Google Street View. Weshalb die Aufregung?

Meine Straße, mein Haus, mein Garten

Seit zwei Wochen wird in Deutschland intensiv und teilweise hochemotional über Google Street View diskutiert. Die mediale Erregung ist erst der Beginn einer dringend notwendigen Debatte. Dabei geht es nicht primär um Googles Fotos deutscher Fassaden und Vorgärten, sondern um die Frage, wie viel Öffentlichkeit die Gesellschaft sich zutraut.

Seit Google die Einführung seines Fotopanorama-Dienstes Street View in Deutschland noch für dieses Jahr angekündigt hat, läuft die Debattenproduktion auf Hochturen. Politiker übertrumpfen sich mit Ankündigungen, ihre Häuser verpixeln zu lassen, und mit immer abstruseren Forderungen. So verlangt der Grünen-Internetexperte Konstantin von Notz eine Lizenzgebühr, die Google für seine Bilder an die Kommunen zahlen solle. Und der CSU-Bundestagsabgeordnete Stephan Mayer fordert, das Unternehmen solle vor dem Start seines Dienstes die Rentner um Einwilligung bitten. Ja, warum dann nicht auch die Hunde­besitzer? Oder CSU-Mitglieder? Unterdessen machen die Zeit und der Stern mit reißerischen Titeln auf, die Google als »Feindbild« bzw. als »Big Bro­ther« titulieren. Und im Netz reden Datenschutz-Maximalisten und Internet-Enthusiasten erbittert aneinander vorbei, verteidigen die Privatsphäre, beklagen die »Privatisierung des öffentlichen Raums« und propagieren eine »digitale Öffentlichkeit«. Weshalb die Aufregung?

Das Netz ist nicht länger das Andere der Realität, als das es lange Zeit abgetan werden konnte. Die digitale Datendecke, die sich über die Welt legt, wird von Tag zu Tag dichter und nähert sich immer mehr einer 1:1-Abbildung der realen Welt an. Das erinnert an die Erzählung »Von der Strenge der Wissenschaft« von Jorge Louis Borges. Darin entwickeln findige Kartografen »eine Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte«. Die Karte ist das Gelände. Diese perfekte Karte wurde jedoch für unnütz erachtet und von den nachfolgenden Generationen der Verrottung überantwortet: »In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern.« Ginge es nach den Politikern, die Google Street View als unberechtigten Einblick in die Vorgärten unbescholtener Bürger verteufeln und vor Verbrechern warnen, die nun ungestört ihre Raubzüge planen könnten, und ginge es nach den Medien, die munter die Empörung über die profitgierige »Datenkrake« Google schüren, dann wird die Fotokarte namens Google Street View zumindest in Deutschland ein ähnliches Schicksal ereilen. Je nachdem, wie viele Mieter, Immobilienbesitzer und Ladeneigentümer Widerspruch einlegen und die fotografische Ansicht der Fassaden ihrer Häuser verpixeln lassen, wird dieses Layer der Datendecke in jedem Fall mehr oder weniger große Löcher aufweisen.
Das ist schade. Denn der Dienst ist nützlich und eine Bereicherung. Und im Vergleich zu den Daten, die diverse Geomarketing-Anbieter über die Konsum- und Lebensgewohnheiten der Bevölkerung sammeln, um sie anschließend auszuwerten und gegen große Summen für Unternehmen in Form digitaler Karten aufzubereiten, sind die Fotoansichten von Google eher harmlos. Damit soll dem Konzern keineswegs ein datenschutzrechtliches Unbedenklichkeitszeugnis ausgestellt werden. Aber dass angesichts der vielen Datenskandale der vergangenen Jahren ausgerechnet Fotos, die zeigen, was jeder Passant sehen kann, einen derartigen Aufschrei von Politik und Medien nach einem besseren Schutz der Privatsphäre auslösen, verwundert schon. Vielleicht ist es dem Bann des Realen geschuldet, den das Medium Fotografie immer noch auszulösen vermag. Fotos sind nun mal anschaulicher als die Kontodaten, die im Rahmen des Swift-Abkommens US-amerikanischen Sicherheitsbehörden übermittelt werden.

Auch im Netz wird Street View von vielen kritisiert. Denn die Gräben in diesem neuesten Streit um die Macht und Gestaltung des Digitalen verlaufen diesmal keineswegs gradlinig zwischen der Netzgemeinde und den von ihr geschmähten »Internetausdruckern«. Die Verfechter eines rigiden Datenschutzes sehen in Google Street View einen Dammbruch und argumentieren gegen die digitale Zwangseingemeindung mit dem unverbrüchlichen Recht der Verfügung über die eigenen Daten: Meine Daten gehören mir, selbst wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege, geht das niemanden etwas an. Dass eine solche Haltung ihre eigenen ideologischen Fallstricke birgt, darauf hat kürzlich Stefan Rosinski auf carta.info unter Rückgriff auf Kant hingewiesen: »Statt das Persönlichkeitsrecht als das Recht, ›frei zu denken‹ (d.h. sich keinem Zweck als Mittel unterwerfen zu müssen), zu schützen, soll hier die Persönlichkeit als positives Eigentum verteidigt werden.« Den Wert des Privaten derart absolut zu setzen, führt letztlich ebenso zur Erosion der Öffentlichkeit wie seine von den Datenschützern befürchtete Abschaffung.
Um Besitzverhältnisse geht es auch denjenigen Kritikern, die unter dem tautologischen Verweis auf das Gewinnstreben des Wirtschaftsunternehmens Google gegen die »Privatisierung des öffentlichen Raums« wettern. Hier zeigt sich ein eklatanter Kategorienfehler, der realen öffentlichen Raum und seine digitale Darstellung verwechselt. Denn die Privatisierung eines öffentlichen Guts kann nur stattfinden, wenn die Öffentlichkeit durch diesen Vorgang von der weiteren Nutzung des Guts ausgeschlossen wird. Das entscheidende Merkmal eines öffentlichen Guts, die Nicht-Rivalität, bleibt bei Street View jedoch bestehen. Jedem steht es frei, ebenfalls digitale Fotografien öffentlich einsehbarer Gebäude einzustellen, wie auch die Existenz einer Reihe von Alternativangeboten zu Street View, wie etwa Sightwalk, beweist.

