New Orleans, fünf Jahre nach dem Hurrikan Katrina

There is a house in New Orleans

Am 29. August 2005 wurden einige Viertel von New Orleans von Hurrikan Katrina fast vollständig zerstört. Nach fünf Jahren haben sich die ärmeren Stadtteile, die vor allem von Afroamerikanern bewohnt werden, noch nicht erholt.

New Orleans war einst als »Paris des Südens« bekannt. Früher weckte die Stadt romantische Assoziationen: Jazz, Karneval und die Trambahn mit dem Namen »Desire«. Inmitten einer einzigartige Mischung an karibischer, afroamerikanischer, französischer und angloamerikanischer Kultur servierte »The Big Easy«, wie man die Stadt auch nennt, die beste Küche der Vereinigten Staaten. Seit Hurrikan Katrina, der die Stadt im August 2005 fast völlig zerstörte, sind es eher Katastrophenbilder, die man mit New Orleans verbindet.
Vor fünf Jahren brachen während dieses Jahrhundertsturms die Deiche des Mississippi an mehreren Stellen. Die Deiche sollten die Gebiete, die unterhalb des Meeresspiegels liegen, vor den Folgen der jährlich eintretenden Hurrikansaison schützen. Die Folgen waren verheerend: Rund 80 Prozent der Stadt standen unter Wasser, es gab 1 800 Tote, zehntausende Obdachlose und Schäden in Höhe von über 80 Milliarden Dollar.
Der Tourismus hatte sich gerade erst von den Folgen des Hurrikans Katrina erholt, da wurde die Stadt von einer neuen Katastrophe getroffen. Das Ölleck im Golf von Mexiko war ein harter Schlag für die lokale Ökonomie. Die Touristen sind die­ses Jahr eher in die Appalachen und in den Smokey Mountain National Park gefahren.
Die Teile von New Orleans, die vor fünf Jahren durch den Hurrikan verwüstet wurden, waren schon immer arm und hauptsächlich von Afroamerikanern bewohnt. Sie haben sich bis heute nicht erholt: Der Stadtteil 9th Ward sieht aus wie aus einem jener Hollywoodfilme, in denen Über­lebende eines nuklearen Fallout oder einer Zombie-Invasion durch ein zerstörtes suburbanes Amerika irren.

Vor halbzerfallenen Häusern parken rostige Autos, andere sind komplett verlassen. Dazwischen gähnen Leerflächen, die teilweise schon mit hohem Gras und Büschen überwachsen sind. Die Gebäude, die dort standen, waren vom Hurrikan so stark beschädigt worden, dass sie einfach abgerissen wurden. Einsam und trotzig weht ein verblasstes und lädiertes Sternenbanner von einer Veranda.
Hinter der Claiborne Avenue Bridge über den Industrial Canal erstrecken sich Meilen gammeliger Industrieanlagen. Man fährt an Bergen von rostigen Metallteilen vorbei. Von hinten hupt es aus einem überdimensionierten Pick-up. Ein breitschultriger Glatzkopf setzt zum Überholmanöver an, der Beifahrer lehnt sich weit aus dem Fenster: »Hey!« Was wird das? Hoffentlich kein drive-by shooting, wie man sie aus Hood-Filmen kennt. »Hast Du Dich verfahren, Mann? Du wirkst etwas verloren.« Die Straße, die direkt ins Stadtzen­trum und zum historischen French Quarter führt, an der sei ich doch gerade vorbeigefahren, erklärt er hilfsbereit. Tief durchatmen. Nicht alle männlichen Afroamerikaner in Machoautos tragen entsprechende Handfeuerwaffen und sind auf Crack.

