis maximal fünf Zentimeter unter dem Hals geöffnet sein. Enge ­Hosen seien zu vermeiden. Über die Kleidung oder das Auftreten von Männern fand sich keine Zeile.
Der aus Ägypten stammende Jaballah gilt als Sympathisant der fundamentalistischen Tabligh-Bewegung, die hauptsächlich in Indien und Pakistan agiert. Zwar ist al-Jazeera kein islamis­tischer Sender, allerdings stehen verschiedene Gruppierungen innerhalb des Senders dem ­Islamismus in all seinen Facetten nahe. Jaballah konnte lange Zeit tun, was ihm beliebte, da der Direktor der Sendeanstalt, Wadah Khanfar, schützend die Hand über ihn hielt.
Khanfar wurde in Gaza geboren und studierte in Jordanien. 2003 engagierte der Sender ihn und entsandte ihn als Korrespondenten nach Bagdad. Heute ist er für die Personalpolitik von al-Jazeera zuständig. Khanfar ist ein Sympathisant der Muslimbruderschaft, die ihre Zentrale in Ägypten hat. Diese reaktionäre Bewegung existiert in einer Reihe von arabischen Ländern, von einer »moderaten« Parlamentspartei in Algerien bis zur palästinensischen Hamas sind ihr verschiedene Organisationen angeschlossen.
Bereits im Dezember vergangenen Jahres legten neun Moderatorinnen gegen den Umgang Jaballahs mit seinen Mitarbeiterinnen Beschwerde ein. Zu jenen zählte auch die Algerierin Khadidja Benguenna, die als einzige Mode­ratorin des Senders ein – leichtes – Kopftuch trägt. Die Journalistinnen beschwerten sich über tyrannische männliche Vorgesetzte, insbesondere über Jaballah. Die Direktion setzte ­daraufhin eine Untersuchungskommission ein, die aus drei Männern bestand. Doch diese versuchte sechs Monate lang nur Zeit zu gewinnen, um den lästigen Konflikt herunterzuspielen. Im Mai kündigten fünf der neun Frauen, die Beschwerde eingelegt hatten. Die Direktion ließ daraufhin zwei leitende Redaktionsmitglieder versetzen: Chefredakteur Ahmad al-Shayak erhielt einen anderen Posten, und der umstritte Direktor, Ayman Jaballah, wurde an die Spitze von al-Jazeera Live, einem der Spartensender der Anstalt, weggelobt. Zudem will die Leitung nun eine Charta zu den Bekleidungsnormen erlassen, die sich an den Bekleidungsvorschriften von CNN und BBC orientiert.
In einem Artikel der arabischsprachigen Zeitung al-Duwaliya wird darauf hingewiesen, dass der Streit über die Kleidungsvorschriften nur der Auslöser für die Kündigungen gewesen sei. Die Frauen zählten weitere Streitpunkte auf, so die Abschaffung von Formaten, die von Frauen für Frauen produziert wurden. Sie wiesen auch darauf hin, dass leitende Positionen im Sender ausschließlich mit Männern besetzt werden. Zudem würden freie Stellen nunmehr systematisch an männliche Bewerber vergeben wurden.
Kritisiert wird von ihnen auch eine Berichterstattung, die sich ganz auf bewaffnete Konflikte konzentriert. »Von Gaza bis Mogadischu sieht man nur Blut und Tote«, schreiben die Frauen. Zugespitzt gesagt: Bei der arabischen Redaktion von al-Jazeera habe man, schreiben sie, »den Eindruck, für einen Fernsehsender der Taliban zu arbeiten«.
Die Kritik wiegt insofern schwer, als der erklärte Anspruch des Senders darin besteht, Themen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und keine bestimmte Ideologie zu bevorzugen. In Formaten wie »The Opposite Direction« oder »The Other Opinion« diskutieren beispielsweise radikale Islamisten mit Anhängern einer säkularen, laizistischen Politik.
