Erklärt den Absturz der FDP

Grün ist das neue Gelb

Seit die FDP an der Regierung beteiligt ist, befinden sich ihre Umfragewerte im Dauertief. Der Absturz der Partei liegt nicht nur an ihrem Personal, mit den Grünen hat sich längst ein neuer Juniorpartner etabliert.

Vor einem Jahr, kurz vor der Bundestagswahl, prangte vor der Szenekneipe in meinem Viertel ein überdimensionales Wahlplakat der FDP mit einem besonders abgeschmackten Westerwelle-Motiv. Der Parteichef und Außenminister in spe stand als Tribun in der Mitte des Volkes. Männer und Frauen, Arbeiter und Akademikerinnen – alle schauten zu Guido auf: »Deutschland kann es besser«, war das Motto. Niemand kam in den Wochen des Wahlkampfes aus der Kneipe gestolpert, um das Plakat zu beschmieren oder anderweitig zu verunzieren. »Der kommt damit durch«, meinte ein Bekannter achselzuckend. Heute würde sich wohl kein Wahlkampfstratege der FDP mehr trauen, in eher runtergekommenen oder alternativ geprägten Vierteln dermaßen offensiv Wahlkampf zu machen. Nicht nur, weil die Wahlkämpfer mit Hohn und Spott nur so überzogen würden. Vielmehr bräuchte die FDP alle Energie, um wenigstens ihre gut situierte, bürgerliche Klientel zur Wahl zu mobilisieren.

Der Absturz der FDP binnen Jahresfrist ist selbst in den Zeiten sich auflösender Wählerbindungen beispiellos. In der SPD, der Partei, die in den vergangenen zwölf Jahren einen grandiosen Misserfolg nach dem anderen zu verzeichnen hatte, steckte immerhin so viel Leben, dass einigen niederen Funktionären der Kragen platzte und sich in der Wasg abspalteten. Aber eine Spaltung der FDP? Linksliberale, die mit großem Tamtam zu den Grünen überlaufen? Wenigstens eine ordentliche Palastrevolte gegen die Westerwelle-Mannschaft? Ausgeschlossen. Die FDP implodiert einfach. Wären am kommenden Sonntag Bundestagswahlen, sie müsste um den Wiedereinzug ins Parlament fürchten. Nur zur Erinnerung: Bei den vorigen Wahlen erhielt die FDP 15 Prozent der Stimen, ihren Sitzanteil im Bundestag konnte sie um 50 Prozent auf 93 Sitze steigern. Im Prinzip sei man bereits die dritte Volkspartei, ließ die FDP-Führung verlauten.
Wieso dieser Absturz? Wenn man den Niedergang nicht auf das Personal reduzieren möchte – auf das für den öffentlichen Geschmack sicherlich peinliche Auftreten Guido Westerwelles und seines Entwicklungsministers Dirk Niebel –, dann bietet sich folgende Erklärung an: Die FDP ist eine staatskonforme Protestpartei; ein Widerspruch in sich, den Westerwelle jahrelang zu nutzen verstand, als es darum ging, zunächst Rot-Grün und dann Schwarz-Rot abzuwählen, und der sich jetzt gegen die Partei selbst richtet.
Die Bürger haben die FDP vor knapp einem Jahr nämlich aus diesen beiden Gründen gewählt: Einerseits, weil sie eine Protestpartei ist, die grundsätzlich staatskritisch ist und in Sozialleistungen wie im Steuerwesen vor allem parasitäre Instrumente sieht, mit denen die Leistungsträger der Gesellschaft gepiesackt werden. Andererseits aber auch, weil die FDP gleichzeitig den liberal-demokratischen Konsens der Bundesrepublik verkörpert, als eine Partei, die in den Zeiten ihrer Regierungsbeteiligung stets den Außenminister stellt und somit unterstreicht, dass sie die Ideale des deutschen Staatswesens ganz besonders gut in der Welt verkörpern kann.
Das Problem dabei ist, dass der Widerspruch trotzdem ein Widerspruch bleibt. Ein Außenminister und Vizekanzler, der als Parteivorsitzender eine Kampagne gegen die angeblich dekadente Unterschicht lostritt und monatelang das große Wahlversprechen seiner Partei – Steuersenkungen – über die vereinbarten Ziele der Bundesregierung stellt: Das passt nicht zusammen. An ihrem immanenten Widerspruch, gleichzeitig das Misstrauen gegen den steuergierigen, sich von den Stimmungen der Unterschichten abhängig machenden Staat zu schüren und dabei den Anspruch zu haben, diesen Staat überhaupt adäquat zu repräsentieren, scheitert die FDP in diesen Wochen vor den Augen einer schadenfrohen Öffentlichkeit.