»Weißt Du, das sind alles Katholiken hier, und selbst das Rechtssystem ist anders, hier gilt noch der Code Napoléon aus der Zeit, als Louisiana eine französische Kolonie war«, sagt Sean, ein außerordentlich kenntnisreicher Autowäscher, ein paar Meilen weiter unter an der Highway 10, wo die Esplanade Avenue Richtung French Quarter abzweigt. »Man darf hier sogar Alkohol auf der Straße trinken, aber nur aus Plastikbechern.« Das habe alles mit dem Karneval zu tun, dem alljährlichen Mardi Gras. Da verwandelt sich die Stadt für zwei Wochen in ein gigantisches, versoffenes Jazz-Festival mit Kostümumzügen.
Sean ist vor fast fünf Jahren aus Pittsburgh in die Tremé, wie dieses Viertel von New Orleans heißt, gezogen. Katrina hat er nicht erlebt, dafür aber den Hurrikan Gustav im Jahr 2008. »Zwei Wochen lang war in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen, und das bei tropischem Wetter.« Keine Klimaanlage habe funktioniert. Außer im French Quarter. Warum? Weil es eben das French Quarter sei. Es werde nie getroffen von den Katastrophen, die New Orleans periodisch heimsuchen. Das sei eben so. Sean kann aber die Nachwirkungen von Katrina zeigen. Schockierend seien weniger die beschädigten Häuser als die, die nicht mehr da sind. Auf der Wiese gegenüber von seiner Autowaschanlage, die eher dem Niveau der Dritten Welt entspricht, habe einmal eine ganze Autowerkstatt gestanden, die vermutlich eher dem Standard eines Industrielandes entsprach. Sean arbeitet mit einem Wasseranschluss, einem Schlauch und ein paar Schwämmen. Es ist fast, als hätte Katrina diese Gegend auf eine überwunden geglaubte Stufe der Zivilisation zurückgespült. Die Arbeit bringt wenig Geld ein, im Norden würde er sicher einen besseren Job finden. Aber das »Lebensgefühl der Stadt« hält ihn davon ab, New Orleans zu verlassen, der Jazz, der Mardi Gras und die Freundlichkeit der Leute.

Abseits der Esplanade Avenue, in der North Robertson Street, befindet sich Joe’s and Flo’s Candlelight Hostel. »Also, wir sind kein Traveller Hostel, so was finden Sie im French Quarter«, sagt Betty, die Managerin, mit einem gewissen Stolz. Vor zweieinhalb Jahrzehnten sei es noch ein Bordell gewesen. »Das hier war einmal das House of the Rising Sun, wissen Sie, das Haus aus dem Lied, das Bob Dylan gecovert hat.« Dann beginnt Betty, über die Vergangenheit eines der berühmtesten Häuser der Musikgeschichte zu erzählen. Hier im Viertel habe es bis in die dreißiger Jahre die sogenannten Kreolen-Krippen gegeben, erzählt sie, das seien Bordelle für Pädophile gewesen, mit einer Vorliebe für dunkelhäutige, aber nicht allzu »schwarze« Mädchen. Kreolen, so nannte man zunächst jene frei geborenen Nachkommen befreiter afrikanischer Sklaven aus den französischen Karibikinseln und weißer französischer Siedler. Später, unter der Segregation, bezeichneten sich viele Afroamerikaner mit hellhäutigen Vorfahren als Kreolen, um sich von der »schwärzeren« Bevölkerung zu distanzieren. Um in einen Club hereingelassen zu werden, musste man zum Beispiel den »Brown Paperbag-Test« bestehen. Am Eingang hielt der Türsteher eine braune Papiertüte vor das Gesicht der Gäste, wenn ihre Hautfarbe heller als die Tüte war, galten sie als »weiß genug«.
»Wenn die kreolischen Mädchen dann zu alt für die Krippe wurden, kamen sie in dieses Haus«, erzählt Betty weiter. Stand das Haus aus dem Lied, das von der Band The Animals 1964 herausgebracht wurde, nicht Historikern zufolge in der St. Louis Street, wo eine Madame Marianne LeSoleil Levant 1862 nach der Besetzung von New Orleans durch Unionstruppen ein Bordell eröffnete? Und wurde das Haus nicht schon 1874 wegen Beschwerden aus der Nachbarschaft geschlossen? »Unsinn«, winkt sie ab, »es war hier, und als ich ein Kind war, war es noch in Betrieb.« »Storytelling« hat in den Südstaaten eine angesehene Tradition, da lässt man sich nicht gerne von Historikern dreinreden.