Dieser im Prinzip pluralistische Ansatz zählte zu den Voraussetzungen, unter denen der junge Emir des Golfsstaats Qatar, Hamab bin-Khalifa al-Thani, den Sender im November 1996 gründete. Der Name bedeutet so viel wie »Die Halbinsel«, er ist nach der Form des Golfstaats Qatar benannt.
Al-Jazeera war Bestandteil eines Modernisierungsprogramms für die Golfmonarchie, die laut Weltbank das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt aufweist, aber weder Gewerkschaften noch politische Parteien zulässt. In der arabischen Welt, die bis dahin zumeist nur staatliche Propagandasender kannte, bedeutete al-Jazeera einen großen Fortschritt.
Zum Pluralimus bei al-Jazeera gehört, dass auch Terror-Organisationen wie al-Qaida oder die afghanischen Taliban bei dem Sender im Originalton zu Wort kommen. So hat al-Jazeera schon sämtliche Chefs der Taliban im Programm gehabt. Bereits am 12. September 2001 sprach dort Ussama bin Laden über die Attentate vom 11. September. Der Sender hat freilich nie einen Zweifel an der Verantwortung al-Qaidas für die Attentate gelassen, während andere arabische Sender gerne Verschwörungstheorien verbreiteten. Immer wieder wird ihm deshalb von arabischer Seite vorgeworfen, er werde vom CIA oder Mossad finanziert. Westliche Kritiker dagegen behaupten, der Sender mache sich zum Werkzeug al-Qaidas.
Der Pluralismus kennt freilich Grenzen: Al-Jazeera konnte zwar über die Unterschlagung von Staatsgeldern zugunsten von Mitgliedern der herrschenden Fürstenfamilie berichten, aber Anhänger einer politischen Opposition in Qatar oder gar einer Abschaffung der Monarchie kommen nicht zu Wort. Der Golfstaat finanziert das Satellitenprogramm des Senders mit 100 Millionen Dollar pro Jahr.
Dessen Außendarstellung in den arabischen Ländern sowie weltweit wird jedoch eher von der Offenheit für kontroverse Debatten geprägt. Folgerichtig ist der Sender auch bei mehreren arabischen Regimes verhasst. Syrien und Saudi-Arabien lassen ihn bis heute nicht auf ihrem Territorium arbeiten.
Auch in Nordafrika gibt es immer wieder Ärger, allerdings aus unterschiedlich zu bewertenden Gründen. Tunesien schloss im Oktober 2006 seine Botschaft in Qatar, weil der Sender den tunesischen Menschenrechtler und nicht-­islamistischen Oppositionellen Moncef Marzouki interviewt hatte. Das tunesische Regime hatte bereits 2001 aus ähnlichen Gründen seinen Botschafter vorübergehend abberufen. Es wirft dem Sender aber auch vor, einer Kampagne von Religiösen und Islamisten gegen Tune­sien wegen des dort an öffentlichen Orten geltenden Kopftuchverbots eine Plattform geboten zu haben. In Algerien wurde die Arbeit des Senders mehrfach behindert, etwa 2004, weil er über Korruptionsaffären des Regimes berichtet hatte, aber auch, nachdem er später der Untergrundbewegung »al-Qaïda im islamischen Maghreb« (AQMI) das Wort erteilt hatte. In Marokko kritisiert man al-Jazeera sowohl für Interviews mit radikalen Islamisten als auch für seine Berichterstattung über eine soziale Revolte in Sidi-Ifni im Jahr 2008.
Es gibt jedoch Unterschiede zwischen der britischen und der arabischen Redaktion von al-Jazeera. Die arabische Redaktion vertritt eine panarabische bis islamische Linie, während »al-Jazeera English«, wo britische und arabische Journalisten – manche Muslime, andere Christen, Juden oder Atheisten – arbeiten, sich stärker journalistischen Kriterien verpflichtet fühlt. Das Programm von Al-Jazeera wird von circa 65 bis 100 Millionen Zuschauern täglich verfolgt, davon 50 Millionen in der arabischen Welt, vom reichsten Vorort von Dubai bis zu den Armenvierteln von Kairo. In jedem zweiten ara­bischen Haushalt kann der Sender empfangen werden. Seit Juli 2009 wird auch in den USA ausgestrahlt, wo er zunächst 2,3 Millionen Zuschauer erreichte.