Die Fraktion der Befürworter fällt dagegen durch pubertär anmutenden Aktionismus auf. Sascha Lobo hat einen Google-Street-View-Widerspruch-Widerspruch vorgelegt, mit dem man seinen einspruchfreudigen Nachbarn Kontra geben kann. Und der Social-Media-Berater Jens Best hat die Aktion »Verschollene Häuser« ins Leben gerufen, eine Art »Reclaim the Street View«, die sich zum Ziel gesetzt hat, die nach Widerspruch aus Street View entfernten Häuser zu fotografieren und samt GPS-Daten wieder der Netzöffentlichkeit zuzuführen. Das ist plakativ und führt bloß zu einer weiteren Polarisierung. Interessanter ist das Konzept der »digitalen Öffentlichkeit«, das Digitaleuphoriker wie Lobo, Best oder der Blogger Michael Seemann im Zuge der Street-View-Debatte in Stellung gebracht haben.
So sieht Seemann in Street View »die greifbarste Verwandlung der analogen Realität in die digitale Öffentlichkeit«. Doch der Begriff bleibt unscharf. Seine Verfechter setzen ihn emphatisch von einer vorgeblich »analogen Öffentlichkeit« ab, als ob seit der Agora der griechischen Polis Begriff und Sache der Öffentlichkeit unverändert geblieben wären und immer noch allein im Realraum von Marktplatz und Straße ihren Platz hätten. Dabei gewinnt das Konzept der Öffentlichkeit seinen Sinn und seine Struktur immer erst aus den Netzen und Funktionsweisen der Kommunikationsmedien, die sie konstituieren, seien es die Briefe, Journale oder Salons der aufgeklärten Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, die auf der Technik der Rotationspresse beruhende Tageszeitungen der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts oder die Massenmedien des 20. Jahrhunderts, Rundfunk und Fernsehen. Das Internet und die Digitalisierung stellen einen neuerlichen Umbruch dar, insofern ist die Diagnose einer im Werden begriffenen digitalen Öffentlichkeit durchaus zutreffend. Das Netz bringt das Verhältnis von privat und öffentlich ins Rutschen. Mit dem tradierten Verständnis dieser Begriffe lassen sich die neuen Formen der Sozialität, die auf Facebook und anderen Plattformen des Social Web ausgelebt werden, kaum angemessen beschreiben. Das begriffliche Instrumentarium hierfür wäre jedoch jenseits der Worthülse von der digitalen Öffentlichkeit erst noch zu entwickeln.
Eine naheliegende Schlussfolgerung wird selten gezogen: Wenn die Bedeutung und Dichte digitaler Daten von öffentlichem Interesse zunehmen, ist es Aufgabe des Staats, nicht nur rechtliche Rahmenbedingungen für einen fairen und gemeinwohlfördernden Umgang mit diesen öffentlichen Gütern zu schaffen, sondern auch materiell eine entsprechende Infrastruktur bereitzustellen. Zu den Aufgaben der öffentlichen Hand gehören im Internetzeitalter nicht nur der Straßenbau und der Ausbau des Breitbandnetzes, sondern beispielsweise auch die offene und benutzerfreundliche Bereitstellung von geobasierten Diensten. Die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der vom Bundesamt für Kartografie und Geodäsie angebotenen Online-Karten sind mehr als dürftig. Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel der Schweiz. Seit Mitte August sind auf dem Geoportal geo.admin.ch das vorzügliche Kartenmaterial und viele weitere Geoinformationen von Swisstopo, dem eidgenössischen Geoinformationszentrum, frei verfügbar. David Oesch, der Projektleiter des Portals, sagte im Interview mit der Zeitung Blick: »Wir könnten sogar anzeigen, wie viele Quadratmeter jede einzelne Wohnung hat – und deren Besitzer. Aber das ginge zu weit.« Auch Fotos gibt es bei Swisstopo nicht. Aber was spräche denn eigentlich gegen einen von den Vermessungsämtern nach Open-Data-Prinzipien erstellten Fotoatlas?
Wem all das nach zu viel Staat riecht: Eine Alternative stellt die zivilgesellschaftliche Aufbereitung und Bereitstellung von Daten dar. Die Bürger werden selbst aktiv und aggregieren – Stichwort Crowdsourcing – allgemein nützliche Daten auf offenen Plattformen. Ein Beispiel liefert das Projekt Openstreetmap, eine Art Wikipedia für Geodaten, die von Nutzern erstellt wird.
Die Datendecke wird von Konzernen, vom Staat und von den Usern gleichermaßen geknüpft in einem Wechselspiel diverser wirtschaftlicher, öffentlicher und privater Interessen. Im derzeitigen angstbesetzten Diskussionsklima gilt es, den Wert des Öffentlichen zu stärken. Denn darin besteht die gesellschaftspolitische Chance, die sich mit dem Internet verbindet.