Ein Bild der ehemaligen Bordellbetreiber Joe und Flozella hängt noch im Flur. Vor 25 Jahren sei das alte Haus abgebrannt, sagt Mrs. Betty, Joe habe sein Leben riskiert, als er in das brennende Gebäude gerannt sei und die Prostituierten aus dem Feuer gerettet habe. Anschließend sei das Haus wieder aufgebaut und in ein Hostel umgewandelt worden. Wegen Joes Heldenmut habe man es nach ihm und seiner im Viertel sehr beliebten Frau benannt. Die beiden starben in den neunziger Jahren. Flozella sei inzwischen zurückgekehrt, davon ist Betty überzeugt. Als sie das Hostel Anfang des Jahres übernahm, seien jeden Morgen um sechs Uhr alle Lichter, die Alarmanlage und die Jukebox im Wohnzimmer angegangen. Einfach so, von selbst. Daraus habe Betty, die von ihrem Großvater in Voodoo und spiritistischen Dingen unterrichtet wurde, den Schluss gezogen, dass es der Geist von Flozella sein müsse. Schließlich sei sie jeden Morgen um sechs Uhr aufgestanden und habe vor dem Haus ihren Kaffee getrunken. »Seitdem trinke ich jeden morgen um sechs mit ihr meinen Kaffee, und es funktioniert, es hat aufgehört«, sagt Betty. »New Orleans ist die Stadt mit der größten Geisterdichte der Welt«, meint sie ohne den Hauch eines Lächelns. Die meisten Geister gäbe es in diesem Stadtteil, in der Tremé. »Die Tremé ist das Herz von New Orleans, hier wurde der Jazz geboren.«
Am Abend kann man sich auf der Frenchmen Street in der Marigny Neighborhood von der musikalischen Vielfalt der Stadt überzeugen. Tätowierte Hippies spielen creole music, an einer Ecke steht eine Jazz-Kapelle mit Tuba und Saxophon, aus den Clubs tönt karibische Musik. Im Burgerladen Charlie’s Checkpoint singt Country-Sänger Big Al am open mic von den Dingen, von denen Country-Sänger immer singen: von Alkohol, seinem Truck, der nicht mehr anspringt, und von Frauen, die ihn betrogen haben.
Auf die Touristenläden in der Bourbon Street im benachbarten French Quarter schauen echte Einwohner von New Orleans herab, das bestätigt auch Betty: »Das ist kein echter Jazz.«
Hier, in der Tremé, lebten zu Zeiten der Sklaverei viele sogenannte freie Farbige, ehemalige Sklaven, die freigelassen oder freigekauft worden waren. In einem gelben Haus an der Governor Nicholls Street, das heute unter Denkmalschutz steht, habe die erste Familie von freien Farbigen mit eigenen Sklaven gelebt.
»Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und dem Verbot der Sklaverei haben sich dann viele Afroamerikaner, die es nicht in den Norden geschafft haben, in der Tremé angesiedelt«, erzählt Betty. Der Weg bis in die großen Industriestädte im Norden war weit, die Reise war teuer und führte durch jene Bundesstaaten, in denen der Terror des Ku-Klux-Klan herrschte.
Die Kategorie race spielt heute noch eine bedeutende Rolle, auch wenn die Segregation, die ins­titutionalisierte Rassentrennung, durch eine Reihe von Gerichtsurteilen in den fünfziger und sechziger Jahren beendet wurde. »Es gibt Teile der Stadt, wo sie uns heute immer noch nicht gerne sehen«, sagt Betty. Uns? Bettys Haut ist augenscheinlich hell. »Ja, selbstverständlich«, erwidert sie, »ich bin Kreolin.« Einige ihrer Vorfahren seien weiß, daher die helle Haut.
Einer dieser Orte, an denen man Schwarze nicht mag, ist der zumeist von Weißen bewohnten Stadtteil Algiers Point, der auf der anderen Seite des Mississippi liegt. In der Woche nach Katrina, als die ganze Stadt in Chaos und Ausnahmezustand versank, bildeten einige Anwohner dieses Viertels eine Bürgerwehr, verbarrikadierten Straßen und fuhren bewaffnet auf Patrouille. Einige gaben später damit an, auf vermeintliche Plünderer geschossen zu haben, die vermutlich vor allem an der Hautfarbe als solche identifiziert worden waren. Nach Angaben eines ehemaligen Milizangehörigen soll es mindestens vier Todesfälle allein in Algiers Point gegeben haben. Aufgeklärt wurden sie nie.
Betty reagiert noch heute voller Wut, wenn sie auf die damaligen Ereignisse angesprochen wird. »Wir wurden vom damaligen Präsidenten allein gelassen, weil wir nicht republikanisch wählen«, behauptet sie. Für Präsident Barack Obama hat sie nur gute Worte: »Er kommt seit dem Auslaufen des Öls ständig nach New Orleans, er tut was.«

