Das deutsche »Wirtschaftswunder« und die Zurückhaltung der Gewerkschaften

Ein kleines Schlückchen

Fastenpredigt statt Trickle-Down-Effekt: Auch im vermeintlichen Aufschwung sollen sich die Beschäftigten mäßigen.

In manchen Kreisen wird der freien Marktwirtschaft ein bedingt sozialer Charakter zugeschrieben. Der wirtschaftliche Erfolg der Unternehmer komme letztlich auch unten an, so die Lehre vom Trickle-Down-Effekt. Diese tröstliche Vorstellung scheint gerade nicht zeitgemäß zu sein. An ihre Stelle tritt die Fastenpredigt.
Als die Medien in der vergangenen Woche feststellten, dass der »Aufschwung« der deutschen Wirtschaft nicht bei den Beschäftigten ankomme, und die Gewerkschaften sagten, sie wollten nun etwas vom Kuchen abhaben, stellten die Unternehmer unverzüglich klar, dass dies unmöglich sei. »Zurückhaltung« sei weiterhin das Gebot der Stunde, mahnte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, alles andere gefährde den Aufschwung. »Jetzt sind wir dran«, hatte zuvor der DGB-Vorsitzende Michael Sommer mitgeteilt, der die Gewerkschaftsmitglieder um des Aufschwungs willen bisher zum Verzicht angehalten hatte. Jetzt, wo der Aufschwung da ist, soll er sie nach Hundts Wünschen trotzdem weiter vertrösten.
Geschickt versuchen die Unternehmer zu vermitteln, dass die Beschäftigten nicht nur für die Krise, sondern auch für den Aufschwung zu zahlen haben. Mit Erfolg: Umfragen zufolge glauben 35 Prozent der Deutschen, »deutliche Lohnerhöhungen könnten den Aufschwung gefährden«. Der Unternehmerverband der mittelständischen Wirtschaft geht sogar so weit, eine Urlaubsverkürzung von jährlich sechs auf vier Wochen zu fordern – nicht wegen der schlechten Wirtschaftslage, wegen der guten, wohlgemerkt. Der Tages­themen-Kommentator Thomas Nell hielt die Beschäftigten im WDR ebenfalls zur Mäßigung an: Die bisherige Zurückhaltung der Gewerkschaften sei ja anzuerkennen, doch »berechtigt das jetzt zum großen Schluck aus der Pulle?«
Regelrecht berauscht ist man vom neuen kleinen Wirtschaftswunders. Einer aktuellen Studie des Weltwirtschaftsforums zufolge ist Deutschland dank seiner Exportökonomie in den Kreis der fünf wettbewerbsfähigsten Nationen aufgerückt. In Europa führt es die Liste an. Zudem sind in keinem anderen EU-Staat die Verdienste und Lohnnebenkosten im zurückliegenden Jahrzehnt so langsam gestiegen. Verdoppelt hat sich im selben Zeitraum dagegen der Bedarf der Beschäftigten an Psychopharmaka, wie die Techniker-Krankenkasse berichtet.
Der Trickle-Down-Effekt war schon immer eine Mär. Unten angekommen ist bisher nur dann etwas, wenn die Interessenvertretungen der Beschäftigten auch dafür stritten – ganz unbescheiden. Dass die IG Metall bei ihrer momentanen Forderung von sechs Prozent mehr Lohn in der Stahlindustrie von »deutlichen Lohnerhöhungen« spricht, zeigt jedoch, wie sehr die Bescheidenheit verinnerlicht wurde. Abzüglich der üb­lichen Verhandlungsmasse ist auch hier ein erneuter Reallohnverlust zu erwarten.
Auch in Sachen Leiharbeit, einem wichtigen Punkt in der derzeitigen Kampagne der Gewerkschaften, ist der DGB inkonsequent. Den geforderten gleichen Lohn für gleiche Arbeit könnte er haben: indem die Gewerkschaften die in der Leiharbeit geltenden Tarifverträge aufkündigen. Nur durch diese wird das Equal-Pay-Prinzip umgangen. Die vermeintliche »Lohnoffensive« des DGB wirkt so wie eine verbale Inszenierung.