Krise und soziale Lage in den USA

Alle hoffen auf Big Ben

Die Arbeitslosenrate in den USA ist hoch, immer mehr Amerikaner können ihre Schulden nicht bezahlen. Neue Konjunkturprogramme aber sind nicht geplant.

Die meisten Amerikaner hätten es wohl auch so gemerkt. Am Freitag vergangener Woche lieferte das US-Handelsministerium die statistische Bestätigung, dass die Wirtschaft im Frühjahr nicht gut lief. Statt der geschätzten 2,4 Prozent verzeichnete sie im zweiten Quartal nur 1,6 Prozent Wachstum. Die Arbeitslosenrate bleibt mit 9,5 Prozent hoch. Auch für den Herbst wird keine Besserung mehr erwartet.
Man rechnet mit einer double dip recession, einer zweiten Rezession, die einem kurzen Aufschwung folgt. Die Hoffnung, der Aufschwung zu Beginn dieses Jahres werde dauerhaft sein, wurde enttäuscht. Das Anfang 2009 verabschiedete sogenannte Stimulusgesetz und andere Konjunkturförderungsprogramme haben unabhängigen Berechnungen zufolge einen Absturz des Bruttoinlandprodukts und den Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 11,5 Prozent verhindert. Doch diese Programme sind mittlerweile ausgelaufen, ihre Wirkung hat sich weitgehend erschöpft.

Insbesondere die Langzeitarbeitslosen spüren die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den USA. Etwa 44 Prozent aller Arbeitslosen sind seit über einem halben Jahr ohne Erwerb. Arbeitslosengeld wird im Höchstfall 99 Wochen lang gezahlt, immer mehr Menschen bleiben aber länger arbeitslos. In einer Ende vergangener Woche präsentierten historischen Studie zu Wirtschaftskrisen berechnet die Ökonomin Carmen M. Reinhart, dass die Arbeitslosenrate im kommenden Jahrzehnt auf dem derzeitigen hohen Stand bleiben könnte.
Bereits jetzt muss jeder achte US-Bürger die staatlichen Essensmarkenprogramme in Anspruch nehmen. Unter anhaltend hohen Kreditkarten- und Hypothekenschulden auf Häuser, die oftmals weniger wert sind als die aufgenommenen Kredite, leidet vor allem die verarmende untere Mittelschicht. Die linke Publizistin Arianna Huffington nennt die wachsenden Regionen der Armut »Third World America«.
Seit mehr als einem Jahr plädieren Paul Krugman, Ökonom und Kolumnist der New York Times, sowie andere Experten vergeblich für deutlich umfangreichere Konjunkturprogramme der US-Regierung, die vor allem der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dienen sollten. Doch im US-Kongress und offenbar auch im Weißen Haus haben derzeit die Befürworter von Sparmaßnahmen die Oberhand.

Statt die staatlichen Ausgaben zu erhöhen, um die Konjunktur zu fördern und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sollen ab 2011 die Budgets gekürzt werden. Bereits jetzt haben viele Bundesstaaten und Kommunen erhebliche Finanzprobleme. Die bundesstaatlichen und lokalen Politiker reagieren immer häufiger mit Ausgabenstopps und Entlassungen von Angestellten des öffent­lichen Dienstes. Oft werden auch höhere Steuern und Abgaben erhoben, dabei werden die unteren Einkommensgruppen besonders stark belastet.
In seiner jüngsten Kolumne schreibt Krugman, dass »die Lichter in Amerika ausgehen«. Mancherorts kann man das wörtlich nehmen, in Colorado Springs bleiben nachts die Straßenlampen ausgeschaltet, um Geld zu sparen. Doch Krugman kritisiert vor allem den Stellenabbau an den öffentlichen Schulen. Mit ihrer mehrheitlich »antigouvernementalen Haltung« seien die Amerikaner auf dem Weg in die falsche Richtung.
Im US-Senat gibt es seit Monaten nicht die erforderliche Mehrheit für ein weiteres Gesetz zur Konjunkturförderung. Ein ursprünglich vom Repräsentantenhaus vorgelegtes Programm zur Arbeitsbeschaffung wurde im Frühsommer in der zweiten Kammer des Kongresses abgelehnt und anschließend sogar von Harry Reid, dem Mehrheitsführer der Demokraten, für tot erklärt. Selbst die Verlängerung der Zeit, in der Arbeits­losenunterstützung gezahlt wird, von sechs Monaten auf 99 Wochen für alle Erwerbslosen erreichte im Sommer erst nach zwei Monaten die nötigen 60 von 100 Stimmen. Von Präsident Barack Obama ist zudem seit geraumer Zeit wenig über die Wirtschaftspolitik zu hören. So wenig, dass am Samstag ein Editorial der New York Times mit der Überschrift »Warten auf Mr. Obama« konstatierte: »Sollte Präsident Obama eine große Wirtschaftsinitiative in petto haben, dann wäre jetzt eine gute Zeit, uns davon zu unterrichten.«

Hoffnungen auf einen weiteren Eingriff der Notenbank Federal Reserve (Fed) wurden vergangene Woche geweckt, als deren Präsident Ben Ber­nanke erklärte, dass die Fed im Ernstfall mit neuen Maßnahmen reagieren würde. Es ist allerdings unklar, welche Maßnahmen »Big Ben« in Betracht zieht. Der Leitzins liegt zwischen 0 und 0,25 Prozent, kann also nicht weiter gesenkt werden, um den Unternehmen günstigere Kredite zu verschaffen.
Krugman hält eine höhere Inflationsrate von etwa drei Prozent für eine Möglichkeit, die vor allem den von Privatschulden überhäuften unteren Schichten zu Gute kommen würde. Bernanke vertritt jedoch seit seinen Tagen als Ökonomie-Professor die Ansicht, eine Inflation müsse verhindert werden. Zurzeit liegt die Inflationsrate deutlich unter zwei Prozent. »Was die Fed als normal bezeichnet, bezeichne ich als sadistisch«, schreibt Scott Sumner auf dem Blog Money Illusion. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der Tatsache, dass die Märkte mit nur einem Prozent Inflation rechnen, würde er, sofern er Notenbankchef wäre, nachts nicht schlafen können.
Schlechter als Bernanke schlafen vermutlich viele Demokraten, die bei den Kongresswahlen Anfang November kandidieren. Die Krise mindert ihre Chancen, und selbst können sie kaum noch etwas tun, um die Wirtschaftslage zu verbessern. Neue Konjunkturprogramme der Fed hingegen könnten die Abkehr der enttäuschten Wähler von den Demokraten bremsen. Vor den Wahlen im Jahr 2006 regulierte die staatlich beaufsichtigte, aber aus privaten Mitgliedsbanken bestehende Fed den Leitzins zugunsten der regierenden Partei. Das waren damals die Republikaner. Den Umfragen zufolge könnten sie im November die Mehrheit im Kongress zurückerobern.