Das findet auch Derrick Joshua. Im Gegensatz zu den örtlichen Republikanern, die behaupten, das von der Regierung erlassene Bohrverbot im Golf von Mexiko habe die örtliche Wirtschaft »wie eine doppelläufige Schrotflinte« getroffen, findet er das Bohrverbot richtig: »Es war unverantwortlich, was BP da gemacht hat, einfach zu bohren, ohne überhaupt auf einen solchen Unfall vorbereitet zu sein.« Unfälle geschähen nun mal, und jetzt sei BP dazu gezwungen worden, Geld dafür beiseite zu legen und Notfallpläne zu erarbeiten.
Derrick Joshua ist Mitte vierzig und von Beruf Biochemiker. Am Sonntag predigt er in der Zion Hill Baptist Church, die gegenüber von dem ehemaligen Bordell liegt.
Zum Gottesdienst haben sich vor allem afroamerikanische Frauen mittleren Alters eingefunden. Die schlichte kleine Kirche ist nicht einmal zur Hälfte voll. Um die Kanzel herum stehen der Chor – Männer in Anzug und Krawatte –, ein Schlagzeug und eine elektrische Orgel. Neben der Orgel sitzt ein grauhaariger Herr im Rollstuhl, er trägt ein pinkes Hemd und braune Hosenträger. Die Gemeinde singt Gospel-Songs, Chor und Ins­trumente werden durch drei große Soundboxen, die an der Decke hängen, verstärkt. Derrick Jo­shuas Predigt handelt von einer Geschichte aus dem Johannesevangelium, von einem Mann, der von Geburt an blind ist, bis Jesus mit seinen Jüngern in die Stadt kommt. Die Jünger fragen ­Jesus, welche Sünde an seiner Blindheit schuld sei. Jesus antwortet, es sei keine Sünde an der Blindheit schuld, und heilt den Mann.
Anschließend darf ein junger, voll tätowierter Mann in Baggy-Hosen von der Kanzel aus für sein neues Business werben. Er verkauft Festnetzanschlüsse für den Telefongiganten AT&T. Joshua lobt ihn für seinen Mut, ein Geschäft aufzumachen: »Ich weiß, die Konkurrenz da draußen ist groß. Aber wissen Sie, wie wichtig der kleine Gemüseladen für den Zusammenhalt in der Nachbarschaft ist?«

Nach der Predigt erklärt Joshua, wie er seine Arbeit versteht: »Die Menschen aus dieser Gegend haben ein hartes Leben, und ich biete ihnen genau eine Stunde pure Power, das brauchen sie, um die nächste Woche zu überstehen.« Die Geschichte von dem geheilten Blinden versteht er als Metapher für die Menschen im Viertel: »Sie haben Probleme, an denen sie nicht schuld sind. Sie leben ein schlechtes Leben, aber sie haben stets die Möglichkeit, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Jeder kann sein Leben von einem Tag zum anderen zum Guten ändern, genau wie Jesus den Blinden von einem Tag auf den anderen geheilt hat.« Joshua redet manchmal wie ein konservativer Sozialarbeiter, manchmal aber auch wie ein waschechter Marxist. »Das ist eine Klassenfrage«, erklärt er, »heute sagt man Afroamerikaner, aber auf meiner Geburtsurkunde steht noch negro.« Farbig, schwarz, afroamerikanisch – die Bezeichnungen ändern sich, aber in New Orleans sind sie nach wie vor weitgehend ein Synonym für »arm«. »Anfang des Jahrhunderts haben sich die armen Weißen und die armen Schwarzen besser verstanden. Die Reichen bekamen dann Angst um ihre Macht.« Die Rassentrennung habe die Armen untereinander gespalten, weil plötzlich vor allem die hellhäutigeren Kreolen nicht mehr als »schwarz« gelten wollten. Und seitdem seien die Armen damit beschäftigt, sich gegenseitig von­einander abzugrenzen, statt gemeinsam für ihr Recht zu kämpfen. Aber Joshua ist kein Sozialist, nur etwas mehr Geld sollte die Regierung in Bildung und Gesundheit investieren.
Dabei beobachtet er nicht nur die materiellen, sondern auch die seelischen Leiden der Gemeinde, die durch die Flutkatastrophe vor fünf Jahren entstanden sind. Mit vielen Menschen pflegt er noch Kontakt. Diejenigen, die geblieben sind und unter chaotischen Bedingungen und durch harte Arbeit über die Runden kommen, wie Betty oder Sean, können sich glücklich schätzen. Sie können sich noch am Glamour von New Orleans erfreuen und daran teilhaben, in der Hoffnung, dass etwas davon auch ihnen selbst am Ende zugute kommt.
Für die Geflüchteten und Vertriebenen sieht es anders aus. »Du musst einmal mit den Leuten des Bestattungsunternehmens am anderen Ende der Straße reden«, meint Joshua. Viele Menschen aus der Tremé, die von Katrina zu Tausenden aus ihrem Zuhause vertrieben und nach Houston, Texas, und ins benachbarte Baton Rouge umgesiedelt wurden, sind gestorben. »Sie kehren zurück, um sich bestatten zu lassen«, erklärt er. Sie sterben oft im besten Alter und angeblich bei bester Gesundheit. Joshua glaubt, den Grund zu kennen: »Aus Heimweh nach New Orleans.«