Warum aber passierte das nicht schon 1994? Oder 1972? Weil die Partei der ewige Juniorpartner zu sein schien, eine Partei, die deutlich unter zehn Prozent rangierte und deren geringe, aber treue Wählerschaft um die begrenzte Gestaltungskraft der Partei wusste. Dass das liberale Konstrukt Staatsskepsis und Konformismus in sich vereinte, fiel gar nicht weiter auf oder wurde nur als ein Einspruch gegen die allzu behäbige Regierungsweise Helmut Kohls wahrgenommen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die FDP zwischen 1969 und 1982 links- beziehungsweise sozialliberal dominiert war. In dem langen Jahrzehnt der siebziger Jahre erwies sich unter einer linksliberalen Hegemonie die Staatsskepsis als kompatibel mit dem Versprechen der SPD, einen erneuerten West-Staat – »Mehr Demokratie wagen!« (Willy Brandt) – zu gestalten.
Diese historischen Umstände gibt es nicht mehr. Zum einen ist Deutschland gesellschaftspolitisch weitgehend liberalisiert, die Aufgabe, die gesellschaftlichen Freiheiten zu moralisieren und sie ökologisch zu trimmen, leisten die Grünen hervorragend. Zum anderen ist die FDP kein Juniorpartner mehr: Ihre Konzentration auf die Staatsskepsis – also auf Steuersenkungen und die Entlastung der gesellschaftlichen Eliten von sozialstaatlichen Verpflichtungen – bescherten der Partei seit zehn Jahren Wahlerfolge. Mit jedem Erfolg stiegen die Erwartungen und natürlich nahm auch der Druck zu, die Partei bei der nächsten Wahl wieder abzustrafen.
Das Kalkül Westerwelles mag gewesen sein, die Wähler dadurch auszutricksen, dass sie das eine nicht bekommen und stattdessen das andere erhalten. Es gibt zwar keine Steuersenkungen, aber dafür liberale Minister, die ihren Job einfach besser machen als der Rest. Das Problem liegt im »besser machen«, denn dieses war für die Wähler der FDP nun mal mit Steuersenkungen verknüpft. Ein Außenminister, der im Amt einfach weiter Parteipolitik betreibt und sich bisweilen wie ein feuriger Oppositionsführer aufspielt, signalisiert den Wählern, dass er nicht nur sein Amt nicht sonderlich ernst nimmt, sondern eigentlich zudem auch noch einflusslos ist. Denn aus welchem Grund müsste sich Westerwelle sonst derart profilieren?
Man kann es drehen, wie man will, die FDP hat sich bis auf weiteres aussichtslos in ihre eigenen Widersprüche verstrickt. Trösten könnte sie sich damit, dass dies kein Einzelschicksal ist. Die Aufrechterhaltung der bundesrepublikanischen Staatsräson funktioniert nur noch um den Preis der Selbstzerstörung der Parteien. Die SPD musste sich in ihrer vorläufig letzten Regierungszeit von ihrem wichtigsten Gerechtigkeitsideal, das ihren Aufstieg von der Arbeiter- zur Volkspartei flankierte, verabschieden: dass es nämlich eine prinzipielle Interessenidentität der Klassen gibt. Die Linkspartei wird sich von ihren sozialistischen Programmelementen in dem Moment trennen müssen, da sie auch im Westen mitregiert. Die CDU bezahlt die Aufweichung ihres Profils, ihre Liberalisierung – gerade auch gegenüber Migranten – mit der Frustration des nach wie vor sehr großen konservativen Milieus.

Eine Partei fehlt in dieser Aufzählung: die Grünen. So wie die FDP es sich jahrzehntelang in der Rolle des Juniorpartners und Mehrheitsbeschaffers gemütlich machen konnte, machen die Grünen es sich damit bequem, die Imperative der kapitalistischen Gesellschaft moralisch zu legitimieren: Wachstum? Sicher, aber bitte nachhaltig. Eine interventionistische Außenpolitik? Natürlich, aber nur, wenn dabei die Zivilgesellschaft der betroffenen Länder gestärkt wird. Innere Sicherheit? Selbstverständlich, aber die Bürger haben ein Recht auf Transparenz. Anstatt wie die FDP gegen die Staatsräson zu rebellieren (von der man zugleich behauptet, sie als liberale Partei überhaupt erst zu verkörpern), wollen die Grünen sie vor allem ethisch, »zivilgesellschaftlich«, aufhübschen. Das geht nur gut, solange die permanente Krise den bürgerlichen Staat nicht zu härterem Durchgreifen zwingt. Genau dann könnte wieder die Stunde Guido Westerwelles schlagen. Denn dann wäre seine Feindbild-Rhetorik – dass »unser« Wohlstand durch allerlei Schmarotzer aus der Unterschicht bedroht sei und man für die Verteidigung der Freiheit diese auch schon mal außer Kraft setzen müsse – wieder hochaktuell.