Die französisch-tunesische Autorin und Politikwissenschaftlerin Oulfa Lamloun, die 2004 bei einem linken Verlag in Frankreich ein Buch mit dem Titel »Al-Jazeera, rebellischer und zweideutiger Spiegel der arabischen Welt« veröffentlichte, meint, der Sender habe zwei strukturelle Probleme. Das sei einerseits die Ideologie des politischen Islam, andererseits jedoch die Programmatik der kontroversen Debatte. Das Prinzip der Kontroverse dürfte den Islamisten eigentlich nicht gefallen. Dennoch profitieren dessen Vertreter in der gegenwärtigen politischen Situation von ihrem Image, im arabischen Raum und darüber hinaus, als Rebellen gegen die bestehende Weltordnung. Sie präsentieren sich als diejenigen, die die sozialen Ungerech­tigkeiten aufgreifen und gegen die Vorherrschaft des Westens oder Nordens wettern, auch wenn das von ihnen angestrebte Gesellschaftsmodell in jeder Hinsicht reaktionär ist. Seitdem sowohl die marxistische Linke als auch der oberflächlich marxistisch beeinflusste Linksnationalismus oder Befreiungsnationalismus in der Region – ungefähr zeitgleich zum Niedergang der UdSSR und ihres Blocks – starke Rückschläge erlebten, nimmt insbesondere der nicht institutionell eingebundene Teil der Islamisten oft deren früheren Platz als Rebellen ein, de facto allerdings als konfromistische Rebellen. Deshalb üben radikale Islamisten auf viele Journalisten von al-Jazeera eine gewisse Faszination aus und erscheinen als »Kämpfer gegen das Unrecht«. Dies ist – neben der interessegeleiteten Personalpolitik des al-Jazeera-Direktors Khanfar – auch der Grund, warum der Einfluss dieser Strömungen auf Teile des Personals selbst überzugreifen begann – denn es lässt sich keine strikte Trennung zwischen den Botschaften, die ein Sender transportiert, und dem, was seine eigene Mitarbeiter denken, aufrechterhalten.
Im kommenden Jahr wird al-Jazeera möglicherweise seriöse Konkurrenz bekommen. Aus geostragischen Gründen – weil man in Ar-Ryad der Auffassung ist, der Sender begünstige seine regionalen Rivalen wie den Iran und Syrien – schickt Saudi-Arabien sich an, neue Sendelizenzen für per Satellit übertragene Fernsehkanäle zu vergeben, wie erstmals im April dieses Jahres die in London erscheinende Zeitung al-Quds al-Arabi (Arabisches Jerusalem) berichtete. Das Unternehmen Rotana unter dem Milliardär und Prinzen al-Walid Ben Talal wird sich dafür wahrscheinlich mit dem Eigentümer von Fox News, Rupert Murdoch, zusammentun. Die Direktion soll voraussichtlich dem prominenten Journa­listen Jamal Khashoggi anvertraut werden, der soeben bei der saudischen Zeitung el-Watan (Die Heimat) entlassen wurde, weil er den extremen »religiösen Konservativismus« im Königreich kritisiert hatte. Zwar hatte Saudi-Arabien schon seit 2002 einen eigenen Sender, al-Arabiya, lanciert, und die USA gründeten im Februar 2004 unter der Bush-Administration den arabischsprachigen Fernsehsender al-Hurra (Die Freie). Vor allem der letztgenannte hatte aber nur geringen Erfolg, in Ägypten etwa kam er nur auf einen Marktanteil von 0,5 Prozent. Jetzt jedoch könnte al-Jazeera erstmals ernsthafte Konkurrenz erwachsen.