Der diskrete Charme der Psychopathie

»Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen«, glaubt Thilo Sarrazin. Wenn mehr als 13 Millionen Menschen ein einziges Gen teilen, bleibt für den Einzelnen nicht mehr viel übrig. Vermutlich nicht genug, um den »um 15 Prozent höheren IQ« zu generieren, den Sarrazin osteuropäischen Juden attestiert. Ist er womöglich doch kein Antisemit? Die meisten Wahnsysteme haben wenigstens eine innere Logik, doch Sarrazins Weltbild ist eine Ausnahme. Mal schwatzt er von erblicher Intelligenz, dann ist die Kultur schuld, aber die Armen sollen auch die individuelle Verantwortung für ihre Lage nicht vergessen.
Obwohl es derzeit an Kritikern Sarrazins nicht mangelt, bleibt eine seiner Grundthesen unbeanstandet. Erstaunlicherweise bezweifelt niemand, dass Intelligenz etwas mit dem Schulerfolg und der späteren Karriere zu tun hat. So kritisieren die meisten Gegner Sarrazins nicht sein Ziel, die Aufwertung des deutschen Humankapitals, sondern die von ihm vorgeschlagenen Mittel. Wenn es um die Verwertung der Ressource Mensch geht, mahnen sie, darf niemand davonkommen. Es trägt wohl zum Erfolg Sarrazins bei, dass er diesem Bild des Menschen als formbaren Leistungsträger archaische, aber gemütlich wirkende Mythen von Schicksal und Bestimmung entgegenstellt. Im wirklichen Leben aber sieht alles ganz anders aus. Beispielsweise wird viel Aufhebens davon gemacht, dass die Mädchen in der Schule derzeit im Durchschnitt etwas bessere Noten bekommen als die Jungs. Die Aufregung ist völlig überflüssig, denn die Jungs werden später trotzdem die besser bezahlten Jobs bekommen. Sorgen müssten sich eher die Feministinnen machen, denn zumindest ab der Pubertät, wenn eigenständiges Denken einsetzen sollte, belegen gute Schulleistungen vornehmlich Anpassungsbereitschaft. Es ist verständlich, dass jene, die sich als Elite betrachten, gerne den Eindruck erwecken wollen, sie verdankten ihre Position ihrer Intelligenz, ihrer Bildung und ihrem Fleiß. Weniger klar ist, warum ihnen das so viele Menschen glauben. Tatsächlich benötigt der Kapitalismus, wie jede andere Klassengesellschaft, das gehobene Mittelmaß, also Menschen, die nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel denken. Ein hoher IQ ist kein Karriere­hindernis, sofern er nicht mit der Fähigkeit zu Kritik und Selbstreflexion einhergeht. Unbedingt notwendig ist er aber auch nicht. Was man wirklich für eine Karriere braucht, erläutert die US-Psychologin Belinda Board: »Erfolgreiche Geschäftsleute und Psychopathen haben gemeinsame Persönlichkeitsmerkmale«, nämlich Mangel an Empathie, Starrsinn, Ordnungswahn, diktatorische Tendenzen, oberflächlichen Charme, Unehrlichkeit und Egozentrik. Von Charme, und sei es oberflächlichem, kann bei Thilo Sarrazin allerdings nicht die Rede sein.